Priwen

Heute bin ich das erste Mal mit dabei! Ich bin sehr aufgeregt, das gebe ich offen zu und da brauche ich auch niemanden etwas vormachen. Ich werde dabei sein, wenn wir unsere nächtliche Patrouille durch die dunklen Gassen der heruntergekommensten Viertel der Stadt unternehmen. Wir sorgen für Schutz gegen die Bedrohungen der Dunkelheit, wir sind die Wächter der unschuldigen Bürger, die ohne uns der Finsternis schutzlos ausgeliefert wären. Wir sind die letzte Einheit, die sich dem Bösen entgegenstellt. Wir sind die Guards of Priwen!

Diese altehrwürdige Vereinigung entstand vor vielen hundert Jahren in England und war die Antwort auf eine regelrechte Vampir-Plage, die das Land beinahe in den Untergang getrieben hätte. Allein diesen mutigen Männern war es zu verdanken, dass die Menschen weiterhin unbeschwert leben konnten. Selbstlos, furchtlos und immer loyal sind die Guards of Priwen und wir scheren uns nicht darum, dass die breite Bevölkerung nicht im geringsten wertschätzen kann, was wir tun und welches Unheil wir schon so oft abgewendet haben.

Die letzte große Vampir-Säuberung der Guards of Priwen hatte vor etwa 100 Jahren in London stattgefunden. Das Land war stark geschwächt durch den ersten Weltkrieg sowie die spanische Grippe. Diese prekäre und krisenreiche Zeit nutzten diese widerwärtigen Vampire um sich zu vermehren und im gesamten Stadtgebiet auszubreiten. Alle Stadtteile waren betroffen und alle Bevölkerungsschichten. Gnadenlos stillten diese widerwärtigen Geschöpfe ihren Durst nach Blut an ihren Opfern. Ganze Straßenabschnitte waren verwaist und niemand traute sich des nachts mehr aus dem Haus.
In dieser Zeit gelang es viele wehrfähige Männer zu rekrutieren und auszubilden, sodass in einigen Nächten zahlreiche Vampire beseitigt werden konnten.
Nach der großen Säuberung kehrte Ruhe ein und es wurde vermutet, dass alle Vampire ausgerottet waren. Ein paar müssen sich jedoch erfolgreich versteckt haben, da in den späteren Jahren vereinzelte Sichtungen und Verbrechen dokumentiert wurden.

Unsere Forscher stellen einen wiederkehrenden Zyklus fest, bei dem etwa alle einhundert Jahre eine akute Bedrohung durch die Vampire auftritt. In dieser Phase vermehren sie sich rasant und werden somit zu einer Gefahr für die Bevölkerung! Wir befürchten, dass diese Phase bereits begonnen hat und die Vampire sich im Verborgenen verstärken. Auch wir haben die Augen stets offen und stellen vermehrt vampirische Aktivitäten fest.

Ich habe schon selbst erlebt, was diese Biester anrichten und weiß deshalb wieso es so elementar ist, sich ihnen entgegen zu stellen: Vor einem Jahr fand ich meine alleinstehende Tante tot in ihrer Wohnung auf. Ich sehe sie noch immer vor meinem geistigen Auge vor mir: Blass, in ihrem Körper kaum mehr ein Tropfen Blut, die Haare hingen ihr völlig zerzaust ins Gesicht, die Augen starrten ausdruckslos in die Leere. Die polizeilichen Ermittlungen verliefen sich schnell im Sande und ich schwor Rache! Dieses fürchterliche Verbrechen war der Auslöser, wieso ich den Guards of Priwen beitrat. Nicht viel später kündigte ich meinen Job um mich ganz und gar ihrer Sache zu verschreiben.

Sie empfingen mich mit offenen Armen und bildeten mich aus. Die Ausbildung war hart. Ich kam körperlich an meine Grenzen, doch ich erlernte zahlreiche Kampftechniken und verbesserte meine Physis enorm. Für Schwächlinge ist hier einfach kein Platz und diese werden durch die anspruchsvolle Ausbildung herausgefiltert. Zu Beginn weiß niemand wie genau diese Ausbildung überhaupt strukturiert ist und es ist verboten vor Novizen darüber zu sprechen. Man munkelt, man ist erst ein vollwertiges Mitglied der Gurads of Priwen wenn man seinen ersten Vampir erlegt hat.

Ich lernte im vergangenen Jahr auch viel über unseren Feind. Unsere moderne Forschung ist schon sehr weit und wir haben einen beachtlichen Wissensstand über diese Wesen erreicht. Vampire sind Geschöpfe der Finsternis und werden durch Übertragung von Blut eines Vampires in einen unifizierten Organismus geschaffen. Sie sind unsterblich, altern nicht, und sind uns Menschen körperlich überlegen. Sie können ihre Opfer mesmerisieren, gefügig machen, oder bewegungsunfähig machen. Daher ist ein offener Kampf mit einem Vampir immer ein ungleicher Kampf und sollte nur von sehr erfahrenen Vampirjägern ausgefochten werden. Besser ist es in der Gruppe anzugreifen oder aber sie bei Tag aufzuspüren wenn sie sich feige verstecken. Sie haben nur wenige Schwächen: Knoblauch kann sie fernhalten, ein Kreuz kann sie bannen, man kann sie verbrennen oder mit einem Holzpflock durchbohren. Außerdem verbrennen sie von innen heraus wenn Tageslicht auf sie trifft. Einen Vampir zu identifizieren ist nicht immer leicht. Manche leben zurückgezogen und treten nur selten in Erscheinung. Andere Vampire gliedern sich dagegen in die Gesellschaft ein und frönen ihrem düsteren Dasein nur im Geheimen. Oft bewegen sie sich in den feinen Kreisen und verfügen über hohe Vermögen. Sie haben schließlich auch viel Zeit sich ihren Reichtum zu erwirtschaften, denn sie altern ja nicht. Da sie keine Seele besitzen, erscheinen ihre Abbilder auch nicht in Glasspiegeln, weshalb sie es auch tunlichst vermeiden vor einem Spiegel zu stehen. Ich habe mir wirklich alles Wissen angeeignet, das ich finden konnte. Immer getrieben von dem Gedanken endlich Vergeltung für den fürchterlichen Mord an meiner Tante zu erlangen.

Ich bin also bis in die Haarspitzen motiviert. Endlich darf ich nun auch auf eine Patrouille gehen und wohlmöglich einen Vampir aufspüren und ein für alle Mal auslöschen! Dann werde ich ein angesehenes Mitglied dieses altehrwürdigen Ordens sein. Ein geschätzter Guard of Priwen!

"Bleib gelassen, ja? Ich weiß, du bist Feuer und Flamme für unsere Sache, aber du musst fokussiert bleiben!" Mein Hauptmann, man nennt ihn nur Chuck den Pfähler,  hat meine Aufregung längst bemerkt und weist mich zurecht. Er führt den Trupp an, welcher aus sieben Guards besteht. Neben Chuck und mir sind das noch drei erfahrene Mitglieder und zwei weitere Neulinge, so wie ich einer bin. Mit großen Taschenlampen durchleuchten wir die dunklen Gassen der Stadt und überprüfen stichprobenartig suspekte Passanten. Viele sind um diese unchristliche Uhrzeit auch nicht mehr auf den Straßen unterwegs. Ehrbare schon gar nicht.

"Passiert es häufig, dass man auf der Patrouille auf einen Vampir trifft?", fragt ein Neuling Chuck.
"Nein, nicht häufig", antwortet Chuck mit tiefer Stimme denkbar wortkarg.
"Die meisten erledigen wir bei Tageslicht, wenn sie sich in ihren Unterschlüpfen verstecken", ergänzt John, einer der erfahrenen Guards.

"Wie viele Vampire haben Sie schon erledigt?" Die Neugier des Mannes ist ungebrochen und so schiebt er noch eine weitere Frage hinterher.
Chuck hält einen Moment inne, er scheint tief in Gedanken versunken zu sein. Er nutzt seine Hände um zu zählen. Zwei genügen nicht.
"Achtzehn. Die meisten davon habe ich gepfählt."

"Daher auch sein Name, du Dummkopf!", wirft John vorwurfsvoll ein.

Wir laufen sehr lange und legen eine weite Strecke zurück. So langsam schmerzen mir die Füße und mein Rücken tut weh, da ich es noch nicht gewohnt bin den schweren Rucksack so lange zu tragen. Der Rucksack ist gepackt mit sämtlichen nützlichen Ausrüstungsgegenständen: Moderne Tageslichtlampen, Knoblauchspray, Handspiegel, einer Axt, aber auch ganz klassische Utensilien zur Vampirbekämpfung wie ein großes Kruzifix oder einen Holzpflock führe ich mit mir.

Wir sind schon fast am Ende unserer Nachtwache, da weichen wir auf Befehl von Chuck von der geplanten Route ab. "Ich hab da mal was gehört, dem Hinweis könnten wir heute noch kurz nachgehen."

"Was haben Sie gehört, Herr Hauptmann?", frage ich um mich so gut es geht darauf vorzubereiten auf was auch immer uns erwartet.

"Nur ein Hinweis, nichts konkretes. Bleib fokussiert!", schnauzt mich Chuck an. Ich gehorche. Ich bin Novize und zu Gehorsam verpflichtet. Wir marschieren noch eine ganze Weile, passieren enge Gassen und Plätze, die wie ausgestorben wirken, bis Chuck vor einem windschiefen Wohnhaus innehält. Das Gebäude sieht total heruntergekommen aus und ist in einem erbärmlichen Zustand.
Im Haus ist es stockfinster und es sieht verlassen aus. Auf mich wirkt es so, als hätten hier schon mehrere Jahre keine Menschen mehr gewohnt. Die breite Eingangstür ist mit mehreren Brettern vernagelt. Ebenso die Fenster, deren dreckige Scheiben teilweise eingeworfen wurden. Der Putz bröckelt von den Hauswänden und einige Dachziegel waren bereits vom Dach herunter auf den Boden gestürzt.

Wir stehen eine Weile vor dem Gebäude und inspizieren es, während John es auskundschaftet. Irgendwann kommt er zurück und erstattet Bericht: "Es gibt ein paar Indizien, dass dieses verlassene Haus ein Unterschlupf für einen oder mehrere Vampire darstellen könnte. Wenn wir die Kellertreppe runtergehen, können wir uns Zutritt verschaffen."
"Dann los, untersuchen wir das Haus!", entscheidet Chuck, "Steve und Bob sichern unseren Fluchtweg, die restlichen Novizen untersuchen das Kellergeschoss. Alle anderen gehen mit mir in die Wohnräume. Wenn hier ein Vampir ist, dann überraschen wir ihn eiskalt!"

Entschlossen bewegen wir uns im Gänsemarsch durch den verwilderten Vorgarten und nehmen die Kellertreppe, die seitlich am Haus gelegen ist. Die Kellertür ist schnell geöffnet und kein wirkliches Hindernis.
Wir stehen nun im stockdunklen Keller. Mit unseren Taschenlampen versuchen wir uns in den Gemäuern zu orientieren. Während die Lichtkegel über Unrat und Müll, der sich hier im Keller angehäuft hatte, wandert, fühle ich mich euphorisch. Endlich darf ich auch mal etwas erleben! Ganz wie Chuck es befohlen hat, bleiben Steve und Bob, zwei Neulinge an der Treppe stehen. Akribisch prüfen sie ihre Ausrüstung und halten die Augen offen. Ganz wie wir es in der Ausbildung lernen. Chuck und die anderen Erfahrenen steigen eine alte Holztreppe empor, die unter ihren Füßen laut knarzt, selbst wenn sie sich bemühen leise zu sein. Ich und die verbliebenen Neulinge untersuchen die Kellerräume.
Man hätte es von außen niemals so groß eingeschätzt, aber allein der Keller ist riesig und besteht aus mehreren kleinen Räumen, die durch schmale Gänge miteinander verbunden sind. Im Gewölbe kann ich ausgeprägte Spinnennetze sehen und alles in allem erzeugt dieser Ort in mir ein Unbehagen.

"PRIWEN!"

Plötzlich vernehme ich unseren Schlachtruf irgendwo über mir im Haus in Begleitung von lautem Poltern. Diesen Ruf schreien wir lauthals wenn wir einen Vampir angreifen, damit diese Ungeheuer auch wissen, wer sie sogleich in die Hölle schickt.
Es folgen Schreie und dumpfe Schläge. Wir Neulinge sehen uns fragend an.
"Wir müssen zur Verstärkung eilen! Aber du bleibst hier und suchst weiter", entscheidet einer und zeigt auf mich. Er hat keinerlei Recht das zu entscheiden, aber alle außer mir nicken zustimmend und stürmen schnell durch die Gänge zur Holztreppe und dann nach oben.

Ich stehe also allein in dem finsteren Gewölbekeller. Scheinbar kommt es direkt über mir zu einem Kampf und ich darf nicht mitwirken! Das ist ungerecht! Ich bin ebenso fähig wie die anderen Neulinge auch und ich will endlich meinen Anteil zur Ausrottung der Vampire beitragen! In Gedanken sehe ich schon die anderen Neulinge, wie sie mich hänseln und schikanieren, da sie nun vollwertige Mitglieder sind und ich immer noch Neuling. Ein Neuling, der langweilige Keller untersuchen muss, während die ehrenwerten Guards of Priwen die Welt zu einem besseren Ort werden lassen, indem sie ein widerwärtiges Biest erlegen. Sollte ich mich ihnen anschließen oder wie geheißen im Keller bleiben? Vielleicht würde Chuck die anderen auch bestrafen, da sie sich seinem Befehl widersetzt haben? Ich bin total zwiegespalten und hadere mit mir. Ich entscheide, Chucks letzte Anweisung zu befolgen und die Keller weiter zu erkunden. Gute Guards befolgen Befehle und ich will mal der beste aller Guards werden!

Ich nehme also meinen Streifzug wieder auf und schreite aufmerksam durch die Gänge. Meine Taschenlampe spendet nur wenig Licht, aber es genügt mir. Je weiter ich voranschreite, desto leiser vernehme ich das Gepolter über mir. Irgendwann höre ich es gar nicht mehr.
Ich durchschreite weiterhin einen Raum nach dem anderen und entdecke nichts als Schrott und Tand, welcher schon uralt zu sein scheint. Irgendwann gelange ich in einen schmalen Gang der an einer verschlossenen Tür endet. Sackgasse! Ich rüttle kräftig an der Tür in der Hoffnung, sie öffnet sich ja vielleicht doch, aber ich habe keinen Erfolg. Enttäuscht drehe ich mich schon um und will wieder gehen, da höre ich ein Geräusch hinter der Tür. Irgendetwas muss sich dort bewegt haben!

Mein Atem stockt als ich angestrengt überlege was ich jetzt tun soll. Soll ich zurück und das Geräusch als Nichts abtun, soll ich Verstärkung holen, oder soll ich selbst nachsehen was hinter der Tür ist?
Wenn ich die anderen hole und nichts Wichtiges hinter der Türe ist, würde ich nur ihren Hohn und Spott ausgeliefert sein. Wie stände ich denn da, wenn ich bei einem kleinen Rumpeln sofort nach Verstärkung rufe, während die anderen sich todesmutig einem Vampir entgegengestellt haben? Diese Schmach würde ewig an mir haften!

Also krame ich die Axt aus meinem Rucksack und hole tief Luft.
Ein heftiger Hieb trifft auf die massive Holztür. Das lärmende Geräusch hallt noch lange durch den langen Gang. Die gusseiserne Klinge meiner Axt steckt fest. Ein großer Schaden ist an der Tür nicht entstanden. Kräftig ziehe ich an meinem Werkzeug und bekomme es nur unter großen Anstrengungen zurück.
Also nochmal! Wieder und wieder schlage ich mit der Axt zu. Es regnet Holzsplitter und es entsteht ein Loch, welches mit jedem Hieb größer wird. Ich kann erkennen, dass der Raum hinter der Tür durch Kerzen spärlich beleuchtet ist.
Nach ein paar weiteren Schlägen ist die Öffnung groß genug, damit ich mich hindurchzwängen kann.

Mit meiner Taschenlampe beginne ich den Raum zu untersuchen, in dem altes Mobiliar eingelagert ist. Antike Sessel, ein alter Tisch aus massivem Eichenholz, vermutlich schon über hundert Jahre alt. Teilweise sind die Möbelstöcke mit Tüchern abgedeckt um sie vor Staub zu schützen.
Was zum Teufel hat nur das Geräusch verursacht? Habe ich mich etwa getäuscht und mir alles nur eingebildet? Wieso sollte jemand einen verlassenen Lagerraum mit Kerzen beleuchten? Ratlos sehe ich mich um und entdecke merkwürdige Tropfen auf dem steinernen Fußboden.
Ich knie mich hin und untersuche die dunklen Tropfen. Blut, stelle ich fest. Im Licht meiner Leuchte wirkt es nahezu schwarz anstelle des gewohnten Rots. Es ist noch nicht eingetrocknet, muss also noch frisch sein.
Etwas hier im Raum muss durch die Holzsplitter verletzt worden sein. Es scheint intelligent genug zu sein, sich vor mir zu verstecken.
Ich widme mich wieder dem Boden und entdecke weitere Blutspritzer. Sie führen von der Tür in die hintere Ecke des Lagerraumes, wo ein abgedeckter Sessel steht.
Leise schleiche ich den Tropfen folgend in die Ecke und greife das Tuch. Ruckartig ziehe ich es vom Sessel und zum Vorschein kommt ein Kind!

Ängstlich sieht es mich mit seinen kleinen Äuglein an und presst sich hilflos an die Wand. Es ist ein Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt. Es trägt ein weißes, altmodisches Nachthemd. Seine blonden Haare sind zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten. Es hält sich die linke Hand, die blutet.

"Was machst du denn hier unten?", frage ich und versuche irgendwie beruhigend zu klingen, damit sich das Kind beruhigt, aber es sieht mich weiter panisch an.
Was hatte ich auch erwartet, immerhin befand sich die Kleine hier an diesem gruseligen Ort und ich hatte gerade wie ein Wahnsinniger die Tür zerhackt? An ihrer Stelle hätte ich auch kein Vertrauen mir gegenüber.
Ich packe meine Axt zurück in den Rucksack und knie mich hin, damit ich mit dem Kind auf Augenhöhe sprechen kann.

"Ich will dir nichts tun. Wo sind deine Eltern?", sage ich, doch das Kind bleibt stumm und blickt mich weiter verängstigt an.

"Lass mich deine Hand sehen. Hast du dich an den Holzsplittern verletzt?"

Wieder gibt sie mir keine Antwort. Ich will nach ihrer blutigen Hand greifen, da kommt mir etwas in den Sinn. Bin ich im Begriff einen schwerwiegenden Fehler zu machen? Ist das vielleicht gar kein schüchternes Kind, sondern ein Vampir? Sie wirkt zwar absolut nicht wie so ein Ungeheuer, doch in der Ausbildung habe ich gelernt, dies erst zu verifizieren, ehe ich Kontakt aufnehmen soll. Beinahe hätte ich das nicht getan!
Also muss ich das noch kurz überprüfen. Eine reine Formalität, dann erst würde ich dem Mädchen helfen.

Das Mädchen sieht interessiert zu, wie ich in meinem Rucksack greife und einen Handspiegel hervorhole. Nun halte ich den Spiegel seitlich an sie, damit ich sie darin sehen kann.
Zu meinem Schrecken, ist sie aber nicht im Spiegelbild zu sehen!

Meine Kinnlade fällt augenblicklich nach unten. Dieses unschuldig wirkende Kind soll ein Vampir sein? Nein, das kann doch nicht sein! Ich halte den Spiegel in verschiedenen Winkeln aber ich kann das Mädchen einfach nicht darin erblicken.

"Wer hat dir das angetan?", frage ich das Mädchen. Wer könnte so herzlos sein und ein schutzloses Kind in solch eine finstere Kreatur verwandeln?

Das war sie also - meine erste Begegnung mit einem Vampir! Ich hatte mir diesen Moment schon tausende Male vorgestellt. In meinen Vorstellungen waren es aber immer furchteinflößende Monster gewesen, die es verdienten mit einem Pflock durchbohrt zu werden! Nun ist es aber ein zartes Mädchen, welches mich flehend ansieht.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einem Vampir einmal mit Mitleid entgegenbringen würde, aber so ist es.

Wenn ich jetzt so handle, wie ich es in der Ausbildung gelernt habe, dann muss ich das Vampirmädchen umgehend töten: Mit dem Kruzifix bannen, dann die Tageslichtlampe an und letztlich noch den Pflock durch ihr kleines Herz.
Bei dem Gedanken schüttelt es mich am ganzen Körper! Meine erste Vampirtötung wäre ein kleines, wehrloses Mädchen - nichts, mit dem ich groß vor den anderen Novizen prahlen müsste.

Einige Minuten sitze ich da. Auge in Auge mit dem Vampirmädchen - meinen Feind, den ich eigentlich keine Gnade entgegenbringen wollte. Das habe ich sogar geschworen! Ich sehe das Mädchen an und sie sieht mich an. Eine Träne rollt meine Wange hinab. Niemand sagt nur ein Wort.

Ich kann es nicht tun! Nein, ich werde es nicht tun!

"Ich gehe nun. Sei leise und verstecke dich weiter!", weise ich das Kind an. Dann erhebe ich mich, drehe mich zur Tür und gehe ein paar Schritte. Ich will mich gerade durch die Öffnung in der Holztür zwängen, da merke ich, wie mich etwas greift.

Es ist das Mädchen! Es packt mich kraftvoll - viel stärker als man es hätte vermuten können.

"Verschwinde, ich lasse dich doch in Ruhe!" Ich fluche und versuche das Wesen abzuschütteln, doch es lässt nicht von mir ab. Mit seinen kleinen Händen umfasst es meinen Hals. Ich verliere das Gleichgewicht und stürze zu Boden. Mein Kopf trifft auf den harten Steinboden. In mir kommt Panik auf! Ich versuche jetzt mit all meiner Kraft das Mädchen loszureißen, aber es ist stark.

Mit einem festem Faustschlag gegen ihren Kopf gelingt es mir, dass sie zumindest kurzzeitig von mir ablässt. Die junge Vampirin spuckt Blut. Ich achte darauf, dass ich nichts davon abbekomme, denn ich darf mich auf keinen Fall infizieren!
Ich schlage erneut zu. Erneut treffe ich sie.

Mir wird klar, dass ich meine Gegnerin unterschätzt habe und mein Mitleid völlig falsch war. Alleine kann ich dieses hinterhältige Biest nicht besiegen!

"HILFE!", schreie ich so laut ich kann, in der Hoffnung meine Brüder der Guards of Priwen könnten mich durch die unterirdischen Gänge hinweg hören.

Plötzlich hält sie mir ihre linke Hand vor den Mund um mich ruhig zu stellen.
Verdammt, das ist doch ihre verletzte Hand! Ich spüre wie ihr kaltes Blut in meine Mundhöhle tropft. Es schmeckt salzig und irgendwie abgestanden. Verdammt, ich darf auf keinen Fall ihr Blut herunterschlucken!

Während ich das denke, spüre ich wie sie ihre spitzen Fangzähne in meinen Hals versenkt. Es schmerzt höllisch und ich spüre wie sie mein Blut aus meinem Körper saugt. Dieses Ungeheuer labt sich an mir! Mir wird schlagartig kälter und dann passiert es - ich schlucke ihr Blut herunter.

NEIN! Wie konnte es nur soweit kommen? In meiner Verzweiflung entwickle ich ungeahnte Kräfte und schaffe es, das Mädchen von mir herunterzustoßen.

Es bleibt neben mir sitzen und stützt sich mit seinen kleinen Ärmchen ab. Sein Mund ist noch voller Blut - meinem Blut!

Wieder sitzen wir uns gegenüber und blicken uns schweigend an. Sie lächelt mir nur höhnisch entgegen. Das hinterhältige Miststück!

Ich kann es nicht glauben! Ein ganzes Jahr ertrage ich den heftigen Drill der Guards, lerne alles über unseren Feind und gleich bei meiner ersten Patrouille werde ich zu dem, was ich am meisten hasse - einem Vampir! Ich kenne mein Schicksal, ich habe es lange genug studiert: Fortan und bis in die Ewigkeit wird der unbändige Durst nach dem Blut der Menschen mein Leben bestimmen, während mein Körper innerlich mehr und mehr verfault. Nie mehr werde ich die Sonne zu Gesicht bekommen und ich werde ein Dasein in der Dunkelheit fristen!

Das wollte ich nie! Meine größte Angst ist nun wahr geworden!

Was soll ich jetzt nur tun?

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