Kapitel 24

Noahs blasser, nahezu lebloser Körper wurde auf einer Trage in den Rettungswagen geschoben. Überall rannten Menschen in roten Westen umher und riefen sich gegenseitig irgendwelche Dinge zu. Mehr bekam ich nicht mit, meine Gedanken waren noch vollkommen vernebelt. Ein Gefühl der Taubheit machte sich in mir breit, aber sonst fühlte ich mich leer. Es ist, als wäre ich gar nicht ich selbst, als würde ich von außen aufmerksam einen Film ansehen. Was ist passiert? Oder eher, wie konnte das passieren? In meinen Augen hatten sich schon längst Tränen gesammelt, aber ich schaffte es gerade noch, sie zurückzuhalten. Ich ging ein paar Schritte zurück, vom Fenster weg. Die ganze Zeit über wusste ich, dass etwas nicht stimmte, aber Noah war zu verdammt stur, um mir zu sagen, was los war.

Mein Sportlehrer versuchte wieder Aufmerksamkeit zu bekommen und räusperte sich.

„Okay, wir machen weiter. Lauft einfach noch ein paar Runden.”

Die Anderen liefen schon los, während ich immer noch perplex da stand. Erst als einer meiner Klassenkameraden gegen mich stieß, erwachte ich aus meiner Trance und begann langsam, meine nächste Runde zu laufen. Warum genau ich weiterlief, wusste ich nicht. Es geschah fast automatisch. Ein Teil von mir wollte genauso unsichtbar bleiben, wie ich es sonst auch immer gewesen war, aber ein anderer Teil, von dem ich nicht genau sagen konnte, woher er kam, weigerte sich den nächsten Schritt zu machen. Dieser Teil spielte mit dem Gedanken, aus der Turnhalle raus zu rennen und mit Noah mitzufahren. Als ich wieder an dem Fenster vorbeikam, war der Rettungswagen schon gefahren und Noah war weg. Wie es ihm jetzt wohl ging? Ob er wieder aufgewacht war? Ich blieb vor der Scheibe stehen und sah auf die leere Straße hinaus. Meine Gedanken drehten sich erneut um Noah und in meinem Kopf spielte sich sein Sturz wie in Dauerschleife ab. Warum war er zusammengebrochen?

„Aaron, du bist nicht hier um zu träumen, lauf weiter”, die Stimme meiner Sportlehrers klang mehr wie ein dumpfes Geräusch, nicht wie etwas Gesagtes und ich hörte diese Worte zwar, nahm sie aber nicht wirklich war. Ich schluckte hart, Schweiß trat auf meine Stirn und ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Ich konnte mich nicht rühren, mein ganzer Körper war wie eingefroren. Mir wurde schlecht. Was würde ich tun, wenn Noah etwas Ernstes passieren würde?

Erst als mein Lehrer vor mir stand, setzte ich mich wieder in Bewegung und drehte langsam meinen Kopf in seine Richtung. Ausdruckslos sah ich ihn an. Jegliche Gefühle waren verschwunden. Da war einfach... Nichts.

Auch später, als der Unterricht vorbei war und ich mit den Anderen in der Umkleidekabine stand, fühlte ich mich taub. Die Sprüche, die Sören sich nicht verkneifen konnte, prallten an mir ab. Alles was ich tat, schien nicht von mir selbst zu kommen. Es war fast so, als hätte man mich auf Autopilot geschaltet. Mein Kopf war leer, bis Sören etwas sagte, das sofort meine Aufmerksamkeit bekam. Verdammt, er hatte Recht. Noah konnte mich nicht mehr beschützen. Die Schlussfolgerung, die ich daraus zog, ließ mich für den restlichen Tag nicht mehr los.

Jetzt musste ich mich wohl selbst verteidigen.

Ich stand in der Küche, meine Hände hatte ich am Waschbecken abgestützt, mein Blick war starr auf das Fenster gerichtet. Ich hörte das Klimpern eines Schlüsselbunds, dann, wie dieser in den blechernen Kasten im Flur gehängt wurde. „Aaron?”, rief er, bevor er ebenfalls in die Küche kam. Er stand eine Weile hinter mir im Türrahmen, in meinem Rücken spürte ich seinen Blick. Ich drehte mich zu ihm um, meine Hände lagen noch immer auf dem Waschbecken und mein Gesicht war zu einer ausdruckslosen Miene verzogen. Arnos Blick konnte ich nicht richtig deuten, vielleicht war es Sorge?

„Ist alles okay, bei dir?” Ich nickte.

„Ja, mir... mir geht's gut. Dir?” Die Situtation war seltsam und ich merkte, dass er sich auch unwohl fühlte. Arno nickte einfach nur und verließ dann schnell den Raum. Was war bloß los mit mir, verdammt? Frustriert fuhr ich mir einmal durch die Haare und stieß mich dann vom Waschbecken ab. Mit großen, schnellen Schritten ging ich den Flur entlang auf die große Holztür zu, schnappte mir meine Sweatjacke von der Garderobe und sprintete die Treppe des Mehrfamilienhauses runter, als ich das Zuknallen von Arnos Wohnungstür hörte. Hastig sprang ich Stufe für Stufe hinab, während ich mir meine Jacke überstreifte, die Ärmel hochkrempelte und mir die Kapuze über den Kopf zog. Draußen wehte mir der kühle Wind entgegen und begleitete mich, während ich mich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle machte.

Ich musste endlich wissen, was mit Noah los war.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top