Kapitel 114 ( Michael )

Juli 1965

„Hallo Micha, schön, dass du da bist!"

Hannah öffnete mir mit einem strahlenden Lächeln die Tür und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, bevor sie sie mir zur Begrüßung reichte. Offenbar kam sie direkt aus der Küche, denn ein köstlicher Geruch nach Schmorbraten streifte meine Nase.

„Das riecht lecker", kommentierte ich und sog betont langsam den Duft ein.

Hannah lachte und neckte mich:„Das hast du auch bestimmt lange nicht mehr gegessen."

Das stimmte, denn ich kam ja nicht mehr in den Genuss von Giselas Kochkünsten, allerdings war Mutter natürlich in ihrem Teil des Hauses, das ihr ja nachwievor gehörte, wohnen geblieben und kochte gern für mich mit – so hoffte ich jedenfalls. Da sie jedoch keinen Schmorbraten mochte, bereitete sie ihn deshalb natürlich nicht zu. Hannah hatte daher genau das Richtige getroffen.

Ein bisschen unangenehm fand ich die Situation manchmal schon, als Junggeselle im selben Haus wie meine Mutter zu wohnen, es war ein bisschen wie zu meiner Studentenzeit, aber warum sollte ich ausziehen? Jeder lebte in seinem Teil des Hauses und wir sahen uns meist nur beim Abendessen, das Haus war ohnehin zu groß für eine Person allein. Allerdings konnte ich sicher sein, dass Mutter jeden Besuch, den ich erhielt, genau registrierte, auch wenn Sie sich nicht blicken ließ. Doch zum Glück verzichtete sie darauf, ihre Beobachtungen zu kommentieren.

Eine Essenseinladung meiner Schwester war auf jeden Fall eine willkommene Abwechslung. Dieses Mal hatte mich Hannah außerdem für eine ganze Woche zu sich nach Stuttgart eingeladen und so würde ich auch Gelegenheit haben, Erika wiederzusehen, die aus Heidelberg einen Tag vorbei kommen wollte.

„Ich muss wieder zurück in die Küche", flötete Hannah, „geh schon mal in die Stube, Essen ist gleich fertig."

Mit einem Krachen schlug eine Tür auf und der kleine Benni stürmte fröhlich auf mich zu.

„Hallo, kleiner Pirat", begrüßte ich meinen Neffen, zog ihn in meine Arme und schwang ihn herum, bis er ausgelassen jauchzte. „Wo ist denn dein großer Bruder?", wollte ich wissen, nachdem ich ihn wieder abgesetzt hatte.

„Der macht Hausaufgaben", informierte mich Benni und flüsterte mir verschwörerisch zu:„Bald komme ich auch in die Schule."

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Bist du nicht erst 5?", fragte ich in gespieltem Ernst.

„Ich bin schon 6", korrigierte Benni wichtig und fuhr dann mit gerechter Empörung fort:„Das musst du doch wissen, Onkel Micha!"

„Mensch, das habe ich ja total vergessen", gab ich zurück und schlug die Hand vor dem Mund, um mein Lächeln zu verbergen. „Du hattest ja Geburtstag."

Dann nestelte ich in meiner Reisetasche und zog ein kleines Geschenk hervor.

„Noch ein Geschenk!", jauchzte er und riss ungeduldig das Papier auf, bis ein Polizeiauto zum Vorschein kam. „Danke, Onkel Micha", strahlte Benni und lief ins Kinderzimmer, um das Auto seinem Bruder zu zeigen.

Jetzt erst jetzt kam ich dazu, meinen Schwager Fritz zu begrüßen, der inzwischen in den Flur getreten war.

„Walter, kommst du bitte und begrüßt deinen Onkel", rief er in Richtung Kinderzimmer, während gleichzeitig Walters blonder Haarschopf im Türrahmen auftauchte, als hätten ihn diese Worte just herbei gezaubert.

„Hallo, Onkel Micha", sagte er gemessen in der ganzen Würde seiner 8 Jahre und reichte mir die Hand. Dann zog ein freches Grinsen über sein Gesicht, als er schelmisch fragte:„Hast du wieder Bonbons mit?"

Als guter Onkel hatte ich natürlich daran gedacht und zog eine bunte Tüte hervor. Fritz warf seinem Ältesten einen missbilligenden Blick zu, den Walter geflissentlich ignorierte, und verfügte streng:„Aber erst nach dem Essen." Walter nickte so heftig, dass ihm der Pony ins Gesicht fiel.

Hannah schob sich in den Flur, beladen mit einem Tablett, auf dem dampfende Töpfe standen, bei dessen Duft mir das Wasser im Mund zusammenlief.

„Wascht euch die Hände und kommt zu Tisch!", forderte sie ihre Söhne auf und bugsierte das Tablett in die Stube, wo wir am großen Tisch Platz nahmen.

Kurz darauf war lediglich das Klappern von Besteck zu hören, als sich alle das gute Essen schmecken ließen. Benni hatte hochrote Wangen bei dem Bemühen, sein Stück Fleisch durchzuschneiden und Walter richtete sich auf einen Wink seiner Mutter hin wieder auf, nachdem er vorher schon beinahe auf den Teller gesunken war. In dieser großen Runde wurde mir umso schmerzvoller der Verlust meines früheren Familienlebens bewusst. Gisela war mit den Kindern nach Bayern übergesiedelt, wo ihre Eltern eine neue Heimat gefunden hatten und ich sah Ingrid und Thomas daher nur selten. Gedankenverloren beobachtete ich Walter, der im gleichen Alter wie Ingrid war und mit Wehmut dachte ich daran, was mir alles an ihrem Leben entging.

Nach dem Essen hatte Hannah gespült und Kaffee gekocht und dann ließen wir uns auf dem Sofa nieder und tauschten Alltagserlebnisse aus. Von draußen schien fahles Licht in das Wohnzimmer hinein, denn es hatte inzwischen zu regnen begonnen, doch es reichte gerade einmal bis zu den Pflanzen, die auf dem Fenstersims standen und ihre Blätter der Fensterscheibe zuneigten. Eine davon war ein kleiner Kaktus, an dessen oberster Spitze ich kleine rosa Blüten bemerkte. Hannah schaltete die Lampe ein und deren warmes gelbes Licht fiel auf den Nierentisch, erzitterte auf einmal einen kurzen Moment, als hätte es einen Stoß abbekommen und leuchtete dann umso intensiver weiter. Mit den Fingerspitzen fuhr ich über den abgewetzten beigefarbenen Stoff des Sofas, der durch die Berührung seine Nuancen veränderte. Hannah deutete meinen Blick falsch und sagte entschuldigend:

„Ein neues Sofa ist das Nächste, was wir uns anschaffen."

Irritiert sah ich auf. Die ganze Wohnung war ziemlich neu und die Einrichtungsgegenstände waren es auch, bis auf – in der Tat – das Sofa, doch ich störte mich nicht an Gebrauchtem. Im Gegenteil, der rege Gebrauch der Alltagsgegenstände sprach für seine Beliebtheit und so zuckte ich nur mit den Schultern und gab zu:

„Ist doch gemütlich."

Hannah lächelte und in dem amüsierten Blick ihrer Augen war deutlich zu lesen, dass ihr Bruder keine Ahnung von gutem Geschmack habe. Fritz stopfte sich die Pfeife und blies dann kleine Rauchwölkchen in die Luft, die entfernt nach Vanille rochen. Er rutschte im Sessel hin und her, bis er eine bequeme Position gefunden hatte und bemerkte kopfschüttelnd:

„Letzte Woche haben sie schon wieder jemanden laufen gelassen."

Fritz war Staatsanwalt, hatte vor einigen Jahren einen hervorragenden Abschluss gemacht und arbeitete seitdem am Gericht. Deswegen konnte ich seiner Äußerung des „sie" nicht ganz folgen und sah ihn daher fragend an.

„Gewisse Kollegen", fuhr er fort und setzte erläuternd hinzu:„Die, die schon im Krieg Staatsanwälte waren. Die drücken bei Kriegsverbrechern immer gern ein Auge zu."

Seine Stimme spiegelte die Empörung wider, die er offenbar dabei empfand und heftig zog er an seiner Pfeife. Weil ich nicht wusste, was ich zu seiner Äußerung sagen sollte, schwieg ich schließlich einfach, doch Fritz erklärte ungefragt:

„Da war jemand Aufseher im KZ und hat willkürlich Menschen erschossen, die ihm aus irgendeinem Grunde aufgefallen waren, und die hohen Herren verkünden einen Freispruch, weil er auf „Befehl von oben" gehandelt hätte." Er schnaubte verächtlich.

„Ist das denn so unwahrscheinlich?", wollte ich überrascht wissen.

Mit einer ruckartigen Bewegung legte Fritz die Pfeife auf den Halter ab und erwiderte empört:„Wenn es um Durchführung einer Selektion ging, könnte – und ich betone ausdrücklich „könnte" - man sich vielleicht auf einen Befehl berufen, aber doch nicht bei Vorgängen, bei denen man individuell und losgelöst von irgendwelchen Aufträgen handelt! Das ist...", er rang nach Worten.

Hannah legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, doch Fritz schüttelte sie erregt ab und fuhr fort:

„Als vernunftbegabter Mensch muss man jederzeit Recht von Unrecht unterscheiden können, egal, wie ein Befehl lautet. Und..." er hob die Hand, als ich etwas einwenden wollte, „...wer aus Karrierestreben die Menschlichkeit abstreift, wie eine Haut, die zu eng geworden ist, der sollte nicht mit der Milde des Gesetztes rechnen können! Man kann doch nicht seine humanitäre Erziehung an der Türschwelle abgeben und sich auf einen Befehl berufen, der eindeutig unmenschlich ist!"

Er machte eine kurze Pause, die ich sogleich für einen Einwand nutzte.

„Von welcher humanitären Erziehung redest du denn?", fragte ich schärfer als beabsichtigt, denn ich sah die Sache ein wenig anders. „Die gab es weder in der Schule noch in der HJ."

Fritz sah mich einige Sekunden wortlos an, bevor er mir entgegnete:„Du willst mir doch nicht sagen, dass du aus deinem Elternhaus nicht wusstest, was Recht und Unrecht war."

Hannah gab ein Geräusch von sich, das wie ein unterdrückter Seufzer klang.

„Lass es gut, sein, Fritz", bat sie müde, doch mein Schwager beachtete sie nicht, sondern sah mich weiter unverwandt an.

Ich hielt seinem Blick stand und fragte mich, wie wir so schnell von einer allgemeinen Erörterung hin zu meinem persönlichen Leben gelangt waren. Ich fand wenig Gefallen an der Richtung, die dieses Gespräch zu nehmen schien und mir missfiel auch die Anklage, die aus seiner Frage sprach. Doch sah ich mich außerstande, diesem Wortgefecht auszuweichen, im Gegenteil, seine aggressiv vorgebrachte Äußerung hatte in mir eine Verteidigungsbereitschaft ausgelöst, die weniger mir als Person als mehr der Gesamtheit der jungen Menschen, zu denen ich damals gehörte, galt.

„Selbst wenn...", umging ich seine Frage nach meinem persönlichen Verhalten und schlug einen Bogen zurück zu die Allgemeinheit umfassenden Formulierungen, „...wenn du als Soldat einen Befehlt erhältst, dann befolgst du ihn. Andernfalls wärst du bei Befehlsverweigerung vor die Wand gestellt worden."

Ich war versucht, hinzuzufügen, dass Fritz nicht wusste, wovon er sprach, war er doch aufgrund seines ein paar Jahre jüngeren Alters knapp darum herumgekommen, an die Front einrücken zu müssen, unterließ es jedoch, um kein Öl ins Feuer zu gießen. Vielleicht jedoch gingen seine Gedanken in die gleiche Richtung, denn er gab mit gerunzelter Stirn zu, dass er sich nicht auf die Situation im Gefecht bezöge.

„Aber...", wandte er mit zunehmender Lautstärke und dem Ton eines Menschen, der sich im Recht wähnte, ein „...der Soldat, der hinter der Frontlinie Menschen erschoss, wusste, dass er Unrecht tat."

Wider besseren Wissens und aus dem Gefühl heraus, die Soldatenehre verteidigen zu müssen, widersprach ich verärgert:

„Das hatte nichts mit der Wehrmacht zu tun, das war die SS gewesen!"

Ich drückte meine Zigarette aus, sie schmeckte mir auf einmal nicht mehr. Fritz warf mir einen forschenden Blick zu, doch als ich nichts weiter von mir gab, kommentierte er in entschiedenem Ton:

„Da habe ich etwas anderes gehört."

Ich war nicht bereit, diese Ereignisse mit ihm, geschweige denn mit anderen zu diskutieren, und in dem Bemühen, das Thema abzuwürgen, sah ich ihn daher nur kühl an und entgegnete barsch:

„Warst du dort oder ich?"

„Nun ist aber gut mit Politik!", schritt Hannah ein und warf erst mir und dann ihrem Mann einen funkelnden Blick zu. „Das Wetter ist draußen schon schlecht genug, da brauchen wir nicht auch noch hier drinnen schlechte Stimmung."

Fritz und ich tauschten noch einen kämpferischen Blick, nahmen dann aber Rücksicht auf die Wünsche der Hausherrin und schwiegen schließlich.

„Hast du eigentlich noch Kontakt zu deiner russischen Tochter?", erkundigte sich Hannah in dem deutlichen Bemühen, das Thema zu wechseln und warf ihrem Mann dabei einen beredten Blick zu. Bereitwillig brachte ich sie auf den neuesten Stand und dachte dabei an Milas letzten Brief vom Mai. Seitdem hatte ich nichts mehr gehört, weder von ihr – was nicht so überraschend war, da Mila ohnehin nur alle paar Monate einmal schrieb – noch von Nadja. Meine letzten Briefe an sie waren unbeantwortet geblieben.

Ich redete mir ständig ein, dass es unzählige Gründe gab, die einen Briefwechsel unterbrachen, viel zu tun im Krankenhaus, Unterstützung bei Milas Prüfungsvorbereitungen, ein spontaner Urlaub in der Walachei ohne Postamt, ja sogar das Einbehalten von Briefen aus politischen Gründen war nicht auszuschließen. Milas letzter Brief jedoch in Verbindung mit dem jetzigen Schweigen ließ allerdings auch einen Schluss zu, den ich möglichst aus meinen Gedanken verdrängt hatte, der sich aber mit zunehmenden Wochen immer mehr in den Vordergrund schob.

Ich runzelte die Stirn und verfluchte die Tatsache, dass Nadja kein Telefon besaß. Was um Gottes Willen war bloß los auf der anderen Seite der Welt.

„Was ist?", wollte Hannah wissen. Mit fragendem Blick, die blauen Augen wie früher als Kind ein Stück weit aufgerissen und die Brauen leicht gerunzelt, was sowohl Neugier als auch Besorgnis wiederspiegelte, sah sie mich an.

Ich zögerte, mein Blick glitt zu Fritz hinüber, über dessen anmaßendes Gebaren mein Ärger noch nicht verraucht war. Er hingegen strahlte eine heitere Gelassenheit aus, als hätte es die vorherige Auseinandersetzung nicht gegeben. Er hatte Hannah seinen Arm um die Schulter gelegt und betrachtete angelegentlich die an der Fensterscheibe herunter rinnenden Regentropfen.

Er hat gut reden, dachte ich und spürte wieder einen Anflug von Ärger; er, der gerade mal ein paar Wochen Volkssturm erlebt hatte, wollte mich über Moral belehren. Hätte er einige Jahre Fronterfahrung gehabt, würde er anders reden. Eigentlich mochte ich ihn, er war ein an sich umgänglicher Mensch, ein ruhiger, angenehmer Gesprächspartner. Jedenfalls hatte ich ihn bisher so erlebt... Doch die Erfahrungen, die er im Gericht machte, schienen seine Emotionen geweckt zu haben. Dabei konnten wir doch froh sein, wie es uns in Deutschland jetzt ging, es gab keinen Grund, die unselige Vergangenheit wieder hervorzuholen, die doch ohnehin nicht mehr zu ändern war.

Noch immer klang Hannahs Frage in meinen Ohren nach. Ohne eine bewusste Entscheidung dafür oder dagegen getroffen zu haben, hörte ich mich plötzlich sagen:

„Ich habe seit Mai nichts mehr aus Weißrussland gehört. Mila war da im Krankenhaus....möglicherweise ist sie immer noch dort..."

Ich verlieh meiner Sorge Ausdruck, indem ich meine Hände nervös aneinander rieb. Hannah reagierte mit einem Lachen und versuchte, meine Sorgen mit einem „Sie ist doch ein junges Mädchen. Da schreibt man nicht so oft. Oder hört irgendwann auf", beiseite zu wischen.

„Hmm...", machte ich nur.

Das Argument hätte mir eingeleuchtet, wenn immerhin Nadja weiter geschrieben hätte. Von meinem Treffen mit Nadja in Berlin wusste keiner etwas, noch viel weniger von dem, was daraus erwachsen war. Vielleicht waren meine Sorgen ja unbegründet, gewachsen in der Dunkelheit eines einseitigen gedanklichen Monologs, die sich in der Helligkeit eines Dialoges schließlich in Wohlgefallen auflösen würden?

Ich gab mir daher einen Ruck und erzählte von Nadja und unseren Gefühlen füreinander. Ein leises „Oh" entschlüpfte Hannahs Lippen, während sie meinem Bericht lauschte und am Ende legte sich ein leicht verklärter Ausdruck auf ihr Gesicht.

„Ist das nicht romantisch?", fragte sie mit einer Stimme, der man die Begeisterung an einer schönen Geschichte anhörte, und lächelte ihren Mann versonnen an.

Fritz reagierte darauf ein wenig ratlos, kratzte sich angelegentlich sein Kinn und hob mit einer Geste der Gleichgültigkeit die Schultern an und ließ sie wieder fallen.

„Is schon 'nen bisschen merkwürdig", gab er dann brummend zu und erntete einen kurzen irritierten Blick seitens seiner Frau, bis ihr klar wurde, dass er sich nicht auf ihre Bemerkung, sondern auf meine Erzählung bezog.

Wir verfielen in Schweigen. Ein plötzlicher Lufthauch ließ die Gardine erzittern und irgendwo fiel eine Tür ins Schloss. Kurz darauf war ein dezentes Klappern zu hören, als selbige wieder aufgerissen wurde, und wie ein Echo auf die hastig hingeworfenen, an uns Erwachsene gerichteten und schon fast in der Entfernung verklingenden Worte „Sind draußen!", fiel die Tür erneut in Schloss. Unschlüssig, was ich sagen oder tun sollte, reckte ich mich ein wenig und versuchte nach draußen zu schauen; offenbar hatte es aufgehört zu regnen. Hannah erhob sich aus dem Sofa, das ein kurzes, knarzendes Geräusch von sich gab, und öffnete das Fenster, um ihren Söhnen hinterher zu schauen. Feuchtwarme Luft strömte hinein.

Ein Gedanke formte sich in meinem Gehirn, so verrückt, dass ich mich weigerte, ihn weiter zu denken, ihn von allen Seiten zu beleuchten und seine Implikationen zu erfassen. Dennoch sprach ich ihn aus, um zu gucken, welche Wirkung er hervor rief.

„Vielleicht sollte ich hinfahren."

Hannah drehte sich um und starrte mich an, Verblüffung und gleichzeitig Ablehnung spiegelten sich auf ihrem Gesicht.

„Du spinnst", erwiderte sie dann und es fehlte nicht viel und sie hätte sich gegen die Stirn geklopft.

„Das sagt die, die es eben noch als romantisch bezeichnet hat?", gab ich herausfordernd zurück.

Hannah zog die Nase kraus, drehte sich kurz um, um das Fenster zu schließen und setzte sich dann wieder auf das Sofa. Sie warf mir einen prüfenden Blick zu:

„Das meinst du nicht ernst, oder?", wollte sie wissen. Umso gleich hinzuzufügen:„Das kannst du nicht ernst meinen."

Ihr so rasch geäußerter Widerstand spornte mich an, ich richtete mich auf und entgegnete:

„Wieso denn nicht?"

„Weil... Wie stellst du dir das vor? Man kann doch nicht so einfach mir nichts dir nichts in die Sowjetunion reisen", brachte sie verwirrt heraus. „Hast du vergessen, dass wir uns im Kalten Krieg befinden?"

„Keinesfalls", gab ich zurück und betonte mit mehr Überzeugung, als ich wirklich besaß:„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg"

„Musst du verliebt sein", äußerte Hannah und schüttelte nachsichtig oder verständnislos – so genau ließ sich das nicht ausmachen – den Kopf.

Je mehr mir Hannah den Gedanken ausreden wollte, umso mehr erwärmte ich mich dafür. Warum eigentlich nicht? Man müsste mal bei der Botschaft nachfragen... Meine Stimmung hob sich ein wenig, ich sah in den Raum hinein und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Hannah seufzte daraufhin, dann gab sie unverblümt zurück:

„Ehrlich, Micha, das ist eine Schnapsidee."

„Dabei hatten wir heute noch gar keinen Schnaps", konterte ich gutmütig.

Wir grinsten uns einen Moment an. Schließlich stupste Hannah ihren Mann an, der unseren Wortwechsel bislang nur schweigend verfolgt hatte, und forderte:

„Fritz, sag du doch auch mal was!"

Fritz zog an seiner Pfeife, räusperte sich ein paar Mal und erwiderte dann zu meiner großen Verwunderung:

„Ich glaube, es gäbe da eine Möglichkeit..."

„Was?!" rief Hannah überrascht aus und zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen. Sie erinnerte in diesem Moment stark an Mutter. Doch ich wandte meine Aufmerksamkeit dann sogleich Fritz zu und war gespannt, mit was für einer Idee er herausrücken würde.

„Ich habe einen Freund an der Uni..." begann er unerträglich langsam, „...der hat dort einen Bekannten..."

Es fiel mir schwer, meine Ungeduld zu beherrschen, am liebsten hätte ich ihn geschüttelt, um die Idee schneller aus ihm herauszubekommen. Stattdessen begnügte ich mich damit, nervös mit den Zehenspitzen auf den Boden zu klopfen.

„...der Slawistik oder so studiert", fuhr Fritz gemütlich fort, ohne sich hetzen zu lassen. „Die Studenten planen wohl eine Reise nach Minsk, wenn ich es richtig verstanden habe. Ich hatte mich noch gewundert, weil ich gedacht hatte, wenn schon nach Osten, warum dann nicht nach Moskau? Aber es war Minsk, ich bin mir ziemlich sicher..." Er zog erneut an seine Pfeife.

„Und...?", fragte ich nun ungeduldig. Mein Schwager nahm die Pfeife aus dem Mund und sah mich direkt an.

„Ich besorge mir mal seinen Namen. Triff dich mit ihm. Vielleicht hast du Gelegenheit, da mitzufahren."

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