Kapitel 6
Zwei Tage vergingen und ich versuchte Noah so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Ich brachte es einfach nicht über's Herz, mich mit ihm auszusprechen. Allerdings fiel es mir auch irgendwie ziemlich schwer ihn zu meiden, denn einerseits saß er natürlich immer noch neben mir und andererseits hatte ich das ständige Bedürfnis, mich bei ihm für meinen Ausraster zu entschuldigen. Etwas an ihm zog mich wie magisch an und besetzte ständig meine Gedanken. Oftmals setzte ich sogar schon zu einem Satz an, konnte mich aber gerade noch zurückhalten. So auch in diesem Moment, als der Vertretungslehrer den Raum verließ, um den Beamer aus dem Sekretariat zu holen. Ich warf ihm von der Seite einen schüchternen Blick zu und sah, dass er gerade am Zeichnen war. Konzentriert starrte er auf sein Blatt und zog einen weiteren Strich in die Mähne des Löwen. Meine Lippen öffnete ich leicht und wollte ihm sagen, dass er verdammt gut zeichnen konnte... Aber ich traute mich nicht. Zu groß war die Angst, es könnte unpassend sein und ihn unnötig verärgern. Dieser Streit nagte an meinen Nerven und nahm all meine Gedanken ein. Wenn ich nicht den ersten Schritt machte, wer dann?
Ich senkte meinen Blick wieder und brachte letztendlich doch ein vorsichtiges „Sorry" über die Lippen. Meine Stimme allerdings war so leise, dass ich schon befürchtete, Noah habe es nicht gehört. Scheinbar hatte ich mich aber geirrt, denn augenblicklich drehte er seinen Kopf zu mir und musterte mich stumm einen Moment lang. Zuerst dachte ich, er würde mir sagen wollen, dass ich ihn in Ruhe lassen und nie wieder ansprechen solle, glaubte sogar Wut in seinen Augen aufblitzen zu sehen, aber er lächelte mich einfach ehrlich an.
Ein Blick in seine funkelnden Augen ließ meine Knie weich werden und ich war dankbar, auf einem Stuhl zu sitzen, da ich befürchtete sonst umzukippen. Mir wurde plötzlich heiß und wahrscheinlich wurde ich gerade rot, weshalb ich für einen Moment meine Augen schloss. Kurz darauf fiel mir aber auf, dass Noah ungewöhnlich blass war. Wenn man bedachte, dass er als Spanier eine gewisse Grundbräune mitbrachte und draußen auch mindestens zwanzig Grad herrschten, schien mir das alles andere als normal. Sofort keimte Sorge in mir auf.
Ich zog meine Augenbrauen zusammen.
„Ist alles in Ordnung? Du bist so blass." Er winkte jedoch nur ab.
„Ich hab' in letzter Zeit einfach nur ein bisschen schlecht geschlafen. Kein Grund zur Sorge, aber trotzdem niedlich", lächelte er kurz und ein herzhaftes Gähnen unterstrich seine Aussage. Peinlich berührt aber dennoch geschmeichelt, musste ich erst einmal schlucken und konnte dann erst versuchen, einen klaren Gedanken zu fassen.
Weitere Gespräche wurden sofort von Herrn Griebers unterbrochen, der inzwischen den Beamer aufgestellt hatte und gespannt der Bären-Doku zusah. Dann klingelte es zur Pause und wir gingen auf den Schulhof.
„Also jetzt weiß ich, warum du so ein Einzelgänger bist. Nicht wahr, Herr Braunbär?", lachte Noah gerade und auch ich musste schmunzeln. Diese Doku war wohl reinste Zeitverschwendung. Wer sah sich denn bitte heute, in der Zeit der Blockbuster und des Serienreichtums, freiwillig Dokumentationen an? Meiner Meinung nach, verlor jeder der das tat, die komplette Kontrolle über sein Leben. Lieber würde ich Tante Sanna beim Stricken zugucken. Viel spannender war das auf jeden Fall und etwas lernen würde ich dabei vielleicht auch.
„Das Einzige, das Aaron offensichtlich von einem Bären hat, ist der Hunger. Du solltest echt mehr darauf achten, was du isst, Fettklops", rief Sören uns von hinten zu. Ich fühlte mich direkt unwohl, versuchte meinen Bauch einzuziehen und legte unterbewusst eine Hand auf den Bauch.
„Außerdem wundert es mich immer noch, warum du deine kostbare Zeit mit diesem Ficker verschwendest. Er hat schon versucht, mich zu vergewaltigen. Sein Glück, dass der Schulleiter ihn nicht von der Schule geworfen hat. Vermutlich hatte der auch einfach nur Mitleid."
Diese Worte schienen zwar im ersten Moment an Noah gerichtet, bedachte man aber Sörens Blick, der provokant auf mich gerichtet war, stellte man fest, dass er lediglich versuchte mich bloßzustellen. Tränen stiegen mir in die Augen und ich ballte meine Hände so fest zu Fäusten zusammen, dass meine Gelenke weiß hervortraten. Meine Augen waren auf den Boden vor meinen Füßen gerichtet.
Noah spannte sich an, verschränkte die Arme vor der Brust und sah unseren Gegenüber mit hochgezogener Augenbraue an.
„Aaron soll dich vergewaltigt haben? Dich?"
Purer Unglaube sprach aus seiner Stimme und ich war verwundert, dass er ihm nicht sofort Glauben schenkte. Sören schien ebenfalls verwirrt, sammelte sich aber kurz darauf wieder.
„Ja, naja, also er hat es zumindest versucht. In der Jungsumkleide. Zu meinem Glück konnte ich mich wehren und bin weggerannt. Aber wer kann es Aaron auch schon verübeln? Wenn man nicht geliebt wird..."
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, ertönte ein gedämpfter Knall, gefolgt von einem schmerzvollen Stöhnen und als ich aufsah, erkannte ich Sören, der gekrümmt auf dem Boden lag und Noah, der gerade zu einem Tritt in seine Magengrube ausholte. Entsetzen breitete sich in mir aus, aber auch ein warmes Gefühl der Sicherheit, da er sich wirklich dazu entschied, mich zu verteidigen. Mein Herz drohte mir beinahe aus der Brust zu springen.
„Nicht Noah, lass ihn in Ruhe. Es reicht. Wir haben Glück, dass das niemand gesehen hat", versuchte ich ihn zu beruhigen und zog ihn mit aller Kraft von Sören weg. Erst wehrte er sich, als er dann aber auch scheinbar begriff, was er getan hatte, weiteten sich seine Augen und er rannte weg. Ich hatte Mühe hinterherzukommen, schließlich war ich nicht der Sportlichste, erreichte ihn dann aber an einem Baum.
Er hatte die Stirn gegen die Rinde gelehnt, und atmete heftig ein und aus. Dann stieß er sich kraftvoll ab, raufte sich die Haare und fing an zu schluchzen. Vorsichtig ging ich einen Schritt näher an ihn ran und legte meine linke Hand sanft auf seine Schulter.
Er drehte sich um und sah mir mit einem schmerzverzerrten Blick direkt ins Gesicht, einzelne Tränen liefen über seine Wangen und tropften auf die Wiese. Mein Herz wurde schwer, zog mich fast nach unten, zu sehr nahm mich seine Bedrücktheit mit. Verdammt, ich mochte ihn schon viel zu sehr.
Seine rechte Augenbraue zuckte kurz, dann senkte er den Blick.
„Ich denke, es wird Zeit dir einiges zu erklären."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top