Kapitel 10
Es war Montagmorgen und das Wochenende war ziemlich ruhig verlaufen, allerdings hatte ich in dieser Zeit nichts mehr von Noah gehört und das störte mich. Dennoch ließ mich allein die Erinnerung an ihn lächeln. Als es zum Stundenbeginn klingelte, konnte man beobachten, wie es die Schüler zu den Klassenräumen zog, ähnlich wie die Motten zum Licht. Vor der verschlossenen Tür blieben sie stehen. Trotz dessen waren die meisten eher bedingt freiwillig hier. Die große Mehrheit der hier anwesenden Menschen wäre aus freien Stücken wahrscheinlich nie hergekommen. So auch ich. Meine Laune stieg aber, als ich Noah direkt auf mich zukommen sah. Er erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln.
„Guten Morgen, Bärchen", begrüßte er mich. Ich verdrehte daraufhin meine Augen und seufzte.
„Du hast nicht wirklich vor, mich immer bei diesem schrägen Kosenamen zu nennen oder?"
Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und legte den Kopf schief, sah an die Decke und schien nachzudenken.
„Nein, eigentlich nicht. Ich wollte nur abwarten, wann du das erste Mal etwas dazu sagst", sprach er und lächelte mich wieder an. Dann kam Frau Bauer und schloss den Raum auf. Nacheinander strömten die Schüler rein und als ich ihnen folgen wollte, hielt sie mich an der Schulter zurück.
„Aaron, warte mal kurz. Du sollst zum Direktor gehen. Er meinte, dass er etwas Wichtiges mit dir zu besprechen hätte. Ich will dich ja nicht beunruhigen, aber es klang so, als würde es um etwas sehr Ernstes gehen", sie grinste mich schadenfroh an und ich hoffte, dass ihr gleich ein Absatz der hochhackigen Schuhe abbrechen würde, damit ich zumindest noch einmal schmunzeln konnte, bevor ich mir völlig unsinnige Anschuldigungen anhören musste, aber nein... An diesem Tag hatte ich wohl einfach kein Glück, denn Nichts passierte.
Wenig später stand ich vor der dunkelbraunen Massivholztür. Wenn ich mich nicht täuschte und wenn man meinen eher dürftigen Fachkenntnissen vertrauen konnte, war das Eichenholz. Ich zögerte eine Weile und klopfte dann doch vorsichtig an. Die Türklinke drückte ich aber erst runter, als ich ein gedämpftes „Herein" aus dem Inneren vernahm.
Schüchtern senkte ich meinen Blick auf den Boden vor mir, da er mir heute besonders schön vorkam. Mir war trotz des Bandshirts von Nirvana unglaublich warm und alles in mir kribbelte. Ich war nervös. Ich hatte Angst. Was konnte der Direktor bloß von mir wollen?
„Ah, Aaron! Ich habe dich bereits erwartet. Setz' dich doch bitte", sprach der Mann vor mir. Wegen meiner Nervosität schaffte ich es zwar nicht zu antworten, nickte aber zum Zeichen, dass ich verstanden hatte, was er sagte.
Nachdem ich auf einem der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, erlaubte ich mir, ihn ein wenig genauer zu mustern.
Er war bestimmt Mitte Fünfzig und tiefe Falten zierten sein Gesicht. Die wenigen Haare, die er noch besaß, hatte er kurz rasiert. Je länger ich hier saß, desto nervöser wurde ich.
„Sören war gestern nach dem Unterricht nochmal bei mir. Er hat mir geschildert, was zwischen euch vorgefallen ist. Der arme Junge war ganz aufgelöst."
Diese Worte gaben mir den Rest. Wieder hatte Sören mit dem Direktor gesprochen. Nur würde diesmal Noah bestraft werden statt mir. Ich wurde wütend. Er hatte bekommen, was er verdient hatte. Sogar nicht genug. Aber zugleich wuchs etwas in mir, das man ganz sicher als Beschützerinstinkt durchgehen lassen konnte.
Stur sah ich dem Direktor in die Augen.
„Er wollte mich nur verteidigen. Sören hat ihn provoziert. Er wollte das nicht", versuchte ich dem Direktor zu erklären, was passiert war. Allerdings schien dieser nicht ganz zu verstehen, was ich von ihm wollte. Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen.
„Was redest du denn da? Sören hat mir erzählt, dass du ihn gestern nach dem Unterricht ohne jeden Grund geschlagen hast."
Erleichterung machte sich in mir breit und ich lehnte mich entspannt zurück. Noah würde nicht mit da reingezogen werden. Diese Strafe würde ich auch aushalten und der Gedanke daran, dass ich ihn geschlagen hatte, machte mich aus irgendeinem Grund unfassbar glücklich und ließ mich leicht lächeln.
„Ja, ich habe ihn geschlagen. Und jetzt?", fragte ich scheinbar unbeeindruckt und ich musste mich sehr konzentrieren, um ein weiteres Lächeln zu unterdrücken.
„Wie meinst du „und jetzt"? Du kannst doch nicht einfach irgendwelche Schüler schlagen! Spinnst du? Besonders Sören solltest du langsam mal in Ruhe lassen. Du hast ihn ja schließlich auch fast sexuell missbraucht. Was ist nur dein Problem mit ihm?", während er diese Worte aussprach, wurde er immer lauter. Wütend starrte er mir in die Augen. Auch ich konnte mich vor Wut kaum noch halten. Warum glaubte ihm immer jeder? Ich hatte damals nichts getan.
„Er hat es verdient", war Alles, was ich ihm entgegnen konnte und wollte.
Der Direktor seufzte laut auf. Die Verzweiflung war ihm deutlich anzusehen.
„Aaron, was soll ich denn nur mit dir machen? Du bist intelligent und das ist ja das, was ich nicht verstehe. Wieso tust du das alles? Fehlt dir Aufmerksamkeit deiner Eltern?"
„Ich wüsste nicht, was sie das Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern angeht."
„Gut. Angesichts der Tatsache, dass das hier nicht der erste Vorfall war und der Tatsache, dass du scheinbar keine Einsicht zeigst, muss ich wohl zu härteren Maßnahmen greifen. Du bist für die nächsten zwei Tage suspendiert. Das heißt, du darfst heute und morgen nicht am Unterricht teilnehmen, bist aber dazu verpflichtet, am Mittwoch wie gewohnt zu erscheinen. Den Unterrichtsstoff musst du natürlich auch nachholen", der ältere Mann kramte eine Weile in der obersten Schublade seines Schreibtisches herum. Die Bestrafung, die er mir soeben erteilt hatte, war mir ziemlich egal, solange sie Noah nicht betraf.
Wenig später hielt er mir einen Zettel entgegen: „Hier, den musst du mitnehmen und von einem Elternteil unterschreiben lassen. Bring ihn einfach am Mittwoch wieder mit und gib ihn dann bei mir ab. Das war's dann. Du kannst gehen."
Erleichtert schob ich meinen Stuhl zurück und wollte gerade die Tür öffnen.
„Aaron, du musst dich ändern. Wenn du so weitermachst, kommst du nicht weit."
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