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Am Mittwoch zittern meine Knie schon, als ich noch im Englischunterricht sitze. Auch heute hatte mir Michael angeboten, dass er sich neben mich setzen könne, jedoch habe ich, nach einem Blick zu Jungs auf der anderen Seite des Klassenzimmers, abgelehnt. Der Blick, den mir Michael danach zugeworfen hat, hat mein Herz zum einen höher schlagen lassen und zum anderen auch dafür gesorgt, dass ein unangenehmer Schmerz durch eben dieses fuhr. Denn er wirkte enttäuscht.
Das heißt, dass er sich irgendwie erhofft hatte, dass ich neben ihm sitze. Er scheint mich also zu mögen. Aber ich war es, der ihn enttäuschen musste. Weil ich nicht den Mut habe, mich gegen diese Jungs zur Wehr zu setzen.

Heute morgen habe ich Michael ebenfalls eine Nachricht geschrieben, dass ich verschlafen habe und den späteren Bus nehmen muss, weshalb wir in unserer Freistunde leider nicht üben konnten.

Und jetzt stehe ich hier vor der Aula. Alleine. Michael steht bei seinen Freunden und ganz alleine bin ich auch nicht, da sich Sven und Fabian freundlicherweise zu mir gestellt haben. Doch während die beiden ein Gespräch führen, höre ich ihnen gar nicht richtig zu und hänge in meinen eigenen Gedanken. Erst, als die Lehrerin uns in die Aula lässt, löse ich mich aus meinen Gedanken und warte bis alle anderen den großen Saal betreten haben, bevor ich durch die Tür gehe.

"Viel Spaß gleich", kommt es von einem der Jungen und er lacht, ehe auch er dann durch die Tür huscht und ich als letzter auf dem Flur zurückbleibe.

Seufzend ziehe ich die große Tür hinter mir zu und suche mir einen Platz, der ziemlich weit weg von allen anderen ist. Es nützt mir jedoch nichts, da die Lehrerin mich, die Schüler, die Zombeys Freunde spielen und Michael sofort auf die Bühne ruft. Ich hole also den Text aus meinem Rucksack und gehe, nach einem verunsicherten Blick zu den Jungen, die mich schon wieder spöttisch und teilweise auch noch immer wütend mustern, mit wackeligen Beinen die kleine Treppe zu der Bühne hinauf.

Michael kommt ebenfalls kurz nach mir die Treppe hinauf und stellt sich mit einem ziemlich geringen Abstand neben mich, während sich alle anderen auch ein Stückchen hinter uns aufstellen.
Nachdem unsere Lehrerin uns sagt, dass wir bitte anfangen sollen, verschwinden Michael und ich hinter dem Vorhang, da wir erst später hinzukommen.

Neben Michael stehe ich nun also hinter diesem Vorhang, wo bloß wenig Licht leuchtet und uns niemand sehen kann.
Ich spüre seinen Handrücken an meinem und schlucke. Er wackelt stattdessen mit seinem Bein und schaut auf den Text, obwohl er bei der Belichtung wohl gar nichts sehen kann. Als ich meinen Blick senke und ihn somit von unseren Händen löse, sehe ich im Augenwinkel, dass er mich mustert.

Und gerade als er seinen Mund öffnet und zum Sprechen ansetzt, wird der Satz gesprochen, der als unser Einsatz dient und wir beide müssen die Bühne betreten.

Als wir ein paar Schritte zur Mitte der Bühne gemacht haben, schauen alle mich an. Der nächste Satz sollte eigentlich von mir kommen, doch herrscht in meinem Kopf Leere. Das einzige, an was ich denke, ist die Situation am Montag. Die Drohungen und das Gelächter. Die Blicke der Jungs unten im Publikum und auch hinter mir. Und Michaels Hand, die noch immer dicht neben meiner ist und durch leichte Berührungen ein seichtes Kribbeln verursacht.

Ich öffne meinen Mund um trotzdem etwas zu sagen, jedoch versagt meine Stimme und ich bekomme keinen Ton raus. Nach Hilfe suchend schaue ich zu Michael, der meinen Schrei nach Unterstützung anscheinend versteht, denn er beginnt zu sprechen.

"Also ich verstehe das noch nicht ganz, Frau Bieneck. Welche Gefühle sollen wir in dieser Szene vermitteln?"

Die Frage ist kompletter Schwachsinn. Zombey und Maudado werden in der Öffentlichkeit gesehen, da ist es vollkommen klar, wie Zombey sich wohl fühlt. Aber er versucht mich zu retten, weshalb ich nichts sage und bloß Frau Bieneck zuhöre, die die Gefühle der Charaktere erläutert.

"Wir fangen noch einmal an. Michael und Maurice, ihr beide kommt noch einmal neu ins Bild."

Michael und ich drehen uns einmal um und verschwinden wieder hinter den Vorhang, um gleich erneut die Bühne zu betreten. Konzentriert starre ich auf die Zettel, vor allem, um Michaels Blick auszuweichen. Jedoch kann ich die Schrift nicht erkennen und Michael weiß das.

Plötzlich spüre ich die Hand von Michael an meinem Kinn und sanft sorgt er mit dieser dafür, dass ich ihn anschaue.

"Du kannst das, Maurice. Du kannst deinen Text auswendig, du brauchst diese Zettel nicht mehr. Was ist los mit dir?", fragt er leise und ich spüre seinen Atem, so nah ist er mir.

Seine Hand an meinem Kinn bringt mich nur noch mehr aus dem Konzept.

"Sie machen mich fertig", gebe ich mit zitternder und genauso leiser Stimme zu. Sie zittert nicht vor Angst. Sie zittert vor Aufregung und vor Nervosität. Sie zittert, weil Michael mir ziemlich nah ist.

Und ich muss meine Aussage nicht weiter ausführen. Michael weiß, wen ich meine.

"Hast du nicht gesagt, es sollte dir egal sein, was andere von dir denken?"

Zögernd nicke ich.

"Gut, dann fangen wir jetzt damit an."

"Wir?"

"Ja, ich mache den Anfang. Und das bleibt bitte unter uns, ja?"

Überfordert nicke ich einfach erneut und schaue zu seiner Hand, die er nun von meinem Kinn nimmt.

"Ich bin auch schwul", sagt er dann so leise, dass es kaum hörbar ist. Aber ich verstehe es und realisiere gar nicht richtig, was er gerade gesagt hat. Und bevor ich überhaupt reagieren kann, höre ich das Signal dafür, dass Michael und ich die Bühne betreten sollen.

Während wir also zum zweiten Mal zu unserer Markierung laufen, muss ich mir mein breites Grinsen verkneifen. Das, was Michael mir gerade anvertraut hat, weiß womöglich niemand über ihn. Zumindest keiner von seinen Freunden. Aber er scheint mir zu vertrauen.

Mit diesem Glücksgefühl, welches sich in mir ausbreitet, sage ich den ersten Satz auswendig auf, weshalb ich einen erstaunten Blick meiner Lehrerin und einen leicht stolzen Blick von Michael ernte. Die Blick der Jungen, die unter mir im Publikum sitzen, nehme ich gar nicht wahr.

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