Kapitel 2

Seine Schreie konnte ich schon vom anderen Ende der Straßenseite hören und als ich dann endlich über die Türschwelle getreten war, zerschellte eine leere Wodkaflasche direkt neben meinem Kopf. Ein paar Tropfen der hochprozentigen Flüssigkeit klebten an meiner Stirn und ich zitterte bereits jetzt schon wieder vor Angst. Alles was ich in diesem Moment wollte, war einfach zu verschwinden, das alles hinter mir zu lassen.

„Aaron Gehl, komm sofort hier her oder es setzt Etwas!" So erklang die laute und bereits schon wieder lallende Stimme meines Vaters.

Erst konnte ich mich nicht bewegen, doch als er schon die Hand zu einer Faust ballte und versuchte, sich aus seinem Sessel zu erheben, löste ich mich aus meiner Schockstarre und eilte zu ihm.

„Auf dem Tisch liegt ein Zettel. Du liest ihn jetzt gleich laut und deutlich vor" , sprach er mit ruhiger Stimme. Diese ungewohnte Ruhe löste bei mir eine mindestens doppelt so große Panik aus wie seine Schreie und Beleidigungen. Es war die Ruhe vor dem Sturm.

„Los, jetzt mach schon, du Wichser!"

Ich stolperte sofort los und versuchte nicht auch noch über eine der zahlreichen anderen Flaschen zu fallen, die hier auf dem Boden herumlagen. Irgendjemand musste hier dringend aufräumen.

Ich nahm das zerknüllte Blatt Papier in die Hand und begann zu lesen:„S-sehr geehrter H-Herr Gehl, i-ich möc-"

„Verdammt, nicht mal das kannst du... Da steht drin, dass du andere Jungen fickst!"

Bei diesen Worten weiteten sich meine Pupillen, mein Puls stieg ins Unermessliche und mein Körper fing an, Schweißperlen abzusondern. Mir wurde schlecht und ich wusste, dass ich bald tot sein würde, wenn nicht ein Wunder geschehen und mich retten würde.

„Jetzt sag' schon was du jämmerliches Stück Scheiße!"

„D-das stimmt nicht, diese Behauptungen sind L-lügen", und schon spürte ich diesen bittersüß brennenden Schmerz auf meiner Wange.

„Lüg' mich nicht an. Ich bin nicht dumm. Nie wieder, hörst du, nie wieder, will ich so etwas hören. Sollte das noch einmal vorkommen, dann war alles, was du bis jetzt erlebt hast, das pure Vergnügen!"

Plötzlich klingelte das Telefon und mein Vater wackelte langsam darauf zu.

„Scheiße, was will das Arbeitsamt denn jetzt schon wieder?"

Er versuchte seine Sätze so klingen zu lassen, als hätte er nicht den ganzen Vormittag mit Jack Daniel's oder Ähnlichem verbracht. Für mich war das das Zeichen, auf das ich eben gehofft hatte, also verschwand ich so schnell ich konnte wieder aus dem Haus, um ihm und weiteren Schlägen zu entkommen.

Mein Weg führte an meinen Nachbarn vorbei und ich hörte schon das freudige Bellen von Fey, der kleinen Terrierhündin. Ich lief zu ihr an das Gatter und sie leckte zur Begrüßung meine Finger ab, woraufhin ich sie unter dem Köpfchen kraulte. Lange harrte ich dort jedoch nicht aus, mein Ziel war ein kleiner Vorsprung, der sich am Hang des Waldes befand. Also tätschelte ich noch kurz Feys Kopf und schlenderte dann weiter, um zeitnah dort anzukommen.

Nach einiger Zeit, die ich schon hier in der ruhigen Natur verbrachte, hörte ich das Laub hinter mir rascheln. Ich vermutete ein Kaninchen, aber als ich einen braunen Haarschopf erblickte, der sich neben mich setzte, zuckte ich kaum merklich zusammen.

„Hallo, mein Freund. So sieht man sich wieder. Das Schicksal meint es wohl gut mit uns", sagte dieser doch ziemlich fremde Junge und lächelte mich genauso an, wie er es heute Morgen getan hat. Auf meinem ganzen Körper breitete sich eine Gänsehaut aus. Brummend blickte ich wieder nach vorne.

„Du scheinst nicht sehr gesprächig zu sein, geht's dir gut?"

„Hat halt nicht jeder so viel zu erzählen wie du."

„Du kannst mit mir reden wenn du willst. Ich hab' Zeit und bin ein guter Zuhörer."

„Lass andere das beurteilen. Außerdem wüsste ich nicht, worüber ich mit dir reden sollte. Ich kenn' dich nicht", war meine schlichte Antwort. Dennoch ließ er sich nicht beirren, schaute erst lächelnd auf den Boden und dann wieder in mein Gesicht.

„Okay Aaron, dann lernst du mich jetzt kennen."

Er sah nach vorne, beobachtete die Bäume und die Vögel. Dann leckte er sich kurz über die Lippen.

„Ich heiße Noah, wohne in einem kleinen Haus in der Nähe. Hmm... Ich steh auf Benjamin Blümchen und das Essen meiner Mama." Als er seine kleine Vorstellung beendet hatte, grinste er mich an und auch meine Mundwinkel zuckten leicht nach oben, während ich sein Gesicht vorsichtig musterte.

Danach saßen wir noch Stunden so da und Noah erzählte mir vieles aus seinem Leben. Seine Eltern schienen in seinen Erzählungen so nett und ich würde sie gerne kennenlernen. Ich erfuhr etwas über seine Geschwister und peinliche Kindergartengeschichten. Er lachte viel und manchmal, da entwischte sogar mir ein kleines Lächeln. Letztendlich sprachen wir über so ganz banale Dinge wie Lieblingsfarben oder Filme und dabei fing ich auch an zu erzählen. Die Zeit verging und mit ihr verflog meine anfängliche Verschlossenheit.

Irgendetwas an Noah war unfassbar anziehend, doch ich wusste nicht so recht, was das wohl sein konnte und das verunsicherte mich enorm. Ich musste die Mauer, die ich so mühevoll aufgebaut hatte, vor dem einstürzen schützen, denn sie war schon längst nicht mehr so stabil, wie ich es gerne hätte.

Die Sonne war schon untergegangen, was hieß, dass mein Vater wahrscheinlich schon schlief, also entschied ich mich so langsam zu gehen.

„Hey Noah, also es war echt cool mit dir zu reden und ich danke dir auch irgendwie dafür, aber ich schätze, ich sollte nun gehen. Es ist spät und ich muss noch Hausaufgaben machen. Wir sehen uns ja bestimmt morgen", versuchte ich mich zu verabschieden ohne zu hart zu klingen.

„Ja klar, ich muss auch noch Mathe machen und die Vokabeln in Englisch sollte ich mir auch nochmal anschauen. Wäre ja schon scheiße, wenn ich direkt am Anfang nicht mitkomme. Wir sehen uns dann auf jeden Fall morgen in der Schule, wir sind ja jetzt sowas wie Freunde oder so."

Als er das sagte, sprang mein Herz vor Freude und ich nickte dem freundlichen Spanier noch kurz zu, bevor ich dann aufstand, mir das Laub von der Hose klopfte und die ersten Schritte Richtung Heimat antrat. Dann spürte ich jedoch einen festen Griff an meinem Handgelenk, der mich zurückzog.

Ich blickte in Noahs Augen und ich glaubte meiner Sehkraft nicht zu trauen, als ich Trauer und Verletzlichkeit in ihnen wiederfand.

„Ich verstehe dich. Ich kann verstehen wie du dich fühlst. Mich haben sie schließlich auch so genannt."

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