Kapitel 6

„Gaya, wach auf", weckte mich June am nächsten Morgen. „Was ist denn? Es ist doch Samstag." Murrend setzte ich mich auf. „Dann schau Mal auf die Uhr, es ist halb neun und du musst Maya doch um neun Uhr bei April abholen", antwortete sie und musste sich ein Lächeln unterdrücken, als sich meine Augen vor Schreck weiteten. „Verdammt! Danke June, du bist wirklich ein Engel. Ich glaub langsam, dass du mich besser kennst als ich mich selbst." Mit einem Schlag war ich hellwach und sprang förmlich von meinem Sofa auf. Schnell verschwand ich im Bad und kam kurzdarauf wieder mit – wie sollte es auch anders sein – meiner Zahnbürste in der einen und meiner Bürste in der anderen Hand zurück ins Zimmer um nach etwas passendem zum Anziehen zu suchen. Inzwischen war Mia auch aufgewacht und schaute mir verwundert dabei zu, wie ich durch mein Zimmer hastete. „Das oder das?", fragte ich sie mit Zahnbürste im Mund und hielt ihr zwei unterschiedliche T-Shirts hin. „Ähm, keine Ahnung, das dunkelblaue?", erwiderte sie unsicher. „Definitiv das dunkelblaue", mischte sich nun June ein. Mit dem T-Shirt und einer einfachen Jeans in der Hand – die Zahnbürste noch immer im Mund – ging ich zurück ins Bad und kam zehn Minuten später fertig angezogen und geschminkt wieder heraus. „Wow, bist du immer so schnell?", staunte Mia, als ich mir meine Tasche über die Schulter hängte. „Seit Maya angefangen hat mich jeden Morgen mit „Wir müssen los, die Schule beginnt in einer Viertelstunde" zu wecken und da ich nicht will, dass sie Ärger bekommt, weil sie zu spät zum Unterricht erscheint, habe ich gelernt mich schnell zu richten. Fünf Minuten ohne Schminken, aber ich muss dazu sagen, dass das schon ziemlich sportlich und anstrengend ist", erklärte ich ihr grinsend. June hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls umgezogen und trat nun wieder ins Zimmer. „Ich muss los", verabschiedete ich mich von den beiden, „ihr könnt hier noch so lange bleiben, wie ihr wollt. Wenn ihr geht, zieht einfach die Tür hinter euch zu." Mit den Worten eilte ich aus dem Zimmer und zu meinem Auto.

Pünktlich kam ich bei April an um Maya abzuholen. Gemeinsam machten wir uns einen schönen Tag, der leider viel zu schnell vorbei war, genauso wie das gesamte Wochenende.

Am Montagmorgen weckte Maya mich bereits eine Viertelstunde früher als sonst, da sie zu aufgeregt war, immerhin würde sie heute zum ersten Mal ins Schullandheim fahren. Es waren zwar nur drei Tage, aber es war immerhin der erste Ausflug mit ihrer Klasse, der länger als einen Tag dauerte.

Als wir etwa zwanzig Minuten später – ich hatte mich heute bereits zuhause geschminkt – an ihrer Schule ankamen, hatten sich bereits fast alle um den Reisebus in der Mitte des Hofes versammelt. Sie würden erst in einer halben Stunde fahren, doch heute schienen alle früher zu kommen. Kaum hatte ich den Motor abgestellt, sprang Maya bereits aus dem Auto und rannte zu ihren Freundinnen. Grinsend stieg ich ebenfalls aus und folgte ihr mit ihrem Koffer. Ich hatte ihr versprochen zu warten, bis der Bus losfuhr, auch wenn das bedeutete, dass ich mal wieder zu spät in Mathe kam. Auf die Standpauke von Mr. Campbell freute ich mich ja jetzt schon. Aber meine Schwester war nun mal wichtiger und um sie zu schützen nahm ich den Ärger gerne in Kauf. „Gaya, wie geht es dir?", empfing mich Aprils Mum freundlich. „Danke, den Umständen entsprechend gut und selbst?", erwiderte ich lächelnd. Einen Moment lang sah sie mich skeptisch an, bevor sie antwortete. Bis es schließlich los ging und Maya wieder aufgeregt zu mir trat um sich zu verabschieden, redete ich noch etwas mit Aprils Mum. Sie wollte immer sofort helfen und hatte auch schon des Öfteren angeboten, dass sie mich untersuchen konnte, wenn mein Vater mich mal wieder schlug. Bisher hatte ich dieses Angebot jedoch stets ausgeschlagen, immerhin wollte ich nicht, dass sie wusste, wie schlimm es tatsächlich war. „Genießt die Zeit", sagte ich zu Maya und April zum Abschied. Fest drückte ich Maya noch einmal an mich. Ich vermisste sie jetzt schon. „Danke das werden wir. Lass dich von Dad nicht ärgern, während ich weg bin", flüsterte Maya mir ins Ohr und erwiderte meine Umarmung. „Natürlich nicht", antwortete ich ihr zwinkern und richtete mich wieder auf. Gut gelaunt stieg sie kurz darauf mit April in den Bus und winkte mir noch zu, bevor sie hinter der ersten Kurve verschwunden waren. Dann hieß es für mich jetzt wohl ab in die Schule. Seufzend verabschiedete ich mich von Aprils Mum und ging zu meinem Auto.

Etwa zehn Minuten später kam ich auf dem Parkplatz meiner Schule an. Die Straßen waren im Vergleich zu sonst relativ leer gewesen, dennoch war ich nun eine Viertelstunde zu spät zum Unterricht.

Nervös betrat ich mein Klassenzimmer und machte mich bereits darauf gefasst, von Mr. Campbells wütender Stimme in Empfang genommen zu werden. Doch als ich durch die Tür trat kam nichts. Kein bissiger Kommentar und etwas ähnliches, weil ich schon wieder zu spät war. Verwundert schaute ich auf und entdeckte Mia und June, die mich sofort zu sich winkten. „Was ist denn hier los? Wo ist Mr. Campbell?", fragte ich verwundert, als ich bei den beiden ankam. „Der ist krank, vermutlich die ganze Woche noch. Keine Ahnung was er hat", antwortete mir June sofort mit gespielt traurigem Gesichtsausdruck. Augenblicklich mussten Mia und ich anfangen zu lachen, bevor ich mich erleichtert auf meinen Stuhl fallen ließ. Oh, Gott, heute musste mein Glückstag sein. Kein Dad, kein Mr. Campbell. Besser konnte es ja kaum noch kommen. Die Doppelstunde verging wie im Flug und auch der restliche Tag war erstaunlich angenehm und schnell vorbei. Jack war zu sehr beschäftig, als dass er mich ärgern konnte, nur Sarahs Verhalten schockte mich. Ich dachte sie wäre meine Freundin, aber jetzt sah ich sie in jeder freien Minute an Jack hängen. Immer wieder musste ich schnell auf die Seite sehen, damit ich nicht mitansehen musste, wie meine ach so gute Freundin dem Jungen, der mich am meisten hasste auf den Mund küsste.

Als ich am Abend endlich nach Hause kam, genoss ich erstmal nur die Stille und machte es mir mit einem guten Film auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich. So ließ es sich wirklich gut aushalten.

Doch leider dauerte dieser Traum nicht lange an, immerhin würden Dad und Kasia morgen zurückkommen. Kasia war an sich ja eigentlich ganz okay, wobei ich das relativ schlecht beurteilen konnte, da sie immerhin so gut wie nie da war, wenn ich zu Hause war.

Die nächsten zwei Tage vergingen genau gleich. In der Schule musste ich mich damit rum quälen, dass Sarah und Jack nun anscheinend zusammen waren, was mir dafür jedoch die fiesen Worte von Jack ersparte und abends rang ich mit mir selbst, ob ich es wirklich durchziehen konnte mich in meinem Zimmer einzusperren – was ich tatsächlich tat, jedoch die ganze Zeit über befürchtete, dass Dad jeden Moment die Tür eintreten würde.

Es war inzwischen Donnerstag und heute Morgen würde Mayas Klasse vom Schullandheim zurückkommen. Ich hatte mit ihr ausgemacht, dass sie den Vormittag mit April verbringen konnte und ich sie nach der Schule abholen würde. Die Glückliche musste heute nicht in den Unterricht, da sie ja gerade erst wieder hier angekommen waren. Mein Schultag zog sich quälend lang, sodass ich bereits in der ersten Stunde irgendwann anfing mit meinem Kleid herumzuspielen. Es war schlicht, aber dennoch wunderschön. Ich liebte es, auch wenn ich nicht sagen kann, ob das nicht einfach hauptsächlich der Tatsache geschuldet war, dass es meiner Mutter gehört hatte. Sie hätte heute Geburtstag gehabt und für mich war es zu einer Art Tradition geworden zu diesem besonderen Tag als Erinnerung an sie eines ihrer Kleider zu tragen. Dad kam an diesen Tagen meistens gar nicht mehr in der Nacht nach Hause sondern torkelte erst sehr spät am Morgen ins Haus, wenn Maya und ich in der Regel schon unterwegs waren. Das war auch der Grund, weshalb wir an diesem Abend eigentlich immer etwas länger als normal wach blieben. Ich erzählte ihr dann meistens Geschichten über Mum und wie sie immer gewesen war oder wir schauten uns alte Fotoalben an.

„Miss Ustinov", riss mich die Stimme von Mr. Campbell aus meinen Gedanken. Erschrocken sah ich zu ihm auf. Seit heute war er wieder in der Schule – leider. Anscheinend hatte er das typische Dreitagefieber, doch nun schien es ihm wieder ziemlich gut zu gehen. Auf jeden Fall gut genug, um mich mal wieder vor der gesamten Klasse fertig zu machen. „Was ist denn, Mr. Campbell?", fragte ich seufzend. Er stand direkt vor mir und wartete vermutlich auf eine Antwort. Nur dass ich gerade nicht aufgepasst hatte und keine Ahnung, was die Frage war. Irgendetwas zur Proteinbiosynthese vermutlich, schließlich hatten wir – glaube ich – gerade darüber gesprochen. Es war gerade die zweite Stunde angebrochen, ich war mal wieder zu spät in der Schule angekommen und hatte dafür eine Standpauke von Mr. Campbell erhalten. Nun saß ich also in Biologie und wartete darauf, dass Mr. Campbell freundlicherweise seine Frage wiederholte. „Ich habe Sie etwas gefragt und warte noch immer auf eine Antwort", erwiderte Mr. Campbell mit tadelndem Blick. Nervös biss ich mir auf meine Unterlippe: „Könnten Sie die Frage bitte noch einmal wiederholen? Ich war in Gedanken gerade wo anders." „Das habe ich durchaus gemerkt. Ich erwarte Sie nach der Stunde bei mir am Pult. Miss Anderson, könnten Sie meine Frage beantworten?", wandte Mr. Campbell sich schließlich an Sarah, die sofort mit einem hinterlistigen Grinsen die Frage beantwortete. Wo war meine Freundin Sarah hin? Und die Frage hätte ich auch beantworten können – vorausgesetzt ich hätte sie überhaupt mitbekommen natürlich.

Nach der elend langen Biologiestunde ging ich schließlich zu Mr. Campbell nach vorne. Als die letzten das Klassenzimmer verlassen hatten, fing dieser schließlich an: „Wo waren Sie denn mit ihren Gedanken? Normalerweise kommen Sie zwar zu spät, sind aber wenigstens noch einigermaßen aufmerksam, was ist los mit Ihnen?" Sein Blick war ernst und streng. „Meine Mum hat heute Geburtstag", flüsterte ich leise, wobei ich mich zusammenreißen musste, um nicht in Tränen auszubrechen. Ich vermisste sie furchtbar. „In Ordnung. Sagen Sie ihr alles Gute und ich erwarte dann von Ihnen, dass Sie das nächste Mal meinem Unterricht wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Hab ich mich klar ausgedrückt?", antwortete er nachdem er mich eine Weile einfach nur beobachtet hatte. Verwirrt blinzelte ich: „Sie wollen mir keine Strafarbeit oder zusätzliche Hausaufgaben erteilen, wie sonst immer?" „Da Ihre Mutter heute Geburtstag hat, verschonen ich Sie heute, aber das nächste Mal kommen Sie nicht einfach so mit einer zusätzlichen Ladung Aufgaben davon. Ist das bei Ihnen angekommen?", sagte er streng. Wow. Immer noch geschockt nickte ich langsam und verließ dann das Klassenzimmer.

„Ihr werdet mir nicht glauben, was gerade passiert ist", begrüßte ich June und Mia in der Pause, „Mr. Campbell hat mich mal wieder vor der gesamten Klasse bloßgestellt, als ich gerade in Gedanken war und als ich dann nach der Stunde zu ihm musste, hat er mir keine zusätzlichen Aufgaben oder so gegeben. Er hat einfach gar nichts gemacht. Das einzige was er gesagt hat war, dass ich meiner Mum alles Gute ausrichten soll, nachdem ich ihm erklärt hatte, dass sie heute Geburtstag hat. Könnt ihr euch das vorstellen?" „Nie im Leben, du machst Witze", sagte June mit großen Augen und auch Mia sah mich fassungslos an. „Nein, wirklich, ich schwör'."

Wir unterhielten uns noch ein wenig, bevor die Pause schließlich vorbei war und wir alle zurück in den Unterricht mussten.

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