Kapitel 113 ( Mila )
Lieber Michael,
nach langer Zeit mal wieder ein Brief von mir. Ich bin zur Zeit im Krankenhaus und langweile mich total und habe dadurch viel Zeit zum Schreiben. Eigentlich sollte ich heute meine Jahresabschlussprüfung ablegen...Aber die Ärzte lassen mich nicht gehen. Nur weil ich gestern zu Hause bei meiner Kommilitonin umgekippt bin und mit dem Krankenwagen abgeholt werden musste. Alle machen so ein Getue darum. Es war lediglich ein Schwächeanfall, kein Wunder bei der ganzen Lernerei.
Mir geht es ja auch schon wieder total gut. Aber das will hier keiner begreifen, meine Mutter erst recht nicht. Ich dachte, sie könnte hier etwas erreichen, aber von wegen...Sie besteht darauf, dass ich ruhig im Bett liegen bleibe. Stattdessen wollen sie alle möglichen Test mit mir machen – als wenn ich davon im Leben nicht schon genug gehabt hätte. Es ist sooo ungerecht...ich habe die ganze Zeit gelernt und jetzt kann ich nicht mitschreiben, und ich weiß nicht, wann ich die Prüfung wiederholen kann...vielleicht erst ein Jahr später!!! Ich habe so eine Wut in mir deswegen... Keiner hat eine Ahnung, wie wichtig das ist! Ich hätte mit Sicherheit eine gute Note bekommen!
Ich muss aufhören, da kommt gerade wieder eine Krankenschwester.
Mama war bis eben hier bei mir. Sie hat ihren Bereitschaftsdienst abgesagt. Ich sehe, wie sie mich anguckt, so verstohlen, ängstlich von der Seite, wenn sie denkt, ich merke es nicht. Aber wenn ich sie frage, warum dieser ganze Aufwand betrieben wird, dann lächelt sie mich nur gezwungen an und sagt, dass das Routine bei Schwächeanfällen sei. Wer es glaubt... es hat wohl was mit der Leukämie zu tun, die ich mal hatte. Vielleicht muss man es dann machen? Aber doch nicht mitten am Prüfungstag!
Aber mir sagt ja hier keiner etwas! Die halten mich alle noch für ein Kind, doch ich bin ja nicht dumm. Ich kriege mit, dass sie über mich reden, wenn sie ihre Stimmen senken. Ich glaube, die Krankheit ist zurückgekehrt... aber ich fühle mich doch gut – bin völlig verwirrt. Das geht doch gar nicht...Mensch, ich will das nicht! Dann muss ich wieder dauernd im Krankenhaus sein und brauche bestimmt noch eine Knochenmarkspende. Morgen frage ich Mama, sie muss mir sagen, was los ist!
Jetzt ist es Abend und alle haben längst ihre Prüfungen geschrieben. Hoffentlich kommt morgen Svetlana (meine beste Freundin) vorbei. Es ist sooo langweilig hier. Mama hat mir ein Buch mitgebracht, aber mir ist nicht nach Lesen. Draußen ist es windig, ich merke das, weil sich die Vorhänge bewegen. Das Fenster ist offen, aber es kommt nur warme Luft herein. Das Zimmer hat langweilige weiße Wände, aber an der Wand hängt ein buntes Bild, irgendwelche komischen geometrischen Formen. Das erinnert mich an dich, obwohl deine Bilder anders sind. Wieso kann ich nicht so malen wie du, vererbt sich das gar nicht?
Schade, dass wir uns seit Jugoslawien nie wieder gesehen haben. Vielleicht kannst du ja jetzt mal nach Minsk kommen? Dann hätte das Ganze hier wenigstens sein Gutes... (Mama freut sich bestimmt auch)
Eben hat eine Krankenschwester ihren Kopf zur Tür hereingestreckt, ich soll Licht ausmachen. Sie hat Recht, ich bin auch schon ganz müde. Ich schicke viele Grüße von Ost nach West, schreibe mir bald, was gibt es Neues bei dir?
Deine Mila
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