Kapitel 26
Die Tür von Noahs Krankenzimmer öffnete sich absolut lautlos, schwebte leicht über den Boden. Vielleicht konnte ich das Kratzen und Schleifen bloß nicht hören, weil mein Herz so kräftig schlug, dass ich jeden verdammten Pulsschlag in meinen Gliedmaßen spüren konnte. Ich musste schlucken.
Wären meine Gedanken nicht so auf Noah und seinen Zustand gerichtet gewesen, hätte ich mich vermutlich schon längst übergeben. Ich merkte, wie mir eine kühle Schweißperle den Nacken runterlief.
Hinter mir hörte ich ein leises Schluchzen und nachdem ich mich umgedreht hatte, sah ich auf Rita hinunter, die sich mit ihrem Ärmel einige Tränen aus dem Gesicht wischte. Sie bemerkte meinen Blick und zwang sich dann ein ermutigendes Lächeln auf die Lippen, das genauso falsch war, wie diese ganze beschissene Situation.
Noah sollte nicht im Krankenhaus liegen. Was auch immer mit ihm los war, was auch immer er hatte, es war falsch. Er sollte nicht so geschwächt sein, dass er umkippt und kaum mehr aufwacht. Verdammt, er hatte die ganze Scheiße nicht verdient.
Mit aufeinandergebissenen Zähnen beobachtete ich die Pfleger und die Ärzte, die mit großen Schritten hastig an uns vorbeirannten. Dann sah ich Noahs Mutter wieder an. In ihrem Blick lag so viel Verzweiflung und ich erschrak ein wenig. In ihren Augen spiegelte sich pure Angst. Die Angst, die man erfährt, wenn es zu spät ist. Die Angst, die man erfährt, wenn man seinem eigenen Kind nicht mehr helfen kann.
Ihr Blick bereitete mir eine Gänsehaut, ich fühlte mich, als hätte jemand alle Fenster aufgerissen. Mir war so kalt, als würde ich nackt im Schnee stehen. Aber dennoch legte sich mein Schweiß in einem dünnen Film über meine Haut. Ich war mir fast sicher, dass sich die Decke über mir auftat und dass es nass auf uns herunterregnete.
Rita lächelte mir noch einmal gezwungen entgegen und drückte mich dann mit ihrer Hand vorsichtig in den Raum. Ich nickte leicht, vermutlich nur, um mich selbst zu überzeugen und griff dann nach dem Türrahmen, um zumindest dadurch ein wenig Halt zu gewinnen. Ich musste auf den Boden sehen, als ich das Zimmer betrat, die Sonne schien zu hell durch das Fenster an der gegenüberliegenden Wand, blendete mich.
Vorsichtig hob ich meinen Kopf, versuchte nicht zu viel der Menschen, nicht zu viel des Raumes zu sehen. Plötzlich wurde ich wieder panisch, meine Füße bewegten sich wie automatisch nach hinten, mir wurde schwindelig und meine Sicht verschwamm ein wenig.
Ich konnte Noah so nicht sehen. Ich konnte nicht sehen, dass er Schmerzen hatte und ich konnte nicht sehen, dass er litt. Ich wollte das nicht sehen. Meine Füße bewegten sich weiter rückwärts, ich war wie ferngesteuert, schüttelte ununterbrochen meinen Kopf. Weit kam ich nicht, Noahs Mutter stand noch immer hinter mir und blockierte meinen Weg zurück in den Flur.
Auf dem Bett an der linken Wand saß eine Frau, vielleicht vierzig Jahre alt. Sie musterte uns einen Augenblick lang, hatte ihre Augenbraue hochgezogen und schüttelte leicht mit dem Kopf. Dann hob sie die Zeitschrift in ihren Händen wieder an, um weiterzulesen.
Ich ging einen kleinen Schritt weiter in den Raum und wagte einen vorsichtigen Blick um den Schrank, der auf meiner rechten Seite stand. Meine Hände fingen an zu zittern, also schob ich sie mir in die Hosentaschen. Noah sah mich überrascht an, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, aber in mir machte sich das Gefühl breit, als würde ich selbst vor einem Auto stehen.
Noah setzte sich ein wenig auf, sein linker Arm knickte ein. Er räusperte sich und zupfte dann unsicher an seinem Hemd herum. Er versuchte, meinem Blick auszuweichen und auch, als ich direkt neben ihm stand, sah er mich noch nicht an.
Unsicher sah ich mich weiter im Raum um. Hier war Nichts, alles war weiß. So kalt. Und das blendende Sonnenlicht sorgte zusätzlich dafür, dass ich mich so unwohl neben Noah fühlte.
Mein Blick fiel wieder auf den blassen Jungen vor mir.
„Wie geht's dir?", fragte ich kaum hörbar. Die Frau auf der anderen Seite schielte immer wieder über ihre Zeitung und warf uns neugierige Blicke zu.
Noah drehte seinen Kopf zu mir, sah mir einen Moment in die Augen und drehte sich dann wieder schluckend von mir weg.
„Mir geht's gut." Seine Stimme klang gebrochen, gereizt.
Verdammt, wieso konnte er mir nicht einfach sagen, was los war?
„Lüg' mich nicht an. Dir geht's seit 'ner Zeit schon echt beschissen. Du bist in der Schule zusammengebrochen und nicht mehr aufgewacht. Jetzt sag mir, was zur Hölle mit dir los ist!"
Ich war mit meinen Nerven am Ende. Er hätte mir doch schon lange gesagt, wenn es ihm wirklich gut gehen würde. Dann würde er nicht so ewig für die Antwort brauchen.
„Noah, sprich mit mir", schrie ich ihn schon fast an. Ich konnte nicht mehr. Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust und meine Angst brachte mich fast um, raubte mir all meine Kraft. Verzweiflung machte sich in mir breit. Meine Augen sahen flehend auf ihn runter. „Bitte."
Er sah mir nochmal kurz in die Augen, drehte seinen Kopf dann zum Fenster, aber nickte leicht. Ich konnte erkennen, dass ihm Tränen in die sowieso schon geröteten Augen stiegen. Er sagte was, aber sprach so leise, dass ich nichts verstehen konnte. Fragend sah ich ihn an und er schluchzte kurz.
„Ich hab' Leukämie, Aaron."
Mein Herz blieb stehen, mein Atem stoppte, überhaupt hielt alles an, nur das nervtötende Ticken der Wanduhr hörte nicht auf. Meine Gänsehaut kam augenblicklich zurück, weitere Schweißtropfen liefen mir den Rücken runter. Mein Körper verweigerte jede Bewegung, stand stocksteif da. Ich schluckte hart.
„Nein, hast du nicht. Leukämie ist was für kranke Leute", sagte ich mit zitternder Stimme. Ich hätte heulen können, konnte es aber doch nicht. Mein Hals war so verdammt trocken, tat weh bei jedem Wort, das ich sagte. „Aber du... Du bist doch gesund."
Ich schüttelte heftig den Kopf, hinter mir hörte ich, wie die Zeitschrift der Frau auf dem Boden landete.
Noah lachte bitter auf.
„Ich bin nicht gesund. Ich werde auch nie wieder gesund sein. Ich weiß ja nichtmal, wie lang ich noch lebe." Sein Blick galt wieder dem Innenhof des Krankenhauses, der durch das saubere Fenster viel zu idyllisch und unscheinbar aussah.
„Du stirbst nicht." Schließlich liefen mir doch einige warme Tränen über die Wange, sammelten sich an meinem Kinn und tropften still auf den Gummiboden. „Oder?"
Noah sah mir in die Augen, lächelte dann doch ein wenig. Er sah verzweifelt aus, so hoffnungslos.
„Bestimmt nicht."
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