2 Schweiz - Gegenwart, Mai
Marco steht in seiner Wohnung in Brugg. In den Händen hält er sein neues Buch. Endlich hat er wieder einen Roman fertig schreiben können, und es ist ein Bestseller geworden. Er dreht das Buch um und betrachtet sein Foto. Dunkelhaariger Mann, Mitte dreissig, sieht ganz passabel aus, denkt er und muss über den kurzen Anflug von Eitelkeit schmunzeln. Er legt das Buch in die Kartonkiste, welche neben ihm steht, zu den anderen Büchern.
Der junge Schriftsteller räumt seine Wohnung aus. Er hat den Mietvertrag gekündigt und will nach Süditalien auswandern. Vor drei Monaten hat er seine neu gewonnene Liebe alleine zurückgelassen. Elena, die quirlige Italienerin, welche er während eines unglaublichen Abenteuers kennenglernt hat. Marco sehnt sich nach ihr. Er freut sich auf den Umzug in ein wärmeres Land, wo es keinen Nebel hat. Als ob die Natur auf solche Gedanken reagieren könnte, beginnt es draussen in Strömen zu regnen.
Plötzlich klingelt das Telefon. "Ja bitte?" meldet sich Marco.
"Hallo Marco, Kathrin hier", klingt die vertraute Stimme seiner Verlegerin Kathrin Zürcher aus dem Lautsprecher. "Hast du schon die neuesten Zahlen gesehen?"
"Hallo Kathrin. Leider nein. Wie du weisst, bin ich mit dem Umzug beschäftigt und kann nicht so oft im Intranet nachschauen, wie viel wir gerade verdienen." Marco scherzt gerne mit ihr über den Erfolg, den ihnen sein Buch beschert.
"Wir nähern uns dem Podest, Marco. Dein Buch liegt im Verkauf schon auf dem vierten Platz. In Deutschland sind wir in den Top-Ten. Wie immer hattest du einen guten Riecher, als du über einen ehemaligen Mafiaboss in Pension geschrieben hast. Apropos: Wann fährst du?"
"Wenn alles gut läuft, dann kann ich Ende der Woche fahren. Die Wohnung lasse ich reinigen, das kann ich mir glaube ich leisten. Ich weiss aber noch nicht, woher ich einen LKW bekommen kann."
"Frage doch bei deinem Arbeitgeber nach, ob sie dir ein Fahrzeug leihen könnten. Schliesslich bist du im Nebenjob immer noch als Gelegenheitsfahrer angestellt."
"Daran habe ich auch schon gedacht. Aber sie haben keine solche Fahrzeuge mehr. Sie haben bloss noch Müllkipper. Na ja, fragen kann ich ja."
"Ich habe mir überlegt, dich zu begleiten, Marco. Nicht, dass du uns wieder verloren gehst. Selina würde auch mitfahren und gleichzeitig eine Reportage über dich und deinen spektakulären Umzug nach Italien schreiben. Was meinst du dazu?"
"Begleitschutz... Grossartig! Dir würde das sicher gut tun. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du den Camper anstelle des Geldes genommen hast, als die Versicherung nachfragte. Du bist kaum wiederzuerkennen."
"Ich nehme das mal als Kompliment an. Also, ich spreche mit Selina und wir suchen uns ein Hotel in Nardò."
"Wieso denn? Duschen, Essen und alle diese Dinge könnt ihr bei uns auf der Baustelle. Und zwei Schlafplätze habt ihr ja im Camper."
"Auch wieder wahr. Also, wir hören uns. Mach's gut, ciao." Dann legt Kathrin Zürcher auf.
Marco denkt noch einen Moment über das Gespräch nach. Noch vor einem halben Jahr war seine Verlegerin eine unausstehliche Karrierefrau gewesen. Er schmunzelt. Offenbar hat sein Abenteuer nicht nur ihn verändert. Er freut sich auch darauf, die Journalistin Selina Zaugg wiederzusehen. Dann packt er einen Stapel Asterixbücher und legt sie sorgfältig in eine neue Kiste.
***
Am nächsten Tag wird Marco durch einen Anruf geweckt. Es ist sein Arbeitgeber von der Transportfirma. "Guten Morgen, Herr Stalder. Ihre Verlegerin hat bei uns nachgefragt, ob wir Ihnen ein Fahrzeug für den Umzug leihen könnten. Der einzige Wagen, der dafür in Frage käme, ist unser Oldtimer. Aber den würden wir lieber nicht noch einmal auf eine solch lange Fahrt schicken. Wir haben bei einer befreundeten Transportfirma ein passendes Fahrzeug gefunden. Wissen Sie, wo Unterkulm liegt?"
Marco begreift nicht so ganz, was gerade abläuft. Offenbar war seine Chefin mal wieder schneller als er.
"Herr Stalder? Sind Sie noch dran?"
"Ja, ja, entschuldigen Sie bitte. Das tönt ja hervorragend. Haben Sie vielen Dank. Ja, ich weiss, wo Unterkulm liegt."
"Dann melden Sie sich dort bei Christian, dem Chef. Er weiss Bescheid und wird Ihnen ein passendes Fahrzeug geben. Gute Fahrt. Wir hören uns." Dann ist er auch schon wieder weg.
Marco steigt umständlich aus seinem Bett und schlendert immer noch schlaftrunken in sein Badezimmer. Überall stehen Kisten und halb demontierte Möbel herum. Nachdem er sich erleichtern konnte, geht er zielstrebig in die Küche und stellt eine Tasse unter den Auslauf der Kaffeemaschine. Draussen sieht die Welt deutlich freundlicher aus als gestern.
***
Unterkulm. Ein kleines Dorf irgend in einem ländlichen Nebental zwischen Luzern und Aarau. Das stattliche Schulhaus steht neben der zentral gelegenen Kirche. Mitten auf der Strasse fährt eine Schmalspurbahn, wie ein Tram in den grossen Städten der Schweiz. Das ist aber auch das einzige Detail, welches an moderne Zivilisation erinnert. Kaum vorstellbar, dass es hier eine Transportfirma hat, zehn Kilometer von der nächsten Autobahn weg, denkt sich Marco. Umso mehr ist er erstaunt, einen modernen Betrieb mit Lager- und Werkstatthallen anzutreffen, scheinbar mitten in der Wohnzone. Er parkt seinen Wagen auf den Besucherparkflächen und meldet sich beim Empfang.
"Guten Tag, Herr Stalder. Ich bin Christian, der Chef hier." Ein grossgewachsener Mann blickt ihn freundlich an und streckt ihm die Hand zum Gruss entgegen.
Marco ergreift die Hand und bereut es sogleich wieder, der Händedruck des Fuhrunternehmers ist stark. "Grüezi. Bitte nennen Sie mich Marco."
"Freut mich. Also Marco, du suchst nach einem Lastwagen für einen Umzug nach Italien, ist das richtig?"
"Ja, das stimmt. Ich wandere aus. Es geht nach Nardò, das liegt in Apulien."
"Ich kenne da bloss die Porsche-Teststrecke. Den Ring von Nardò."
"Das liegt ganz in der Nähe, ja, die kreisrunde Hochgeschwindigkeitsbahn. Hättest du ein Fahrzeug für mich?"
"Philipp, dein Chef, hat mir schon in etwa erklärt, worum es geht. Wie viele Sachen hast du denn?"
"Nicht so viel. Die meisten Möbel habe ich verschenkt oder über das Internet verkauft. Ich glaube nicht, dass ich ein sehr grosses Fahrzeug brauche."
"Also einen normalen Zweiachser, vorzugsweise mit Hebebühne. Ja, so etwas haben wir, sogar mit Zollverschluss. Wenn du deine Sachen in Aarau beim Zollhof zeigst und alles deklarierst, dann gibt es in Chiasso keine Probleme. Es wird aber einer unserer Fahrer mitkommen und das Auto wieder zurückbringen. Ihn müsstest du bezahlen. Geht das für dich in Ordnung so?"
"Das ist mehr als grosszügig, vielen Dank." Marco kann es kaum glauben. Eine normale Miete oder ein Umzugsunternehmen hätten ihn weit mehr gekostet.
"Philipp hat mir gesagt, du hättest ihm seinen gestohlenen Oldtimer zurückgebracht. Da wäscht doch eine Hand die andere. Ich bin erfreut, dich kennenzulernen. Ich habe den Bericht über die abenteuerliche Fahrt mit Philipps Oldie in der Zeitung gelesen." Christian lacht, "Was für eine Aufregung."
"Das kannst du laut sagen. Ja, dieser Artikel hat mich auf einen Schlag berühmt gemacht."
Die beiden Männer trinken noch einen Kaffee zusammen, dann verabschiedet sich Marco wieder. Sie haben ausgemacht, dass gegen Ende der Woche in Brugg aufgeladen werden kann.
***
Wieder in seiner Wohnung schätzt Marco ab, wie viele Sachen er tatsächlich hat. Er kommt zum Schluss, dass der Platz reichen wird. Noch steht sein Arbeitstisch in der lichtdurchfluteten Nische der Altstadtwohnung. Marco setzt sich an seinen Laptop und öffnet das Mailprogramm. Die Mails wird er später lesen. Er beginnt zu tippen:
An: Java
Betreff: Umzug
Hi Java
Lange nichts gehört. Meinen Kram habe ich mittlerweile in Kisten verpackt, war ganz schön anstrengend. Die Möbel sind fast alle weg. Einige wenige Stücke, an denen ich hänge, werde ich mitnehmen. Heute habe ich einen Lastwagen organisieren können, mit dem ich meinen Umzug machen darf. Freue mich auf die Fahrt. Aber doch irgendwie komisch. Weg von hier, raus aus der Schweiz. Schon immer habe ich davon geträumt, den Schritt aber nie gewagt. Nun ist es soweit. Ende der Woche fahre ich.
Ich hoffe sehr, du kommst mich einmal besuchen in Nardò. Unmögliches Wort, um auf der Tastatur zu tippen...
Umarme dich, mach's gut. Ich schicke dir Bilder.
Marco
Java ist seit vielen Jahren mit Marco befreundet. Sie ist wie eine Schwester für ihn, macht Musik und stammt ursprünglich aus der Dominikanischen Republik. Die beiden vertrauen sich in allen Lebenslagen. Marco schmunzelt, als er die Mail abgeschickt hat.
Danach geht er in Gedanken noch einmal alles durch, was er die letzten Tage und Wochen hat organisieren müssen. Er überprüft, ob er auch kein Detail vergessen hat. Seine Papiere hat er bei der lokalen Einwohnerkontrolle abgeholt. Er hat sich offiziell abgemeldet. Die Bankverbindungen hat er bis auf eine einzige, auf welcher sein Lohn des Verlages einbezahlt wird, alle aufgelöst. Seine Altersvorsorge lässt er momentan noch unangetastet. Auf der italienischen Botschaft hat er die neuen Aufenthaltspapiere beantragt und zugesichert erhalten. Dem Umzug steht eigentlich nichts mehr im Weg. Mit diesen zufriedenen Gedanken legt er sich schlafen.
Ende der Woche wird alles verladen. Der Chauffeur stellt sich als Bernhard vor und ist ein Deutscher. Sein fast neuer Volvo FH16 steht fein säuberlich eingeparkt vor der Treppe des Mietshauses in Brugg. Das Fahrzeug ist dunkelblau mit einem weissen Blitz auf der Seite der Fahrerkabine. Sieht sehr schnittig aus, denkt sich Marco, als er Bernhard die Hand schüttelt.
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