Kapitel 117 ( Nadja )

Ich wusste nicht, welcher Tag es war, und es war mir auch egal. Alles war mir egal. Einst hatte ich mich mit Begeisterung in die Arbeit gestürzt, aber das war eine gefühlte Ewigkeit her. Eines Tages war ich einfach zu Hause im Bett liegen geblieben und hatte nicht mehr die Kraft gefunden, aufzustehen, einzukaufen, geschweige denn mich auf den Weg in die Klinik zu machen. Wozu auch, jegliche Arbeit war sinnlos geworden. Tag war in Nacht übergegangen und Nacht in Tag und von da an hatte ich automatisch das Nötigste getan, was erforderlich war, um mich nicht selbst aufzugeben.

In dunklen Stunden spürte ich nicht nur eine körperliche Schwäche, sondern auch die Unfähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen; das waren Zeiten, in denen ich froh war, einfach im Bett liegen zu können. Hatte ich mit jemanden gesprochen – ich wusste es nicht mehr. Ich hatte eine vage Erinnerung daran, dass Sascha da gewesen war, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Irgendwann waren dann Oksana und Boris aufgetaucht, um auf mich einzureden und teilnahmslos hatte ich es geschehen lassen, dass sie mich nach Wobrusk brachten.

Oksana hatte versucht, mich dazu zu bringen, auf dem Hof zu helfen, zumindest nach draußen zu gehen und mich zu bewegen, doch bei meinem passiven Widerstand hatte sie schließlich aufgegeben. Und so nahm ich am gemeinsamen Tisch die Mahlzeiten ein, ohne wirklich anwesend zu sein. Ihre Unterhaltungen rauschten an mir vorbei wie Wind in den Baumkronen. Ich hätte mich gern in Luft aufgelöst, nichts hielt mich noch in dieser Welt, aber ich hatte nicht die Kraft, etwas an diesem Zustand zu ändern. Ständig überfielen mich Erinnerungen, aber ich war leergeweint, und nichts konnte den Schmerz lindern, der in meiner Seele brannte.

So schenkte ich meine ganze Aufmerksamkeit der Analyse von Banalitäten, um die unwillkommenen Erinnerungen abzuwehren. Das Versinken in knarrende Holzbalken, in die Musterung der Dielenbretter, in die Lichtflecken, die auf die Wand fielen, hielt meine Gedanken beschäftigt. Bis es Nacht wurde und sich alle Ablenkungen auflösten und mich die Erinnerung wie eine Woge überfiel und mir den Grund unter den Füßen wegriss.

Rücken, Kopf und Bauch sandten Schmerzen durch meinen Körper, doch obwohl ich sie als Folgeerscheinungen der Trauer diagnostizierte, konnte ich doch nichts dagegen tun. Mit zusammengepressten Zähnen durchlitt ich stumm die schlaflosen Nächte, bis mich irgendwann für eine kurze Zeit die Erschöpfung überwältigte. Viel zu kurz waren diese Momente, in der die Gedanken ruhten, und die dem Körper Erleichterung boten. Jeden Morgen wurde ich wieder zurück in das Leben katapultiert, das ich hasste, weil es mir keine Freude mehr bot.

Oksana und Boris versuchten, mit mir über Mila zu reden, doch ich weigerte mich, sie konnten mich sowieso nicht verstehen, denn ihnen war kein Kind gestorben... Warum war ich mit ihnen gegangen, ich hätte lieber alleine in meiner Wohnung bleiben sollen. Doch ich sah mich außerstande, meine Sachen zu nehmen und zurück zu fahren. Und so verging Tag um Tag und nichts änderte sich und ich verlor immer mehr die Hoffnung auf ein Leben, dem ich einst so optimistisch entgegen getreten war...

Im Moment war meine Aufmerksamkeit auf das Muster einer Decke zu meinen Füßen gerichtet. Ich hielt meine Knie umfasst, Kinn ruhte auf den Händen, und ich fragte mich träge, warum die Kreise miteinander verwoben waren. Wer hatte sich das ausgedacht und was sollte das Muster darstellen? Wie aus weiter Ferne hörte ich Oksana meinen Namen rufen, doch ich reagierte nicht darauf. Die Nadja von einst, Mutter einer zauberhaften Tochter, glücklich in ihrem Beruf, gab es nicht mehr. Ich spürte, wie mir Oksana über den Kopf strich und dann vorsichtig meinen Zopf neu flocht.

„Du hast Besuch, Nadjenka", sagte sie dabei mit sanfter Stimme, aber nichts interessierte mich weniger, ich hatte weder Lust, jemanden zu sehen noch mit jemandem zu reden.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, nachdem Oksana wieder gegangen war, doch wie durch einen Nebel vernahm ich erneut meinen Namen, Es dauerte einen Moment, bis ich registrierte, dass mir die Stimme bekannt vorkam. Reglos blieb ich sitzen, weil nicht sein konnte, was mir durch den Kopf ging...

Erneut hörte ich meinen Namen und dieses Mal siegte die Neugier, langsam drehte ich den Kopf, riss dann überrascht die Augen weit auf und richtete mich auf. Das musste ein Traum sein! Oder meine Augen spielten mir einen Streich! Ich blinzelte ein paar Mal, doch der Anblick blieb unverändert: vor mir stand Mischa! Fassungslos starrte ich ihn an, unfähig, etwas zu sagen. Bestimmt bildete ich mir seine Gegenwart nur ein – bis ich mich in eine feste Umarmung gezogen fühlte. Ich spürte den rauen Stoff einer Männerjacke an meiner Wange und roch den herben Duft eines Rasierwassers. Erst da begriff ich, dass es wirklich und wahrhaftig Mischa war, der hier im Haus meiner Cousine vor mir stand.

Ich spürte gleichzeitig Erstaunen, Freude und Trauer in einem und als wäre ein Damm geöffnet worden, tauchten plötzlich Bilder von Milas Beerdigung vor meinen Augen auf und von Kummer überwältigt sank ich an Mischas Brust. Es dauerte lange, bis die letzten Schluchzer verebbten, währenddessen mir Mischa die ganze Zeit sacht über das Haar streichelte und irgendetwas Beruhigendes murmelte. Schließlich rückte ich ein wenig von ihm ab und suchte verlegen nach einer Möglichkeit, meine Augen zu trocknen, mangels Alternativen blieb mir allerdings nur der Ärmel meiner Bluse, so dass ich mir dabei wie ein kleines Mädchen vorkam. Ich war mir der Peinlichkeit der Situation nur zu bewusst, doch als ich Mischa ansah, lag in seinem Blick nur Zärtlichkeit, behutsam nahm er meine Hand und fuhr mit dem Daumen zart den Handrücken entlang.

„Ich kann es nicht fassen, dass du da bist", sagte ich leise und schaute auf unsere Hände hinunter.

„Ich auch nicht", erwiderte er und rutschte dichter an mich heran, so dass er den Arm um mich legen konnte.

Ich lehnte mich an ihn und fühlte mich für den Moment völlig geborgen. So blieben wir in angenehmem Schweigen eine ganze Weile sitzen, ohne die Notwendigkeit zu spüren, die Stille mit Fragen füllen zu müssen, bis Schritte und Stimmen von draußen das Ankommen von Oksanas Familie verkündeten.

Die Tür schwang auf und als erstes stürzte der Jüngste herein, aufgeregt auf seine Mutter zueilend und sofort heraussprudelnd, was sich Aufregendes heute begeben hatte. Jetzt fiel es mir schwer zu begreifen, dass sein lebhaftes Wesen in den letzten Tagen ( oder Wochen? ) nicht in der Lage gewesen war, meine Teilnahmslosigkeit zu durchdringen. Ihm folgte Boris, der wegen seiner Größe den Kopf einziehen musste, um durch den Türrahmen zu passen. Seine Augen nahmen den gesamten Raum in Augenschein und blieben zuletzt auf Mischa haften, den er schweigend und mit einer gewissen Neugier betrachtete. Ein Ruf Oksanas veranlasste Boris, in die Küche zu verschwinden.

Von draußen war das Stimmengewirr ausgelassener junger Menschen zu hören. Es versetzte mir einen Stich, da ich daran denken musste, dass Mila normalerweise unter ihnen gewesen wäre.

Kurz darauf betraten gleichzeitig Oksana und Boris sowie ihre übrigen Kinder die Stube. Vier Augenpaare starrten auf den fremden Besuch, während Oksana Mischa in einem kurzen Satz gelassen als „Milas Vater" vorstellte. Boris kam auf uns zu und zog mich kurz in die Arme.

„Schön, dass es dir besser geht, Nadjuscha", sagte er lächelnd und wandte sich dann Mischa zu, der Boris gegenüber fast schmal wirkte. Ich spürte Mischas Anspannung und drückte ihm die Hand.

„Ich verweigere niemandem die Gastfreundschaft", gab Boris ein wenig pompös klingend von sich, „...und heiße Sie daher in unserem Haus willkommen."

Ich schloss für einen kurzen Moment erleichtert die Augen, dann übersetzte ich für Mischa. Er bedankte sich auf Russisch und die beiden Männer tauschten Namen aus und gaben sich die Hand. Dann setzten wir uns alle um den Tisch zum Essen. Ich war überrascht, wieder Appetit zu spüren und langte kräftig zu.

Nach dem Essen betätigte ich mich als Dolmetscher, als sich Mischa und Boris höflich miteinander über unverfängliche Themen unterhielten. Dabei fiel es mir schwer, meine Augen von Mischa zu lassen. Ich konnte es noch immer kaum fassen, dass er wirklich leibhaftig hier bei mir in Weißrussland war und ich fürchtete, dass er sich jeden Augenblick in Luft auflösen könnte. Ich hatte so viele Fragen an ihn, aber es gelang mir, meine Ungeduld angesichts der erforderlichen Höflichkeit des Gesprächsaustausches zurückzustellen.

Als Boris hinausging, um in den Ställen nach dem Rechten zu sehen, sah ich durch den Raum zu Oksana hinüber, die sich gemeinsam mit ihrer Tochter dem Stopfen von Strümpfen widmete. Sie schaute lächelnd auf, als ich mich näherte und voller Dankbarkeit fiel ich ihr impulsiv um den Hals.

„Tausend Dank für alles, was du gemacht hast!"

Sie erwiderte meine Umarmung herzlich und ich vernahm Wortfetzen von „selbstverständlich" und „....konnten dich doch nicht alleine lassen..."

Es war mir äußerst unangenehm, dass ich so eine Last für sie gewesen war. Ausgerechnet ich, die ich immer so viel Wert auf Selbständigkeit gelegt hatte, dachte ich ein wenig bitter, und entschuldigte mich daher leise:

„Es tut mir leid, dass ich euch so viel Mühe bereitet habe." Oksana wischte meine Äußerung mit einer Handbewegung beiseite.

„Dafür ist Familie da", erwiderte sie leise. „Und Freunde. Sascha hatte mir von dir geschrieben. Hauptsache ist, es geht dir jetzt etwas besser."

Ich nickte schweigend. Ich wusste noch immer nicht, wie ich ohne Mila weiterleben sollte, aber sie hätte jedenfalls nicht gewollt, dass sich ihre Mutter aufgibt. Oksana suchte meinen Blick, bevor sie fortfuhr:

„Vergiss nie, dass du nicht allein bist – auch wenn es dir manchmal so vorkommt!"

Ich folgte ihrem Blick zu Mischa hinüber, der sich in entspannter Haltung auf dem Boden niedergelassen, um gemeinsam mit Nikolai die Holzeisenbahn zu bewegen, und erinnerte mich daran, dass er selbst einen Sohn hatte. Beeindruckt wollte ich wissen:

"Wie hast du das bloß geschafft?"

Oksana verstand mich, ohne dass ich näher ins Detail ging. Sie schüttelte leicht den Kopf.

„Ich habe nichts gemacht. Er tauchte plötzlich auf, als ich in deiner Wohnung war."

„Ach...", entfuhr es mir überrascht.

Oksana sah noch einmal zu Mischa hinüber. „Und dann habe ich ihm angeboten, mit hierher zu kommen. Er ist übrigens wirklich sympathisch. Kann verstehen, dass er dir gleich gefallen hatte."

Ich lächelte erfreut. Es war schön, dass noch jemand den Menschen hinter der Nationalität sah.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top