Kapitel 116 ( Michael )
Dann deutete sie auf die leere Tasche in ihrer Hand und machte eine Kopfbewegung zu einem der abgehenden Zimmer hin, in dem sie anschließend verschwand. Ich war zu unruhig, um in der Küche sitzen zu bleiben und öffnete stattdessen ein wenig befangen eine andere Tür, die, wie sich herausstellte, in Milas Zimmer führte. Im Türrahmen stehend blickte ich mich um. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet und wie auch die Küche makellos ordentlich. Auf dem Bett lag eine karierte Tagesdecke und in der Ecke saßen zwei alte Stofftiere und eine Puppe.
An die Wand waren einige Auszeichnungen geklebt, worum es sich dabei handelte, erschloss sich mir nicht. Daneben stand ein altmodischer Kleiderschrank und gegenüber war eine Kommode, auf der mehrere Bücher und ein Gesellschaftsspiel ordentlich gestapelt waren. An einem Haken an der Wand hing eine Tasche. Die Gardinen waren zur Seite gezogen, so dass die Sonnenstrahlen ungehindert das Fenster passieren konnten und helle Streifen auf den Boden warfen. Dies also war ihr Zimmer gewesen, in das sie nie mehr zurückkehren würde. Traurigkeit erfüllte mich. Ich hatte sie zwar kaum gekannt, aber sie war ein Teil von mir gewesen.
Bedrückte wandte ich mich um und warf einen kurzen Blick in das Zimmer, das Oksana gerade mit einer vollen Tasche verließ. Ein Sofa, ein kleiner Tisch mit Deckchen, ein Kleiderschrank und Regale mit unzähligen Büchern, neben- und aufeinander. Auf einem Ecktisch standen drei gerahmte Fotografien, die alle Mila abbildeten: als kleines Mädchen auf einem Schaukelpferd, als Schulkind mit großer Schleife im Haar, und als junges Mädchen mit langen offenen Haaren. Gern hätte ich mich noch weiter in Nadjas Zimmer umgesehen und nur widerwillig wandte ich mich um, als ich Oksanas Stimme hörte, die bereits reisefertig an der Haustür stand. Zuvorkommend nahm ich ihr die prall gefüllte Tasche ab und gemeinsam verließen wir die Wohnung sowie kurz darauf das ganze Haus.
Es bedurfte einiger Gesten, bis wir uns verständigt hatten, mit dem Taxi zu fahren. Kurz darauf waren wir im Hotel, wo ich erfuhr, dass die Reisegruppe in etwa einer Stunde zurückerwartet wurde. Der Hotelier war zum Glück so freundlich, Oksana auf Russisch entsprechend zu informieren, und mit seiner Hilfe lud ich sie zum Essen im Hotelrestaurant ein, was sie jedoch nur widerstrebend annahm.
Während sie sich dort an einem Tisch niederließ, ging ich in mein Zimmer, um ein paar Kleidungsstücke einzupacken, ohne dass mir klar war, ob ich überhaupt die Stadt verlassen durfte. Ich fragte mich, wie Oksana das wohl erreichen wollte. Ich brannte darauf, Nadja wiederzusehen und hoffte inständig, dass mir die Behörden keinen Strich durch die Rechnung machten. Vielleicht wäre es besser gewesen, einfach loszufahren, statt sich nun möglicherweise ein offizielles „Nein" einzuhandeln? Aber auch dann müsste ich es trotzdem irgendwie versuchen müssen... Ich war entschlossen, dieses Mal für Nadja da zu sein, da ich mir vorstellen konnte, wie sehr sie unter dem Verlust von Mila litt. Doch dieses Mal sollte sie nicht allein mit ihrer Last sein.
Ich setzte mich zu Oksana und aß ebenfalls noch eine Kleinigkeit, während wir schweigend auf die Ankunft des Reiseleiters warteten. Verstohlen beobachtete ich sie. Sie war wohl einige Jahre älter als Nadja und schien sich in dieser Umgebung unwohl zu fühlen, mit dem oft auf den Boden gesenkten Blick machte sie einen äußerst schüchternen Eindruck. Wo mochte der Ort sein, an dem sich ihr Haus befand? War es ein Bauernhof, wie der, auf dem Nadja und sie aufgewachsen waren? Ihre Hände jedenfalls zeigten deutlich, dass sie es gewohnt waren zu arbeiten, sie waren kräftig und die Finger mit kurzen, teils eingerissenen Nägeln.
Es war eine sehr unbehagliche Situation, weil uns die Möglichkeit fehlte, eine Unterhaltung zu führen. Immerhin gelang es mir, zu erfahren, dass sie ebenfalls Kinder hatte. Mit Erleichterung nahm ich schließlich das Auftauchen der Reisegruppe zur Kenntnis. Aufregung bemächtigte sich meiner, nun würde sich vielleicht gleich herausstellen, wie es weiter ging. Mit einer Selbstsicherheit, die ich ihr angesichts ihres ruhigen Wesens gar nicht zugetraut hätte, sprach Oksana sogleich den Reiseleiter an, und ich verfolgte ihren lebhaften Wortwechsel, ohne etwas zu verstehen. Nach Minuten nervösen Wartens, in denen ich versuchte, aus ihren Mienen zu lesen, wandte sich Oksana direkt an mich:
" Rubel?"
Ich verstand und zückte die Brieftasche. Wieviel mochte er für sein Stillschweigen wollen? Nachdem die meisten meiner Scheine den Besitzer gewechselt hatten, nahmen wir Kurs auf den Bahnhof. Ich hatte nicht mehr viel Geld bei mir und würde mir für die Ausreise einen Grund für den verschwundenen Betrag überlegen müssen, doch das war es mir wert.
Es war eine Fahrt ins Unbekannte. Die Felder waren inzwischen in Waldgebiet übergegangen und die Bahnhöfe, an denen wir hielten, waren weniger geworden. Oksana hatte mir auf einer Karte, die im Zug hing, gezeigt, wo wir hinfuhren. Es ging weit, weit nach Osten. Ich war müde und das endlose Grün der Wälder betäubte die Sinne. Doch Schlaf wollte nicht kommen, denn meine Gedanken kreisten unruhig über die vor mir liegenden Stunden. Ich freute mich auf ein Wiedersehen mit Nadja und fragte mich gleichzeitig nervös, wie ich sie vorfinden würde.
Welche tröstenden Worte konnte ich sagen? Mir fiel nichts ein, es gab nichts, was ich tun konnte, um ihren Schmerz zu lindern. Ich konnte nur hoffen, dass ihr meine Anwesenheit gut tun würde. Oksana schien das jedenfalls zu denken. Doch ich war mir darüber längst nicht mehr so sicher wie noch heute Vormittag. Vielleicht würde sie mich fortschicken, oder, noch schlimmer, einfach ignorieren.
Auch um Mila kreisten meine Gedanken. Aus Nadjas Briefen hatte ich erfahren, wie sich Mila geduldig durch die Krankheit gekämpft hatte, wie lebhaft und fröhlich sie in den letzten Jahren gewesen war, wie entschlossen und ehrgeizig, das Studium als eine der Besten zu absolvieren. Und ganz plötzlich und völlig unerwartet war ihr Leben nun doch so schnell vorbei gewesen. Es war einfach nicht gerecht! Ich zürnte Gott im Stillen, hätte er nicht stattdessen jemand anderen zu sich rufen können? Sie hatte doch noch das ganze Leben vor sich gehabt! Der Satz, den ich einen Pastor mal hatte sagen hören, ging mir durch den Kopf, „Wen Gott liebt, den holt er früh zu sich." Das hatte damals einleuchtend geklungen. Aber jetzt, wo ich selbst betroffen war, tröstete mich das überhaupt nicht. Ich seufzte und sah betroffen aus dem Fenster, wo Baum um Baum an uns vorüber glitten.
Nach einer Weile fiel mein Blick auf Oksana, die mir gegenüber eingenickt war. Sie hatte die Stiefel ausgezogen und die Füße unter ihren Rock gezogen. Ihr Mund war leicht geöffnet und gab kleine niedliche Schnarchlaute von sich. Ich suchte in ihrem Gesicht nach Ähnlichkeiten mit Nadja, aber fand keine. Wie waren die beiden noch miteinander verwandt? Über die Mütter? So unscheinbar und scheu sie auch wirkte, so hatte ich doch Respekt vor ihrer heute gezeigten Überredungskunst und dem Mut, mich, einen völlig Fremden, mit zu sich nach Hause zu nehmen. Darin jedenfalls ähnelte sie offenbar Nadja. Ich fragte mich, ob ihr Mann das genauso sah. Wir Deutschen hatten hier verständlicherweise nicht den besten Ruf und ich grübelte ein wenig darüber nach, welche Situation ich vor Ort vorfinden würde. Diese Gedanken brachten fast zwanzig Jahre alte unschöne Erinnerungen hervor...
Der Zug wurde langsamer und Oksana wachte mit einem Ruck auf. Verlegen lächelte sie mich an und bewahrte mich damit zum Glück davor, tiefer in die Vergangenheit einzutauchen. Der Zug hielt mit einem Ruck und nur ein einzelner Reisender stieg auf den menschenleeren Bahnsteig hinab. Dann fuhren wir wieder an und Oksana deutete an, dass wir nur noch eine Station fahren würden. Etwa 20 min später verließen auch wir die Eisenbahn. Der Bahnhof lag inmitten eines Ortes und in einem flotten Tempo gingen wir eine alte mit Kopfsteinen gepflasterte Straße entlang. Ahornbäume säumten den Wegesrand und ihre leuchtend gelben Blätter verkündeten bereits den Herbst. Ein Fahrzeug näherte sich und wirbelte dabei so viel Staub auf, dass ich zu husten begann, während Oksana den Fahrer anhielt und ansprach. Kurz darauf kletterte sie auf den Anhänger und winkte mir, ihr zu folgen. Die letzte Etappe unserer Fahrt hatte begonnen.
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