Prolog - Apulien 1975

Nardò am 30. Juni 1975

Die Pista di Nardò, auch Pista FIAT genannt, war als wirtschaftliche Hilfe für den unterentwickelten Süden Italiens gedacht. Ein modernes Testzentrum für die Automobilindustrie. In wenigen Jahren erbaut, strahlt sie heute Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung aus. Am 30. Juni 1975 ist die feierliche Eröffnung. Der Bürgermeister von Nardò, Samuele Vannio, der das Geschäft mit der Staatsregierung geplant und verwirklicht hat, heisst eine kleine Gruppe von geladenen Gästen willkommen.

Es ist ein sonniger Morgen in Nardò am Tag vor der offiziellen Eröffnung. Die geladenen Gäste scharen sich um die bereitgestellten Bartische und genehmigen sich schon einen Bianco di Puglia, einen regionalen Weisswein. Die FIAT-Werke haben alle ihre aktuellen Fahrzeuge ausgestellt. Dazu gesellen sich auch die Autos von Alfa Romeo aus dem Werk in Neapel, dem Lokalkolorit geschuldet "Alfasud" genannt. Ihr Entwickler Rudolf Hruska hat für Fiat und für Alfa Romeo gearbeitet, weswegen beide Automarken an der Eröffnung teilhaben dürfen. Die polierten Autos stehen sauber aufgereiht zu beiden Seiten des eisernen Eingangsportals. Die Hauptattraktion ist aber die 12,6 Kilometer lange, kreisrunde Hochgeschwindigkeitsstrecke. Ursprünglich war sie als Teilchenbeschleuniger geplant, daher ihre runde Form, heute aber ist sie die modernste Rundstrecke der Welt. Auf ihr werden viele Rekorde fallen, glauben zumindest die Erbauer.

Der satte Klang eines kraftvollen V8 Ferrari 308 GTB lässt die Gäste sich umdrehen und zum Eingangstor blicken. Der rote Sportwagen hält erst nach dem Eingangsportal an. Die linke Türe öffnet sich und ein sportlich eleganter Mittfünfziger entsteigt dem brandneuen Fahrzeug aus dem nördlichen Maranello. Sofort begeben sich die Vertreter von Politik und Wirtschaft in seine Richtung.

"Buongiorno Giuseppe!" Der Bürgermeister eilt dem Nachkömmling entgegen. "Schön, hast du es auch geschafft."

"Salve amico", begrüsst der Ferrarifahrer den Politiker etwas ausser Atem, "Ich habe soeben einige Runden auf der Piste gedreht. Sie ist wahnsinnig schnell, diese Strecke." Giuseppe Pignatelli, oft auch Giuseppe di Copertino genannt, hat mit seinem Geld den Bau des Forschungszentrums unterstützt. Er ist ein Wirtschaftsboss aus Copertino, einem kleinen Dorf in Apulien. Giuseppe ist, wie vor ihm sein Vater Gabriele, der grösste Arbeitgeber der Region und stolz darauf, dieses Entwicklungsprojekt mittragen zu können. "Können wir eröffnen?" fragt er frohen Mutes, ein breites Grinsen im Gesicht.

"Selbstverständlich. Wir haben noch auf dich gewartet, nun kann es los gehen."

Die Eröffnungsfeier zieht sich bis in die späten Nachmittagsstunden. Die anwesenden Politiker loben und preisen die Wichtigkeit dieses Entwicklungsprojektes. Der Süden Italiens werde nun endlich dem wirtschaftlich fortgeschrittenen Norden ebenbürtig. Alles Bullshit, denkt sich Giuseppe Pignatelli. Schickt diese Schöngeister endlich nachhause, damit wir den wirklich wichtigen Teil eröffnen können.

Nach und nach verlassen die geladenen Gäste das Areal. Giuseppe verabschiedet die wichtigsten Gäste. Zum Schluss stehen bloss noch der Bürgermeister, Giuseppe und zwei Sicherheitsmänner am Eingangstor. "Gut, schreiten wir zum zweiten Teil der Veranstaltung. Folgt mir", fordert Giuseppe die anderen Männer auf.

Die Gruppe geht um das erste Gebäude herum. Dort, wo der Rundkurs der Teststrecke beginnt, zeichnet sich eine Rampe ab, sie deutet auf einen unterirdischen Wartungsraum oder die Räume für die technische Anlage hin. Die Männer folgen der Rampe bis zu einem grossen Schiebetor. Giuseppe klaubt einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und öffnet das Schloss, dann schiebt er das Tor zur Seite. Kühle Luft strömt den Männern entgegen, nach frischem Beton riechend, mit dem Ozon elektrischer Geräte angereichert. Das flackernde Licht gibt einen mächtigen, rechteckigen Raum frei, in dessen Mitte Regale stehen. An den Seiten befinden sich Werkbänke und Elektroschränke. Zur rechten Seite sieht es aus wie im Kontrollturm eines grossen Güterbahnhofs. Eine Schalttafel aus Metall ist an der Wand befestigt, viele Lämpchen leuchten, zahlreiche Regler und Schalter sind in Reih und Glied angeordnet. Giuseppe stellt sich neben den Stuhl, der unter die Schalttafel geschoben steht. "Meine Herren, das hier ist nicht die Technik der Teststrecke. Wie Sie wissen, befindet sich jene Technik im Kontrollgebäude gleich neben dem Eingang. Das hier ist die Klimakontrolle für meine Räume. Entlang des Rundkurses gibt es vier unterirdische Hallen, welche auf keinen Plänen erscheinen. Sie sind ausser mir, meinem Vater und dem Architekten die einzigen, welche von der Existenz dieser Hallen Kenntnis haben."

"Was ist mit den Bauarbeitern? Die wissen doch auch, was sie gebaut haben." Der ehemalige Bürgermeister von Nardò wirkt besorgt.

"Darum haben wir uns gekümmert. Wir haben uns ihr Schweigen mit grosszügigen Lohnzahlungen erkauft. Zudem haben wir die Hallen von Bauarbeitern erstellen lassen, die in unserem Dienst stehen. Von dieser Seite kommt keine Gefahr." Giuseppe di Copertino ist sichtlich zufrieden. Er weist die Sicherheitsleute in die Technik ein. Er erklärt ihnen, welche Schalter sie bewegen dürfen und welche Werte die Messgeräte anzeigen sollen. "Die Anlage funktioniert beinahe wartungsfrei. Sie müssen lediglich einmal pro Woche die Werte auslesen und protokollieren."

"Was befindet sich in diesen Hallen, das eine so moderne Klimakontrolle rechtfertigt?" wundert sich einer der Männer.

Giuseppe schaut ihn streng an. "Das ist für Sie nicht interessant. Wichtig sind Ihre Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit. Dafür werden Sie bezahlt. Sollte es einen Notfall geben, rufen Sie bitte die Nummer an, welche Sie auf dem Notfallschild dort lesen können. Das Telefon wurde extra deswegen installiert, damit Sie von hier aus anrufen können. Die Nummer ist rund um die Uhr besetzt. Haben Sie weitere Fragen?"

Die Männer verneinen eingeschüchtert. Damit ist der Arbeitsvertrag geschlossen. Die Gruppe verlässt den Technikraum, als letzter löscht Giuseppe das Licht und schliesst das Rolltor sorgfältig ab.

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