Kapitel 5

Meine Wangen brennen noch immer von den Tränen, die mir über die Wangen rollen, während verschiedene Häuser an mir vorbeiziehen. Was bildet er sich bitte ein? Wenn er wirklich glaubt, er könne einfach auftauchen und sich mit mir anfreunden, dann täuscht er sich. Ich habe schon genug Menschen in meinem Leben, die mich am liebsten wieder loswerden würden... Ich werde ihm sicher nichts erzählen, zu groß ist die Gefahr, dass er mich verrät und letztendlich doch verletzt. Außerdem kenne ich ihn doch gar nicht. Vermutlich ist das auch besser so, ich kann nicht wieder das Leben einer Person zerstören. Wie soll ich ihm von meinen Problemen erzählen? Am besten gar nicht. Das geht ihn nichts an! Ich hatte auch gar keinen Grund eifersüchtig zu sein. Er ist hetero, ich kenne ihn nicht und ich steh' erst recht nicht auf ihn. Weshalb denn auch? Wegen seiner fürsorglichen Art, wegen diesen strahlend braunen Augen oder doch wegen seiner penetranten Versuche Informationen aus mir herauszubekommen? Wenn das nicht gespielt war und er nicht einfach nur versuchte, mich zu verarschen. Würde er wirklich Information haben wollen, könnte er doch auch seine neue Freundin fragen. So viel Zeit wie sie mit Sören verbringt, hat er ihr doch bestimmt schon alles erzählt, was er weiß... Verdammt, würde er mich einfach in Ruhe lassen, müsste ich mir jetzt keine Gedanken um ihn und meine Gefühlswelt machen. Soll er doch einfach seine Zeit mit Sören und Mira verbringen, interessiert mich nicht!

Wütend kickte ich einen Stein über die Straße und steckte meine zu Fäusten geballten Hände tief in meine Hosentaschen. War es gerechtfertigt, dass ich ihn so angegangen bin?

Viel länger konnte ich auch nicht darüber nachdenken, da ich bereits zu Hause ankam. Kein Laut drang nach draußen und das ließ Verwirrung in mir aufsteigen. Leise schloss ich die Tür auf und steckte aus Angst nur vorsichtig meinen Kopf durch den Spalt. Ich sah den kleinen Flur, der in das verwüstete Wohnzimmer führte und hörte kurzzeitig erstmal nichts. Langsam trat ich ein und vernahm erst dann ein zaghaftes Schluchzen aus der Küche. Verwirrt zog ich meine Augenbrauen zusammen und wagte einen Blick Richtung Küchentisch. Das, was ich dann sah, wirkte zuerst wie ein Trugbild, doch ein weiterer Schluchzer riss mich aus meiner Starre.

Vor mir saß mein Vater auf einem der alten Barhocker mit ledernem Sitz. Die Ellenbogen hatte er auf den Tisch gestützt und das Gesicht tief in den Händen vergraben. Alte Fotos lagen verteilt auf dem Tisch. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in mir aus und ich machte augenblicklich einen Schritt auf ihn zu. Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, nahm ich ihn fest in meine Arme. Wider Erwarten, stieß er mich nicht weg, sondern legte auch seine Arme um meinen Körper. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und drückte mich fest an sich. Seine Schluchzer wurden lauter und ich merkte, wie seine Tränen langsam mein T-Shirt durchnässten.

Die sonst so übliche Alkoholfahne konnte man nur an den im Hintergrund stehenden Flaschen erahnen und der altbekannte und vertraute Geruch seines Aftershaves stieg mir in die Nase. Zufrieden sog ich den Duft ein und genoss diese Umarmung, die mich schmerzlich an die alten Zeiten erinnerte.

Plötzlich aber ließ er mich wieder los und schob mich leicht von sich. Er sah auf den Boden und wischte sich noch die letzten Tränen vom Gesicht. „Entschuldige", flüsterte er leise in meine Richtung, bevor er den Raum verließ. Was genau er damit meinte, war mir nicht klar und diese Frage würde sich auch nicht mehr beantworten lassen. Meine Vermutung bestätigte sich, er war eindeutig nüchtern. Vielleicht war er wieder beim Arbeitsamt. Weshalb aber war er so fertig? Ich trat näher an die Bilder heran, die vor mir auf dem Tisch ausgebreitet lagen.

Es waren alte Familienfotos, Fotos, auf denen sie noch hier war, auf denen wir drei noch glücklich waren. So lange ist es her, fast 6 Jahre und dennoch trauerte er ihr nach, weinte heimlich in seinen schwachen Momenten. Ich verstand ihn, schließlich hatte ich sie auch verloren. Ich drehte mich um, als ich meinen Vater im Türrahmen stehen sah, der schon wieder eine Bierflasche in der Hand hielt.

„Verschwinde", sprach er, den Blick auf den Boden gerichtet und klang dabei nicht so aggressiv wie sonst, sondern eher flehend und als er noch ein 'Bitte' hinzufügte, quetschte ich mich an ihm vorbei und sprintete in mein Zimmer. Dort angekommen, warf ich mich auf mein Bett und verschränkte meine Arme unter meinem Kopf.

Er trinkt nur so viel, weil er vergessen will, weil er sich selbst sonst nicht ertragen kann. Das ist okay. Der Alkohol bringt ihn dann zu den Dingen, die er normalerweise niemals tun würde. Ich weiß, dass er mich eigentlich nicht schlagen will. Dass er eigentlich auch akzeptiert, dass ich auf Jungs stehe. Aber der Alkohol ruft Dämonen aus der Vergangenheit hervor. Ich weiß das und deshalb ist das okay. Ich bin ihm nicht sauer deswegen, aber dennoch sollte er versuchen, von dem Alkohol wegzukommen. Das ist nicht gesund und er schadet sich damit selbst. Er ist mein Vater und ich liebe ihn, was sollte ich sonst tun?
Er vermisst sie, genauso wie ich es tue. Wir lieben sie immer noch, auch wenn sie nicht mehr hier ist. Doch hin und wieder verurteile ich ihn dafür und das ist nicht fair. Ich sollte ihm mehr Verständnis entgegen bringen... Das hat er verdient.

Irgendwann später schlich sich Noah wieder in meine Gedanken. Seine funkelnden, braunen Augen, wenn er mich ansieht oder dieses wunderschöne Lächeln. Seine fürsorgliche und niedliche Art, sich um andere Menschen zu kümmern. Dann spürte ich erneut diesen Stich in meiner Herzgegend, der mich daran erinnerte, dass Mira bald mit ihm zusammen sein würde. Sie mit ihren langen blonden Haaren und den schönen Sommerkleidern, die sie ständig trug... Die perfekte Vorzeigetochter. Was konnte ich ihm denn schon bieten? Ich schloss kurz meine Augen und öffnete sie mit einer neuen Erkenntnis.

Niemals hätte jemand wie ich eine Chance bei ihm. Niemals, selbst wenn er tatsächlich schwul sein sollte, würde er sich in jemanden verlieben, der immer noch den brennenden Schmerz eines Gürtels auf seiner Haut spürte. Niemals würde er mit jemandem zusammen sein wollen, der nicht zu sich selbst stehen kann.

Mit Tränen in den Augen und diesen Gedanken im Kopf schluchzte ich laut auf, als ich das altbekannte Knallen des Ledergürtels hörte.

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