Der Tag war ein einziges Fiasko gewesen, denn nichts von dem, das ich vorgetragen hatte, schien auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Im Gegenteil, mir war die geballte Opposition der Traditionalisten entgegengeschlagen, und ich hatte mehr schlecht als recht etwas auf ihre Argumente entgegnen können. Letzten Endes hatte mir die fremde Sprache im Weg gestanden, ich war mir sicher, dass ich in meiner Muttersprache geschafft hätte, wenn auch nicht Begeisterung, so doch zumindest Neugier zu wecken. Wahrscheinlich war ich einfach noch nicht reif genug für internationale Auftritte.
Das Gefühl des Versagens versetzte mich in eine niedergedrückte Stimmung, nur gemindert durch die Aussicht, Mischa hoffentlich nachher wiedersehen zu können. Während ich vor dem Spiegel stand und unentschlossen eine Frisur nach der anderen verwarf, grübelte ich über dieses „Etwas" zwischen uns nach. War es wirkliche eine Fügung, wie Mischa sagte? Doch wozu sollte es führen? Wir hatten genauso wenig Zukunft wie vor 19 Jahren, durch den Kalten Krieg der beiden völlig verschiedenen, waffenstarrenden Systeme sogar noch weniger.
Frustriert ließ ich mich auf den Boden plumpsen, lehnte mich an die Wand und starrte ratlos an die Decke. Wir hatten damals unsere Chance gehabt und sie nicht genutzt. Ich hatte sie nicht genutzt. Um den Schuldgefühlen, die sich unaufgefordert einstellten, zu entgehen, dachte ich an Mila und daran, wie leicht ich sie in der Schwangerschaft auf der Flucht hätte verlieren können. Nein, um Milas Willen war meine Entscheidung richtig gewesen!
Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass es eine Minute vor Sechs war und dass damit keine Zeit mehr für eine schicke Frisur vorhanden war. Entnervt ließ ich die Haare daher wieder offen über meine Schultern fallen und bürstete sie nur noch einmal kräftig durch, bis sie glänzten. Ich hatte niemanden zu beindrucken. Ich würde den Abend einfach genießen und nicht zu viele Gefühle investieren. Punkt.
Dieser Grundsatz geriet schon ins Wanken, als ich Mischas nur ansichtig wurde, der lässig an den Empfangstresen stand und die Treppe zu den Zimmern im Blick hatte. Ein Strahlen zog über sein Gesicht, als er mich erblickte, und ohne dass ich es wollte, begann mein Herz unwillkürlich Purzelbäume zu schlagen. Sein züchtiger Kuss beinhaltete ein Versprechen nach mehr.
„Ich habe noch ein anderes Lokal gefunden", sagte er lächelnd und half mir in den Mantel.
Ohne zu Zögern umschlossen sich unsere Hände und wir gingen etwa zwanzig Minuten durch die Straßen, nicht ohne alle paar Minuten stehen zu bleiben und uns durch einen langen Kuss unserer Gefühle zu versichern. Wir redeten nicht viel, sondern genossen für ein Weilchen die unbeobachtete Zweisamkeit, während sich langsam die Dämmerung herabsenkte.
„Schade, dass es zu kalt für einen längeren Aufenthalt im Freien ist", murmelte ich.
Mischa nickte nur, umfasste meine Taille und zog mich erneut an sich. Wohlige Schauer liefen mir den Rücken hinunter, als er meine Haare beiseiteschob und meinen Nacken mit kleinen Küssen bedeckte.
Schließlich erreichten wir das Ziel unseres Spazierganges, eine kleine, aber gemütliche aussehende Kneipe, aus der uns der knusprige Geruch nach gebratenen Kartoffeln in die Nase stieg. Während wir auf das Essen warteten, setzten wir unser gestriges Gespräch fort und ich erzählte von Igor und meiner Mutter, von den Cousins und Cousinen, Tante, Onkel und Großeltern, mit denen ich bis zum Kriegsbeginn mein Leben verbracht hatte. Vom Bedauern über das Ende der Schulzeit und dem Gefühl, dass mein weiteres Leben nun unabänderlich in eine aus lebenslanger Landarbeit bestehende Sackgasse führen würde. Von kleinen Fluchten im Alltag, indem ich mich auf Marianka schwang und ein Weilchen davonritt.
„Und wie ist dein Leben weiter verlaufen?", wollte ich anschließend von Mischa wissen. „Hat sich dein Verhältnis zu deinen Schwestern gebessert?"
„Na ja", bekannte er, „irgendwann haben wir uns einfach nicht mehr so oft gesehen, ich kam auf's Gymnasium – er erläuterte mir kurz die Schulform – , da waren Hausaufgaben zu machen und dann war zwei Mal die Woche...", ein kaum wahrnehmbares Zögern, „... Jugendgruppe."
Er beugte sich über den Teller und zerteilte konzentriert die Kartoffeln.
„Was hat man da gemacht?", erkundigte ich mich und dachte an die Komsomol, die Jugendorganisation der kommunistischen Partei.
„Geländespiele und Sport", antwortete er knapp.
Ich sah ihn fragend an, was er aber nicht zu bemerken schien.
Daher fügte ich hinzu:„Was für Sport?"
Er schaute wieder hoch, doch sein Bick glitt an mir vorbei und blieb irgendwo im Ungefähren hängen, als er erwiderte:
„Boxen und Leichtathletik."
Mischas ungewohnt einsilbige Antworten verstärkten meine Neugier. „Das war die Zeit von den olympischen Spielen, nicht wahr?", fragte ich nach.
Mischa atmete hörbar ein, legte das Besteck mit einem hellen Klirren auf den Teller und wandte mir endlich wieder seinen Blick zu, als er auf meine Frage einging.
„Ja genau." Er lächelte schief und fuhr fort:„Wir haben viele Wettkämpfe gemacht. Wer sportlich war, war angesehen. War eigentlich ganz schön. Ohne Eltern und so. Und manchmal eine Fahrt zusammen. Der Leiter war nur zwei Jahre älter als wir. Da sind wir zelten gegangen und haben gesungen und..."
Er sah wieder auf den Teller hinunter und brach mitten im Satz ab. Sein merkwürdiges Verhalten verwunderte mich.
„Klingt doch spannend...", bemerkte ich, „....oder?"
„Nein...ja...also, das heißt..." Mischa sah mich nachdenklich an und fuhr dann mit fester Stimme fort:„Hat schon viel Spaß gemacht, anfangs, aber dann kamen immer mehr Aufgaben hinzu. Besonders als der Krieg begann, da mussten wir hier aushelfen und da aushelfen, Zeit für sich selbst gab es nicht mehr...man konnte nicht mal mehr in Ruhe nachdenken...und ich hätte doch am liebsten ohne Ende gemalt..."
Er zuckte mit den Achseln und fügte hinzu:„Na ja, wem sage ich das. So etwas kennst du ja auch."
„Und wie ging es weiter?"
Er sah mich an und seufzte. „Du gibst keine Ruhe, was?"
Als Antwort lachte ich nur und verbarg dabei eine gewisse Anspannung, die mich mittlerweile ergriffen hatte. Wie um es schnell hinter sich zu bringen, berichtete er in kurzen Sätzen von den weiteren Stationen seines Lebens:
„Ich habe Abitur gemacht und mich dann freiwillig zum Heer gemeldet, um nicht zur Waffen SS zu kommen. Arbeitsdienst, Rekrutenausbildung, Unteroffizierslehrgang. Dann nach Osten. Den Rest kannst du dir denken."
Sein Gesichtsausdruck und seine vor der Brust verschränkten Arme verhießen die Warnung, bloß nicht weiter zu fragen und ich zögerte. Was brachte es mir, Einzelheiten zu erfragen? Warum wollte ich es genau wissen? Doch wenn ich es jetzt nicht ein für alle Mal klären würde, würde ich mich immer wieder fragen, was Mischa wohl getan haben mochte. Unsicherheit und Vermutungen waren ein Beet, auf dem kein Vertrauen wachsen konnte. Ich gab mir einen Ruck und fragte leise:
„Was genau heißt das?"
Mischa schwieg so lange, dass ich schon dachte, er würde mir die Antwort schuldig bleiben. Der Griff, mit dem er die Stuhllehne umklammerte, war angespannt. Doch er brachte es fertig, mir bei seiner Antwort in die Augen zu sehen.
„Ich will ehrlich dir gegenüber sein. Ich habe gesehen, was hinter der Front passierte." Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie nur noch ein Flüstern war.
„Nichts kann wiedergutmachen, was da passiert ist. Nichts kann es ungeschehen machen. Aber ich schwöre dir, dass ich nie, wirklich nie auf Zivilisten geschossen habe."
Das anschließende Schweigen dehnte sich aus und ich merkte, dass ich den Atem angehalten hatte. Hörbar atmete ich nun aus und murmelte:
„Danke, dass du mir geantwortet hast."
Ich glaubte ihm. Langsam schob ich ihm meine offenen Handflächen zu. Er umfasste sie sanft und so verharrten wir einen Moment, bis sich das dunkle Kapitel seiner Vergangenheit im warmen Licht der Kerzen vor uns auflöste.
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