Kapitel 12

Anscheinend war ich wohl doch irgendwann eingeschlafen, denn ich erwachte in den frühen Morgenstunden. Unausgeschlafen und schlecht gelaunt. Der Traum saß mir immer noch in den Knochen. Warum hatte meine Fantasie ausgerechnet Lucian als Monster auserkoren? Wollte mir mein Unterbewusstsein damit etwas mitteilen oder hatte meine überdrehte Fantasie Lucian mit der Bestie zusammen in einen Topf geworfen? An dem Traumanfang konnte ja nur die Sache im Wald schuld sein. Ich wurde rot bei dem Gedanken und schlug die Decke zurück. Es war zwar erst kurz nach Sonnenaufgang, aber ich würde sowieso nicht mehr schlafen können. Ich wusch mir mein Gesicht und band meine hüftlagen Haare zusammen. Wenn ich das Geld dazu gehabt hätte, hätte ich sie mir schon längst um 5 cm gekürzt. Die Länge war einfach nur lästig. Aber 1. konnte ich mir keinen Besuch beim Barbier leisten und 2. selbst wenn ich das Geld gehabt hätte, wäre meine Mutter wahrscheinlich dagegen gewesen. Ich zog mich an und verließ die Hütte so leise wie möglich. Ich wollte keine Rechenschaft darüber ablegen, wo ich hin wollte.

Wie von selber liefen meine Füße über den Boden in Richtung Wald. In den frühen Morgenstunden merkte man deutlich, dass der Winter nicht mehr so fern war. Ein dünner Nebelschleier lag über unserem Dorf und die Landschaft darum. Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen zierlichen Körper. Vielleicht hätte ich doch mein Wolltuch mitnehmen sollen. Es war doch schon empfindlich kühl. Um mich aufzuwärmen lief ich ein bisschen schneller. So langsam erwachte auch die Natur und ich hörte die ersten Vögel singen. Ich fragte mich wie früh es eigentlich war, wenn ich schon vor den ersten Vögeln draußen war. Ich betrachtete die Landschaft, die Nebelfetzten, die sich langsam verzogen und war trotz dieses schrecklichen Albtraumes zum ersten Mal seit Marys Tod wirklich glücklich.

Als ich den Wald erreichte hatte, hatte sich der Nebel verzogen und die Sonne schien warm auf mich. Da ich gerade so gut gelaunt war öffnete ich meinen Zopf und ließ meine blonden Haare offen. Ich hatte das Gefühl, sie freuten sich darüber einmal nicht von dem einzwängenden Band gehalten zu werden. Übermütig flatterten sie im Wind und wehten hinter mir her wie ein Banner. Im Wald selber stellte ich fest, dass es wohl doch keine so gute Idee gewesen war die Haare zu öffnen. Ständig verfingen sie sich im Geäst und es ziepte höllisch wenn ich versuchte sie wieder zu lösen. Doch ich war zu stur, als das ich sie wieder zusammengebunden hätte. Endlich hatte ich die Stelle erreicht, an der ich gestern mit Lucian war. Gestern hatte ich mir die Lichtung gar nicht so genau angeschaut. Jetzt fiel mir auf, wie schön es hier war. Für einen Moment erschrak ich, denn ich dachte ich würde mich auf der Wiese meines Albtraumes befinden. Doch dann sah ich, dass hier keine Blumen wuchsen, sondern lediglich das Moos mich daran erinnerte. Es war warm von der Sonne und ich setze mich hin. Ich fühlte mich wie in einem Märchenwald. Über mir sangen Vögel und die Sonne malte Kreise auf den Waldboden. Ich ließ mich nach hinten fallen und lachte. Einfach nur, weil es so schön war hier. Das Knacken eines Astes bremste aber sehr schnell meine Euphorie. Abrupt setzte ich mich auf und lauschte. Aber außer den Vogelgesang konnte ich nichts Verdächtiges hören. Doch, da! Schon wieder ein Knacksen. Inzwischen hatte ich wirklich eine Gänsehaut. Die Bestie fiel mir wieder ein. War sie auch am Tag unterwegs. Ich wollte aufstehen, war aber wie gelähmt.  Wieder ein Knacksen, diesmal begleitete von Blätter rascheln und dann schob eine Hirschkuh ihren Kopf durch die Äste. Beinahe hätte ich laut aufgelacht, aber ich wollte das Tier nicht verscheuchen. "Na, du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt." Schimpfte ich leise. Die Hirschkuh sah mich kurz interessiert an, dann drehte sie ihren Kopf wieder weg von mir und fraß weiter, als wäre ich gar nicht da. Erleichtert legte ich mich wieder hin. Ich musste bald wieder nach Hause bevor Vater und Mutter wach wurden. Ich wollte nicht erklären warum ich so früh schon unterwegs war und schon gar nicht, was ich getrieben hatte. Vorsichtig um die Hirschkuh nicht zu vertreiben stand ich auf und ging langsam aus dem Wald und in Richtung Heimat.

Unterwegs band ich meine Haare wieder zusammen, weil meine Eltern es nicht gerne sahen wenn ich sie offen trug. Sie meinten, es würde unzüchtig aussehen. Pah, ich konnte ja wohl nichts dafür, wenn Männer offene Haare als Zeichen der Willigkeit sahen. Einerseits sollte ich als Mädchen lange Haare haben, aber andererseits musste ich sie immer zusammen binden. Das war eine Sache, die ich nicht verstand und auch nie verstehen würde. Ich summte leise vor mich hin und lief beschwingt zum Dorf zurück. Es hatte gut getan früh aufzustehen und meinen Gedanken nach zu hängen. Immerhin waren sie jetzt einigermaßen geordnet.

Im Haus war es noch still. Scheinbar schliefen Mutter und Vater noch. Ich deckte den Tisch, stellte Brot und etwas Pflaumenmus auf den Tisch. Als ich Wasser dazustellen wollte fiel mir auf, dass im Krug keines mehr war. Tja, dann musste ich wohl zum Brunnen gehen und welches holen. Ich schnappte mir den leeren Wassereimer und ging zum Brunnen. Jetzt war ich doch froh, dass unser Dorf nur so klein war und der Brunnen somit bei praktisch jedem vor der Haustür. Ich ließ den Eimer hinab in die Tiefe und zog ihn wieder hinauf. "Heute sind wir aber früh auf den Beinen." Vor Schreck schnellte der Eimer zurück in die Tiefe. "Verflucht, musst du mich zu erschrecken." Fluchend und schimpfend holte ich den Eimer erneut nach oben. Lucian lachte nur. "Na,na,na, Nelly. Als Dame flucht man doch nicht so derbe." Tadelte er gespielt. Ich drehte mich um und funkelte ihn an. "Hey, ich bin ein einfaches Bauernmädchen und in einem Dorf groß geworden. Was erwartetes du was ich für eine Ausdrucksweise habe." Ich drehte mich mit dem Rücken zu Lucian und zog ächzend den Eimer nach oben. "Warte, ich helfe dir. Der Eimer ist doch viel zu schwer." Lucian wollte mir das Seil abnehmen, doch ich schubste ihn weg. "Lass mich. Ich mach das seit fast 12 Jahren. Und ich hab das immer hinbekommen." Triumphierend holte ich den Eimer aus dem Brunnen. "Siehst du. Kann das alleine." Lucian lachte und ich hätte alles dafür getan, dass er es noch einmal tat. "Ok, ich gebe mich geschlagen." Er hob in gespielter Kapitulation die Hände. "Warum bist du überhaupt hier so früh am Morgen? Hat der Herzog dich geschickt, dass du seine Dörfer kontrollierst?" fragte ich spitzer, als beabsichtigt. "Nein, eigentlich wollte ich eine junge Dame zum Picknick abholen." Ich musste wohl sehr schockiert ausgesehen haben, denn er lachte wieder. "Du müsstest dein Gesicht sehen. Das ist wirklich göttlich. Ich meine dich, Nelly." "Achso." Verlegen, dass man mich so leicht auf die Schippe nehmen konnte nahm ich meinen Eimer und trug in ins Haus. Lucian folgte mir. Vor der Haustür sagte ich zu ihm "Dann musst du dich aber meinen Eltern vorstellen und sie um Erlaubnis fragen." Er salutierte wie ein Soldat und sagte feierlich "Ich bin bereit für den Kampf." Kichernd öffnete ich die Türe. Mutter war wach. Der "Kampf" konnte also beginnen.




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