17 - Ablenkung
Diese Erinnerung ließ sie erst einmal auf den Stuhl, der neben ihr stand, fallen. Kyle tauchte nach einigen Sekunden neben ihr auf.
Sie sagten nichts und fragten auch nichts. Sie sahen sich einfach nur an. In ihnen herrschte ein großes Durcheinander. So ein Durcheinander, dass sie beide bereits Kopfschmerzen hatten. Sie mussten irgendwie ihre Gefühle ordnen, dieses Durcheinander in ihnen beseitigen und dieses große schwarze Loch in ihren Erinnerungen beseitigen.
Alice griff nach der Krone. Sie sah sie an. Sie sah noch genauso aus wie früher. Wie früher?! Wie lange war 'wie früher' her? Sie hat keine Ahnung und Kyle auch nicht. Die Krone war ein feines dünnes Gestell. Nicht so protzig und prunkvoll wie andere Kronen, die man in Fernseher und Museen sah. Sie glich mehr einem Diadem aus feinem Gold, mit silbernen Verzierungen und Edelsteinen als Schmuck. Damals hatte sie diese Krone als Magdalena getragen und Kyle war Lucian, ihr Zwillingsbruder und Mann, gewesen.
Ihr Mann! Genau das war es was sie beide so verwirrte und schockierte! Eins war klar, sie beide, Kyle und Alice liebten sich, aber nicht so wie Mann und Frau. Ihre Liebe hatte nichts sexuelles an sich. Ihre Liebe war viel mehr auf einer tiefen Verbundenheit und Zuneigung, genau wie mit grenzlosen Vertrauen und den Spaß und der Freude am Leben, aufgebaut. Dem Wissen von einer gemeinsamen Vergangenheit, Gegenwahrt und Zukunft. Das wussten sie.
Sie mussten damals so etwas Art ähnliches wie eine Zweckehe ein gegangen sein.
"Bestimmt!" stimmte Kyle ihr mit einem Nicken zu und nahm ihr die Krone aus der Hand um sie zu betrachten.
Wieder folgte Schweigen, da beide nicht so recht wussten was sie tun oder machen sollten. Kyle nahm das Päckchen in die Hand und drehte und wendete es. Nirgends stand ein Absender.
Er gab Alice die Krone zurück. "Pack sie weg, versteck sie irgendwo!" befahl er ihr.
Während sie in ihr Wohnzimmer verschwand, schnappte er sich einen Zettel und schrieb eine kurze Nachricht drauf.
Sind unterwegs, sehen uns dann später.
A. und K.
Er heftet sie an Alices Wohnungstür. "Wo wollen wir hin?" fragte Alice. Wortlos schüttelte er den Kopf. "Komm einfach mit!" sie eilte ihm hinter her, in die Garage.
Er warf ihr einen schwarzen Helm zu und setzte selbst einen auf. Dann warf er ihr noch eine schwarze Lederjacke zu.
"Draußen sind es fünfunddreißig grad, ich verzichte freiwillig!" Widersprach Alice und gab sie ihm zurück.
"Und wie warm ist es auf einen Motorrad bei zweihundert Sachen und mehr?" fragte er knapp, woraufhin sie die Jacke ihm doch wieder abnahm und anzog. "Und du?"
"Ich zieh meine an!" als er das sagte, atmete sie tief ein und erkannte sofort das es Alexandrs Lederjacke war die sie an hatte. Sein Geruch hatte sich ihr viel zu tief eingeprägt als das sie ihn je wieder vergessen würde. Er roch einfach zu gut. Die Jacke war ihr viel zu groß, aber trotzdem bequem.
Sie ging zu Kyle. "Du hast mir noch nicht mal genug Zeit gelassen, um etwas anderes anzuziehen!" beschwerte sie sich.
"Egal. Steig auf, beeil dich!" sie setzte sich hinter ihn und legte ihre Arme um seine Hüften.
"Riemchen- High Heels und Minirock, einfach perfekt zu Motorrad fahren!" der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Sie erahnte Kyles Seufzen mehr als das sie es hörte.
Anstatt wie sie erwartet hatte das Tor zu öffnen, translozierte er sie in einen Wald. Sie standen mitten in einem Nadelbaumwald auf einen schlammigen, matschigen Weg und sie spürte die Kühle des Waldes an ihren nackten Beinen. Es war hier viel kühler als in München. Instinktiv wusste sie, dass sie sich auf englischen Boden befanden.
Kyle fuhr los. Er raste regelrecht davon, sodass es für sie ein Wunder war das sie nicht mit Schlamm und Matsch bespritzt wurden. Als sie endlich auf eine Straße kamen war Alice erleichtert. Diese Erleichterung hielt jedoch nur für einen kurzen Moment an, denn erst dort merkte sie das Kyle im Wald regelrecht geschlichen war. Mit durchgedrückten Gaspedal rasten sie die Straße entlang. Kyle minderte das Tempo nicht im geringsten, egal wie kurvig oder schmal die Straße war.
Und das was er fuhr waren bestimmt nicht nur zweihundert Sachen, das waren weitaus mehr.
Verrückter! schimpfte sie in Gedanken und hörte sein Lachen. Wie viel fahren wir?
Die Anzeige geht leider nicht weiter als dreihundert! antwortete er und klang dabei wirklich bedauernd.
Sie schüttelte lachend den Kopf. Verrätst du mir nun wenigsten wohin wir fahren? fragte sie.
Ich will dir zeigen wo ich aufgewachsen bin! sagte er nach einigen Minuten als sie schon fast glaubte er antworte ihr nicht mehr. Sie spürte seine Trauer und strich ihm beruhigend über den Rücken.
Die Landschaft rauschte an ihnen vorbei und jedes Auto das Kyle auf dieser sich scheinbar ewig hinziehenden Landstraße überholte war nach wenigen Sekunden nicht mehr als ein verschwommener Fleck weithinter ihnen.
Als sie dann durch mehrere Ortschaften fuhren wurde er etwas langsamer. Irgendwann bog er dann in einen Weg hinter einem Dorf ein. Er drosselte das Tempo noch mehr. Sie spürte seine Bedrückung und versuchte ihn wortlos zu trösten. Seine Trauer war tief und noch viel zu frisch. Er hatte sich in all den Wochen nur selten Gefühle oder Gedanken an seinen Eltern gestattet. Umso schwieriger war es nun für ihn.
Alice wusste das er reden müsste, aber sie wusste auch das sie ihn dazu nicht drängen konnte. So würde sie geduldig warten bis er bereit war darüber zu sprechen.
Als er das Motorrad schließlich vor einem großen altertümlichen Gebäude, das sie stark an einem Bauernhof erinnerte, ausstellte, stieg sie ab und sah sich um.
Es gab ein großes Haus, in dem er mit seiner Familie gelebt hatte, dem gegenüber befand sich ein langgezogenes Gebäude das sie als Kuhstalle erkannte, aus dem sie das schreien einiger Kühe vernahm und dazwischen war eine riesige Garage mit Werkstatt. In der Mitte des Dreiseitenhofes befand sich eine runde umzäunte Wiese, auf der mehrere kleine Buden standen, um denen sich Enten, Hühner und Küken drängten und aufgeregte Laute von sich gaben.
Der Hof war von Pflastersteinen gesäumt zwischen den sich kein bisschen Unkraut befanden und neben den Gebäuden standen einige Autos und auch ein Traktor war zusehen. In einer Ecke sah sie einen Schrotthaufen der aus allen möglichen bestand. Eine zerstörte Schubkarre, mehrere eingeschlagene Fenster, kaputte Schaufeln und Gabeln, sowie Besen.
Einige Bauarbeiter die, die Fassade neu anstrichen blickten sie neugierig an und einige Pfiffen als sie Alice den Helm abnehmen sahen. Sie bedachte sie nicht.
In Kyles Erinnerung sah sie den komplett zerstörten Hof, die zerschlagenen Fenster, die niedergerissenen Gebäude. Alles, sie sah einfach alles. Und sie spürte den Schmerz bei dieser Erinnerung. Das waren die Vampyre gewesen. Sie hatten das Leben und die Heimat ihres Bruders zerstört, was der Grund dafür war, das sie ihn kennen gelernt hatte. Und auch Alexandr.
Auch wenn sie dankbar dafür war, dass die sich begegnet sind, wäre es ihr lieber gewesen, wenn Kyle dafür nicht diesen Preis hätte zahlen müssen.
Wenn sie Traver oder diese Seoni oder irgendeinen anderen der Vampyre sah, würde sie nicht wieder dumm rumstehen oder warten. Denen würde das Blut gefrieren, wenn sie ihr begegneten. Dafür würde sie, Alice, sorgen.
Sie fühlte die gleiche rasenden Wut und dann war nicht sie es die Kyle tröstete, sondern er tröstete sie, in dem er ihr den Arm um die Schultern legte und sie mit sich zog. Erst jetzt bemerkte sie die Tränen in ihren Augen und blinzelte sie weg.
"Alexandr hat alles wieder in Stand setzten lassen und auch Leute angestellt, die die anfallenden Arbeiten verrichten!"
Er reichte ihr die Hand und sie nahm sie. Wortlos führte er sie durch die Garage, die sie von innen mehr an eine Halle erinnerte, da mehrere verschiedenen Traktoren wie auch Maschinen und ein Jeep darin standen und immer noch genügend Platz für weitere Fahrzeuge bot.
Er ging mit ihr nach draußen, hinter die Garage. Über eine Wiese mit saftigen fetten Gras, einigen Blumen und Bäumen.
Vor ihnen tat sich ein großer Wald auf, auf den Kyle mit ihr drauf zusteuerte. "Komm!" sagte er als sie zögerte.
Sie ging mit ihm, folgte ihm in den Wald rein. Er wusste genau wo er hin wollte und als sie das Wasser füllte, wie es plötzlich da war, wusste sie auch wo er hin wollte.
Leichtfüßig sprang sie über herumliegende Äste und Heidelbeersträuchern. Sie wollte gerade wieder spring als Kyle im letzten Moment ihre Arme packte, nun hing sie mitten in der Luft. Als sie nach unten sah klammerte sie sich an Kyles Armen fest. Unter ihr war zehn Meter nichts mehr, am Boden sah sie Geröll um das herum Wasser floss.
Kyle stellte sie wieder auf den Stein. "Danke!" sagte sie und trat einen Schritt zurück.
Er nickte nur, bevor er nach kurzen schweigen sagte: "Bring mir bei wie du das mit den Wasser hin kriegst!"
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