Kapitel 30

Mit zusammengekniffenen Augen richtete ich meinen Blick schon wieder in den verdammt blauen Himmel in Richtung der scheißhellen Sonne. Ich hasse dieses Wetter und ich hasse, dass sich das nicht an meine beschissene Laune angleichen kann, wie das in jedem noch so schlechten Streifen der letzten Jahre der Fall war. Ich bin aber nunmal kein verfickter Hauptcharakter und in dieser Geschichte gibt es auch kein Happy End. Denn das Leben ist ein riesengroßes, gottverdammtes Trauerspiel.

Mittlerweile macht sich wieder dieses Brennen in meinen Augen bemerkbar und fühlt sich so gut an im Vergleich zu der Leere, die ich die ganze Zeit in mir trage. Das ganze Heulen und Schluchzen im Hintergrund bewirkt jetzt auch nichts mehr. Ich bin nicht traurig, denke ich. Keine Ahnung, wie sich das anfühlt, jedenfalls kann ich mich zusammenreißen und fange nicht einfach an zu weinen. Hab ich noch gar nicht. Ich bin nicht traurig, ich bin so fucking wütend.

Noah hat nicht eine einzige meiner bescheuerten Tränen verdient. Er hat mich angelogen, betrogen. Er hat mir versprochen, er würde verdammt nochmal gesund werden! Keine Ahnung, wie man so herzlos sein kann, einen Menschen, den man angeblich geliebt hat, so dreist anzulügen... Aber hat er wohl nicht. Mich geliebt. Ich ihn auch nicht, sonst würde der Gedanke daran, dass ich ihn nie wieder in meine Arme schließen können werde dafür sorgen, dass ich mich vor Schluchzen nicht mehr halten kann, aber ich bin nicht traurig. Ich bin so unglaublich wütend, dass er mich einfach verlassen hat, alles aufgegeben hat, dass er nicht mehr gekämpft hat. Hätte er wirklich gekämpft, dann würde ich ihm heute noch in seine schönen braunen Augen sehen können, die Sommersprossen auf seinem Gesicht zählen und nicht auf seinen hässlichen Grabstein sehen müssen!

Frustriert aber geschlagen lasse ich meinen Kopf fallen und balle meine Hände zu Fäusten. So ein Bastard. Aber er ist meins. Er ist das Einzige, das ich habe und jetzt wurde mir das auch genommen. Diese scheiß Sonne! Es war genau das Wetter, das er sich ausgesucht hätte, wenn er die Wahl gehabt hätte. 'Ich will nicht, dass ihr wegen mir weint'. Was ein dummes Gelaber. Natürlich heult man wegen dir, da bringt es auch nichts, wenn einem von oben die Haut verbrannt wird. Ich sehe wieder hoch, mit zusammengekniffenen Augen und insgeheim hoffe ich, etwas zu sehen. Etwas, das ganz heimlich beweist, dass das hier nicht die Realität, sondern ein geschmackloser Streich war. Sowas, wie ein großes Flugzeug, das so sein Fahnending hinter sich herzieht, auf dem steht, dass Noah mich nur verarschen wollte. Etwas, dass mir nicht das Herz zerreißen würde. Der Himmel aber ist absolut wolkenlos.

Unfreiwillig bemerke ich, wie trocken sich mein Hals anfühlt, dass er irgendwie brennt und dass selbst die einzelne Träne, die meine Wange runterläuft nicht dafür sorgt, dass ich mich besser fühle. Schnell wische ich sie weg, in der Hoffnung, dass sie niemand gesehen hat. Leider erfolglos, denn im nächsten Moment reißt irgendeine Art Mauer in meinem Kopf ein und alle aufgestauten Emotionen der letzten Woche verflüssigen sich in Tränen auf meinem Gesicht.

Plötzlich merke ich, wie sich eine Hand auf meine Schulter legt. Erschrocken sehe ich hoch und direkt in das bedauernde Gesicht unseres Direktors. Keine Trauer, bloß Bedauern, als würde er seine Zeit lieber mit dem Schauen eines Fußballspieles verbringen, aber die Beerdigung eines Schülers quasi sowas wie eine Pflichtveranstaltung für ihn darstellen. Angewidert verziehe ich meinen Blick. Hoffentlich nimmt er seine Hand da weg.

„Verluste sind immer schwer. Aber irgendwann geht es jedem damit besser.“ Seine kratzige Stimme klingt wie Fingernägel auf einer nassen Tafel und seine Worte verstärken in mir nur die tiefe Abneigung, die ich ihm gegenüber empfinde. So ein widerlicher Bastard. Er sieht mich nichtmal mehr ein zweites Mal an, bevor er sich wegdreht und schnellen Schrittes aus der Menschenmenge verschwindet.

Mein Blick wandert zu Rita, die völlig kraftlos und in sich zusammengesunken über dem noch offenen Grab steht. Ich werfe ihr einen bedauernden Blick zu, den sie nicht wahrnimmt. Zu sehr beherrscht sie der Verlust ihres Sohnes. Ich weiß nicht, was ich fühle. Vielleicht ist da Schmerz, Angst, Trauer, Wut, keine Ahnung. Gerade ist da nichts. Das, was Noah mit seiner bloßen Existenz in meinem inneren ausgefüllt hat, ist einfach weg, als hätte sein Tod alleine ein riesen großes Loch in mich gerissen.

Langsam, mit schlurfenden Schritten entferne ich mich von der Situation. Ich war noch nie besonders gut darin, stundenlang auf Beerdigungen zu heulen. Bin wohl so verkorkst, dass ich nicht wirklich trauer'. Holt ihn ja eh nicht zurück.

Auf dem Weg zurück zu Arnos Haus oder Nachhause, nehme ich an, merke ich, wie sich die Sonne in meinen Kopf und runter in meinen Rücken brennt. Ich kann nicht anders, als mir vorzustellen, dass das sowas wie eine Art letzte Umarmung ist und unwillkürlich stockt mein Atem. Schnell schüttle ich den Kopf, totaler Quatsch. Ich schließe die hässliche, weiße Tür auf und streife meine Schuhe auf der Fußmatte ab obwohl sie gar nicht dreckig sind. Warum ich das mache, weiß ich selbst nicht, wahrscheinlich Gewohnheit. Arno muss wohl gehört haben, wie ich die Wohnung betrete, denn hastig springt er um die Ecke, um mich zu begrüßen.

„Hey, uhm... Ich hab' dir einen Kakao gemacht. Kekse sind auch da. Falls das nicht reicht, kann ich auch noch ein Schoko- Eis holen. Sag' einfach Bescheid, wenn du was brauchst.“

Er mustert mich besorgt und das nervöse Zittern in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Leicht überfordert und perplex starre ich ihn an. Ich möchte ihm nicht irgendwelche Mühe bereiten, irgendwie komm' ich schon klar. Mach ich doch immer.

„Eine Umarmung?” Die Besorgnis in seinem Gesicht wandelt sich schnell zu Unsicherheit, als er diese Frage stellt. Mein Hals ist trocken, ich weiß nicht wirklich, was ich sagen soll. Diese Situation ist mir eindeutig zu skurril. Stattdessen nicke ich nur ganz leicht und mit zwei großen Schritten ist er schon bei mir angekommen und schließt mich erst zögerlich in die Arme, dann plötzlich ganz fest. Und mit dem stärkeren Körperkontakt wächst in mir allmählich ein Gefühl von.. Sicherheit? Fest krallen sich meine Hände in sein T-Shirt und plötzlich muss ich einfach losheulen, schluchzen, aber das ist okay. Vielleicht kann ich mich hier doch fallen lassen.

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