Kapitel 16

Bevor ich die Haustür öffnete, schloss ich kurz meine Augen und atmete tief durch. Innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, mir seine Sprüche anzuhören und seine Schläge aufzufangen. Verdammt, ich war zu lange weg gewesen. Trotz seiner dauerhaften Betrunkenheit würde es ihm auffallen, wenn er mich nicht so früh wie sonst zu Hause auftauchen sah. So leise wie nur möglich, versuchte ich, die Tür zu schließen. Ein wenig zuckte ich jedoch trotzdem zusammen, als sie ins Schloss fiel. Im Haus aber, rührte sich nichts. Verunsichert machte ich mich auf die Suche nach meinem Vater. Ja, vielleicht war das total dämlich, aber was war, wenn er meine Hilfe brauchte? Ich konnte ihn nicht sterben lassen. Plötzlich schlich sich ein Gedanke in meinen Kopf, der da definitiv nicht hingehörte.

Er war doch selbst Schuld, wenn er immer so viel säuft...

Kurz darauf schüttelte ich mich. So ein Quatsch. Er hatte seine Gründe und diese würde ich respektieren, schließlich war er mein Vater. Mein ganzes Leben schon hatte er sich um mich gekümmert, es wurde Zeit, dass ich ihm etwas zurückgab. Mit diesem Entschluss schlich ich mich vorsichtig von Raum zu Raum. Als erstes suchte ich in der Küche und im Esszimmer. Auch auf der Couch im Wohnzimmer lag er nicht. Wo war er bloß, verdammt? Allmählich bekam ich Panik, und Angstschweiß bildete sich auf meiner Stirn. Wie ging es ihm? Hatte er sich etwas angetan?

Hastig rannte ich die Treppe rauf, zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Das Bad war leer, jetzt gab es nur noch eine Option. Sein Schlafzimmer war dunkel, aber durch die geöffnete Holztür fiel etwas Licht in den kleinen, muffigen Raum. An der rechten Wand stand ein großes Ehebett und darauf lag, laut schnarchend, mein Vater. Die Decke befand sich als ungeordneter Haufen unter seinem Rücken. Der mir gebotene Anblick beruhigte mich doch ungemein und ich seufzte zufrieden. Dann ging ich leise auf die linke Seite des Bettes zu. Hier war die Decke ordentlich zusammengelegt worden und das Kissen war auch nicht so zerdrückt wie auf der Seite meines Vaters. Wäre da nicht die dünne Staubschicht, hätte man meinen können, dass das Bett frisch gemacht worden war. Dem war aber leider nicht so. Das letzte Mal war schon vier Jahre her. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in mir aus, wurde aber wieder sofort von mir verdrängt, damit es keine Kontrolle über mich nahm. Ein weiteres Schnarchen meines Vaters riss mich aus den tiefen meiner Gedanken. Innerhalb weniger Sekunden setzte ich mich wieder in Bewegung und schritt neben ihn. Sachte versuchte ich, die Decke unter ihm hervorzuziehen und legte sie ihm dann so über den Körper, dass er nicht frieren würde. Danach verließ ich das Zimmer und schloss mit einem letzten prüfenden Blick und einem leichten Lächeln die Tür. Trotz allem schaffte ich es nicht, die Worte 'elendiger Säufer' aus meinem Kopf zu verbannen. Was war in letzter Zeit nur los mit mir? Früher habe ich das doch auch nicht gedacht. Weshalb jetzt, verdammt?

Kopfschüttelnd lief ich den engen Flur entlang und stiefelte in mein eigenes Zimmer. Kühle Luft stieß mir entgegen und mit ein wenig Stolz betrachtete ich die Reinheit und Ordnung meines Reiches. Dann fiel mir siedend heiß ein, dass ich noch etwas zu erledigen hatte. Mit großen Schritten lief ich auf meinen Ranzen zu und zog den Zettel raus, den der Direktor mir am Tag meiner Suspendierung in die Hand gedrückt hatte. Morgen musste ich wieder im Unterricht erscheinen und diesen Wisch abgeben.

Selbstverständlich hatte ich nie beabsichtigt, meinem Vater von meinem kurzen Urlaub zu berichten, deshalb konnte er auch nichts unterschreiben. In meinen Augen war es auch etwas leichtsinnig nicht die Eltern zu kontaktieren, sondern die Benachrichtigung in die Hände des zu strafenden Schülers zu legen, aber was wusste ich denn schon?

Letztendlich kramte ich dann auch den Kugelschreiber aus meinem Mäppchen und begann schwungvoll die Unterschrift von ihr auf ein Collegeblockblatt zu setzen. Nachdem sie nicht mehr da war, hatte ich anfangen müssen, diese Fähigkeit zu erlernen. Heute war es tatsächlich immer wieder praktisch, wenn man wusste, wie die Unterschrift der Eltern auszusehen hatte. Ein letztes Mal setzte ich auf dem Schmierzettel an und zog diese kunstvoll verschnörkelten Linien dann auf dem Schrieb der Schule. Zufrieden betrachtete ich mein Werk und packte es dann feinsäuberlich zurück in meine Tasche.

Wenig später lag ich auf meinem Bett, den Blick an die Decke geheftet und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Am nächsten Morgen würde ich Noah wiedersehen und dieser Gedanke ließ meine Mundwinkel nach oben huschen. Dann keimten Sorge und Angst in mir auf. Was würde sich Sören für Noah einfallen lassen? Würde er sich überhaupt etwas einfallen lassen? Oder war er letztlich doch zu feige? Ich konnte ihn absolut nicht einschätzen und das verunsicherte mich. Wenn ich wüsste, was als nächstes passieren würde, könnte ich Noah helfen, auch wenn dieser meinte, dass er von Sören unterschätzt würde. War er sich da tatsächlich so sicher? Aber egal was geschehen würde, ich würde Noah verteidigen.

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