April 1964
Der Blick auf die Armbanduhr teilte mir mit, dass es viertel vor 6 Uhr war, was perfekt passte. Ich stand bereits vor dem Hotel mit dem goldigen Namen "Zur Sonne" und versuchte, unauffällig durch die Fensterscheiben zu spähen. Hoffentlich gab es hier ein Restaurant, denn das Mittagessen, das ich gemeinsam mit meinem Cousin eingenommen hatte, lag schon ein paar Stunden zurück. Und er hatte es sich nicht nehmen lassen, mir möglichst viele der Sehenswürdigkeiten Ostberlins zu zeigen, wir waren also ordentlich auf den Beinen gewesen. Ich hatte Peter jahrelang nicht gesehen habt - schon vor dem Mauerbau hatten wir kaum Kontakt gehabt - , aber es war nett gewesen.
Ich musste allerdings zugeben, dass ich bei seinen überschwänglich vorgetragenen Erläuterungen zum Dom oder zu einem der Museen nicht ganz bei der Sache gewesen war, da meine Gedanken ständig um den heutigen Abend kreisten. Aber ich war ihm wirklich sehr dankbar, dass er in Ostberlin lebte und sich mir daher die Möglichkeit der Einreise in die DDR bot. Natürlich hatte ich ihm schließlich den Grund meines überraschenden Besuches mitgeteilt. Gutmütig hatte er gespöttelt:
„Was soll es werden, wenn es fertig ist?"
Darauf hatte ich nur mit den Schultern gezuckt, ich hatte keine festen Vorstellungen über den Grund unseres Treffens geschweige denn über seinen Ausgang. Allerdings fühlte ich eine gewisse Beschwingtheit angesichts der Tatsache, dass ich Nadja jetzt ungebunden gegenüber treten konnte. Was jedoch nicht notwendigerweise auf sie zutreffen musste. Ob sie bereits da war? Ich spürte mein Herz ein paar Takte schneller schlagen und rief mich zur Ordnung. Ich würde nichts, gar nichts in dieses Treffen hinein interpretieren und eine heitere Gelassenheit ausstrahlen.
Mit festem Schritt ging ich auf die gläserne Eingangstür zu und sah mich dann im Foyer suchend nach einem Gastraum um.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?", fragte die Dame am Empfang leidenschaftslos, bestätigte aber schließlich das Vorhandensein einer Gaststube.
An der Garderobe gab ich Hut und Mantel ab, warf einen raschen Blick auf einen an der Wand hängenden Spiegel und versuchte möglichst lässig, meine Frisur in Ordnung zu bringen. Das Restaurant war nicht groß, dennoch gerade mal zur Hälfte gefüllt. Mit einem umherschweifenden Blick vergewisserte ich mich, dass Nadja noch nicht da war. Dann ließ ich mir von der Platzanweiserin einen netten kleinen, etwas separierten Tisch am Fenster vorschlagen. Nun hieß es warten.
Ich sah mich um, um alle Einzelheiten der Umgebung und der Menschen in meiner Nähe aufzunehmen, wie ich es normalerweise tat, um diese Eindrücke später möglicherweise einmal in einem Bild verarbeiten zu können. Doch heute war mein Blick unstet und unkonzentriert und ich wurde von den Gedanken abgelenkt, die mir durch den Kopf gingen. Sie war es gewesen, die ein Treffen in Ost-Berlin vorgeschlagen hatte. Welche Erwartungen verband sie damit? Ging es lediglich um den Austausch von vergangenen Zeiten? Oder um Mila? Oder hatte es mehr zu bedeuten? Um mich abzulenken, ergriff ich die Menükarte und versenkte mich in die angebotenen Gerichte. Die Auswahl war überschaubar, die Preise ein Bruchteil dessen, was ich in der BRD zu bezahlen gewöhnt war.
Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung in der Nähe wahr und blickte neugierig hoch. Da war sie! In ruhigen Schritten kam sie auf meinen Tisch zu. Ihre Haare waren wieder länger geworden, sie fielen ihr über die Schultern und bewegten sich sachte bei jedem Schritt. Ich fragte mich unwillkürlich, ob sie die Haare immer offen trug, es wirkte ungemein anziehend, jung und unkonventionell. Auf ihrem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln. Ich stand auf und erwiderte es voller Freude. Im krassen Gegensatz dazu reichte sie mir förmlich die Hand, was mich leicht amüsierte. Die darauf folgende Verlegenheit färbte ihre Wagen leicht rosa, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Zuvorkommend schob ich ihr den Stuhl zurecht und dann hatte sie sich bereits wieder gefangen.
„Schön, dass du gekommen bist, Mischa", sagte Nadja und sah mich lächelnd an.
Der russische Klang meines Kosenamens brachte Erinnerungen zum Klingen und ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Ihr Gesicht war reifer und erzählte von vergangenen Jahren, aber Ihre Grübchen waren unverändert, ihre Augen hatten sich ihr inneres Leuchten bewahrt und ihre Lippen glänzten in einem matten Rotton.
„Schön, dich zu sehen", bestätige ich und fragte:„Was darf ich dir zu trinken bestellen?"
Wir wählten beide eine Limonade und bestellten etwas zu essen, nachdem ich Nadja die Speisekarte kurz übersetzt hatte. Dann stießen wir mit den Gläsern „Auf unser Wiedersehen" an und ich wollte wissen:
„Was genau machst du hier in Berlin?"
„Ich versuche, alten Greisen die Vorzüge neuer chirurgischer Verfahren nahe zu bringen..."
Mein ungläubiger Blick veranlasste Nadja zu einem perlenden Lachen.
„Nein, im Ernst", fuhr sie immer noch grinsend fort, „die meisten der Ärzte hier sind weißhaarige, weise Männer, die bereits Jahrzehnte lang operiert haben, und dann komme ich und erzähle von neuen Methoden und sie fragen sich, warum nicht alles so bleiben kann wie bisher." Sie krauste in einer drolligen Art und Weise die Stirn, so dass ich nun auch lachen musste.
Und so fuhr Nadja fort, von ihrem Tag zu berichten und anschließend gab ich ein paar heitere Geschichten aus der Schule zum Besten. Es war, als wären wir nicht jahrzehntelang getrennt gewesen. Da war keine Verlegenheit zwischen uns, kein Stocken in der Unterhaltung, bis auf die gelegentlichen Momente, in der wir nach einem passenden Wort in Englisch suchten.
Nach dem Essen wandte sich das Gespräch privateren Themen zu.
„Mila hat erzählt, ihr habt euch scheiden lassen?", erkundigte sich Nadja und nippte vorsichtig an ihrem noch heißen Tee.
Ich nickte und ergänzte:„Vor 2 ½ Jahren ist es auseinander gegangen."
Als ich daraufhin schwieg, fragte sie:
„Magst du darüber reden?"
Ich nestelte einige Momente an der Serviette in meinen Händen herum. Um uns herum drangen Wortfetzen an mein Ohr und das helle Klappern von Geschirr. Als ich dann zu erzählen begann, war mein Blick versonnen hinein in den Raum gerichtet.
„Eines Tages kam sie nach dem Besuch bei ihren Eltern ohne die Kinder zurück und eröffnete mir, dass sie die Scheidung beantragen würde."
Bitterkeit mischte sich in meinen Ton, während sich die Szene erneut vor meinem inneren Auge abspielte. „Es kam aus heiterem Himmel, ohne die kleinste Vorwarnung", fuhr ich fort und zerknüllte in einem Anflug von Ärger, der sich auch in den vergangenen fast drei Jahren noch nicht aufgelöst hatte, die Serviette.
„Warum?" hörte ich Nadja wie aus der Ferne fragen.
Ich seufzte. „Sie hatte mir vorgeworfen, sie nicht aus vollem Herzen zu lieben. Und außerdem hatte sie mitbekommen, dass ich in der Nacht in Jugoslawien mit dir zusammen gewesen war."
Dabei warf ich Nadja einen kurzen Blick zu. Ihre Augen weiteten sich kurz und ihre Hand flog zum Mund, aber sie äußerte sich nicht dazu.
Ich fuhr daher fort:„Aber es stimmte, sie hatte ja Recht. Ich hatte längst erkannt, dass meine Gefühle zu ihr nie so tief gewesen waren wie zu jemand anderem..."
Mein Blick ruhte für einen Moment auf Nadja, deren Gesicht nichts verriet, dann sah ich auf ihre rechte Hand hinunter, die auf dem Tisch ruhte und bemerkte, dass sie keinen Ring trug.
„Das tut mir leid", gab Nadja schließlich leise von sich.
Ich blickte sie an. Ihr Gesicht drückte Anteilnahme und Verständnis aus, aber da war noch etwas anderes....ein Hoffnungsschimmer? Oder bildete ich mir das ein?
„Mir nicht", erwiderte ich sanft, nahm ihre Hand und sah sie einfach nur an. Ich legte alles, was ich empfand, Zuneigung, Sehnsucht, Verlangen, in meinen Blick. Würde sie mir ihre Hand entziehen?
Sie tat es nicht, blickte mich unverwandt an, als wollte sie ergründen, wie ernst es mir war. Goldene Lichtpünktchen tanzten in ihren Augen.
„Es tut mir nicht leid, was wir in Jugoslawien getan haben" konkretisierte ich.
„Mir auch nicht." Sie lächelte und ich hätte ihr am liebsten glücklich einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Stattdessen drückte ich zart ihre Hand, obgleich es ein armseliger Ersatz war.
„Meine Großmutter hat immer gesagt: >Wahrheit will ans Licht<", konstatierte ich und fuhr mit meinem Daumen liebevoll die Konturen ihrer Hand entlang. „Ich hatte versucht, dich zu vergessen, es aber nicht geschafft..."
„Ich weiß", stimmte Nadja leise zu, „mir ging es genauso. Ich wollte es nur nicht wahrhaben..."
Ihre Hand nahm das zärtliche Spiel der Finger mit auf und erwiderte es. Für einen Moment schien die Welt still zu stehen. Dann stellte ich die Frage, die sich bislang unaufdringlich im Hintergrund gehalten hatte.
„Was ist mir dir, Nadja, hast du inzwischen geheiratet?"
Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie scherzte:„Nur die Arbeit." Um dann ernster werdend hinzuzufügen:„Es hat mit Niemandem gepasst. Immer hat sich die Erinnerung an dich dazwischen geschoben." Sie grinste schelmisch:„Ich weiß nicht, wie du das machst, aber keiner konnte an dich heranreichen."
Ich ging auf ihren lockeren Ton ein und erwiderte eine kleine Spur zu selbstgefällig:„Ich bin eben unwiderstehlich."
Um Nadjas Nase zuckte es, dann brach sie in ein fröhliches, ansteckendes Lachen aus, und mir wurde mit einem Schlag klar, was ich all die Jahrevermisst hatte...
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