XXXVIII
Endlich setzt die Angst ein; greift mit ihren unzerstörbaren Klauen nach mir und lässt mein Herz in meiner Brust rasen. Ich empfange sie wie einen alten Freund.
Arkyn packt meine Handgelenke und zieht mich so schwungvoll auf die Beine, dass ich gegen ihn falle. „Wir hauen ab. Sofort."
„Und wie willst du das tun? Das wäre reiner Selbstmord und außerdem ..."
„Wieso?", unterbricht er mich und ich schließe den Mund. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass es das Beste ist, in brenzligen Situationen auf Arkyn zu vertrauen.
„Wenn wir jetzt sofort fliehen, haben wir einen Vorsprung. Sie werden erst morgen Früh bemerken, dass wir weg sind. Ich habe die Karten und ein paar gute Messer in meinem Zimmer."
Ich kann nicht fassen, dass er seine Meinung innerhalb weniger Sekunden ändern kann, doch der Gedanke, gemeinsam mit ihm frei zu sein, lässt mein Herz freudig hüpfen.
Als ich nicke, schleicht sich ein Lächeln auf seine Lippen. Dann lässt er mich los, als hätte er sich verbrannt. Einen Wimpernschlag später steht er schon vor der geöffneten Tür.
„Zieh dir etwas Warmes an und nimm das Notizbuch mit. Wir treffen uns in fünf Minuten in der Eingangshalle."
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Es ist tiefe Nacht, als wir das Anwesen verlassen. Arkyn hat den Kompass dabei und ein Wurfmesser an seinem Gürtel befestigt, während ich die Karte in meine hintere Hosentasche gestopft habe und eine Packung Streichhölzer in die andere. Auch mir hat er ein Messer anvertraut. Kurz haben wir überlegt, alle unsere Pläne vom Schattenwald mitzunehmen, damit die Gestaltenwandler uns nicht folgen können, aber dann hat sich Arkyn erinnert, dass die Königin einen davon in ihrem Zimmer hat und die Mühe umsonst wäre. Wenn sie unser Verschwinden bemerken, können wir nur hoffen, dass die zwölf Göttinnen auf unserer Seite stehen.
In der Dunkelheit der Nacht verbergen wir uns auf den Stufen zum Anwesen und sehen dem Licht zu, das in naher Ferne auf und ab wandert. Es ist Rancor, der vor dem Tor patrouilliert. „Dein Auftritt", zischt Arkyn mir zu und ich löse mich aus dem sicheren Schatten. Ein Brennen durchfährt meine Eingeweide, als ich die Gestalt einer Katze annehme und zu einem der Gedenksteine husche. Das Gras fühlt sich feucht und kalt unter meinen Pfoten an und ich warte kurz, bis sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt haben und ich die Umgebung messerscharf wahrnehme. Als ich an dem letzten Gedenkstein am unteren Ende des Kieswegs angekommen bin, lasse ich die Tiergestalt fallen und nehme wieder meine eigene an.
Ein zweites Mal an diesem Abend umklammere ich das Stuhlbein, schwinge es in der Hand und hole aus. Es knallt gegen den Hinterkopf des alten Wächters. Ein überraschter Seufzer folgt, dann sinkt er zu Boden wie ein Sack Mehl. Arkyn huscht lautlos über den Kiesweg und trifft neben mir ein. Schweigend bücken wir uns über Rancors Schatten.
„Wenn wir hundert Prozent sicher sein wollen, müssen wir ihn töten, Clarice", meint Arkyn mit belegter Stimme, aber ich schüttle den Kopf.
„Wir können sowieso nicht hundert Prozent sicher sein. Lassen wir ihn einfach liegen und hauen ab", flehe ich und Arkyn stimmt seufzend zu. Während er sich bückt und Rancor den Schlüsselbund und die Laterne abnimmt, lasse ich angewidert das Sesselbein fallen. An ihm klebt das Blut von zwei Menschen.
Der modrige Geruch des Waldes tritt mir in die Nase, als das Tor quietschend zur Seite schwingt. Ich atme tief ein, denn am Ende wartet die Freiheit auf uns. Auf mich und Arkyn.
„Auf dass wir einen Weg finden", flüstert er mir zu.
„Auf dass wir einen Weg finden", wiederhole ich.
Und dann treten wir zum letzten Mal hinaus in den Schattenwald.
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Es ist stockfinster, die bläulichen Strahlen des Mondes werden durch das dichte Blätterdach abgeschirmt und die einzige Lichtquelle, die wir haben, ist Rancors Laterne, die einen schummrigen Schein um uns legt. Ich fühle mich zurückversetzt an meinen sechzehnten Geburtstag und damit den Tag, an dem ich das erste Mal in meinem Leben den Schattenwald betreten habe. Die vollständige Karte erscheint mit plötzlich nutzlos. Wäre es nicht viel schlauer, einfach loszulaufen? Meine Beine haben mich schon einmal zum sicheren Ziel getragen; wieso können sie es nicht ein zweites Mal tun?
Aber Arkyn behält die Nerven für uns beide. Er drückt mir die Laterne in die Hand und im nächsten Moment hat er seine Finger in meine hintere Hosentasche geschoben, um die Karte hervorzuziehen.
„Arkyn!", zische ich und er lacht leise, als er das Papier auseinanderfaltet und in den Lichtschein hält. Ich kann nicht fassen, wie schnell er entschieden hat, mit mir zu fliehen. Ich erinnere mich an die Worte, die Panduk vor vielen Wochen an ihn gerichtet hat.
Du würdest wirklich alles tun, um zu überleben.
Die wirkliche Bedeutung des Satzes scheint erst jetzt Sinn zu ergeben und der Gedanke lässt ein mulmiges Gefühl in mir aufkeimen. Zuerst wollte er die anderen Gestaltenwandler nicht verraten und jetzt tut er genau das; nach einer Überlegung von wenigen Minuten steht für ihn fest, sein eigenes Leben zu retten. Ich ärgere mich, dass es mich beschäftigt, was in Arkyn vorgeht. Die Gestaltenwandler würden uns beide töten; an seiner Stelle würde ich doch dasselbe tun oder nicht? Ich tue es gerade, schießt es mir durch den Kopf, als ich an Xanthio, Janae und Magretta denke.
Ich verdränge diese verwirrenden Überlegungen und betrachte stattdessen Arkyns Profil und den konzentrierten Blick, mit dem er die Karte mustert und sich ein letztes Mal den Weg einprägt. Was wird passieren, wenn wir es aus diesem verdammten Wald schaffen? Zwei Gestaltenwandler in einer Welt, die uns hasst. Ich muss alles geben, um Königin Charis zu überzeugen, unsere beiden Leben zu verschonen.
Arkyn faltet die Karte zusammen und als er den Kopf hebt, versinke ich in seinen dunklen Augen, die im schummrigen Licht der Laterne funkeln.
„Können wir los?", fragt er und auf mein Nicken hin legt er ein flottes Tempo vor.
Meine Gedanken schwirren laut durch meinen Kopf und mischen sich mit dem Knacken der Äste unter unseren Füßen. Als der Boden uneben wird, schaukelt die Laterne in meiner Hand hin und her wie ein betrunkenes Irrlicht.
Bis wir den moosbedeckten Felsen, unseren ersten Stützpunkt erreichen, verläuft alles problemlos und nicht so, als wären wir mitten in der Nacht auf eigene Faust unterwegs. Keine Schattenwesen, keine Gestaltenwandler, die uns auf der Spur sind, und keine Orientierungsschwierigkeiten.
Wir halten kurz an, um zu verschnaufen, und warten, dass sich unsere rasenden Herzen beruhigen. Wir tun es tatsächlich, denke ich und als ich den Kopf hebe, blicke ich in Arkyns gefasstes Gesicht.
„Wie kannst du so ruhig bleiben?", entfährt es mir und meine Stimme zittert leicht.
„Was soll ich sonst tun? Schreiend davonlaufen etwa?", zischt er und mein Herz zieht in meiner Brust. Nimm einfach meine Hand und sag mir, dass alles gut wird, will ich ihn anschreien, aber in dem Moment höre ich es.
Es scheint von weit weg zu kommen und erklingt nur dumpf in der Ferne, aber als ich Arkyns erschrockenen Blick sehe, wird mir klar, dass es nicht nur Einbildung ist oder meine Paranoia, die mir einen Streich spielt. Man könnte meinen, es sind die Rufe von tödlichen Kreaturen im Wald, aber wir wissen es besser.
Es ist Rancor, der Alarm schlägt. Und bald wird uns die Meute der Gestaltenwandler, die uns von einen Tag auf den nächsten tot sehen will, auf der Spur sein. Wie leicht es ging, von geschätzten Mitgliedern des Dunklen Rates zu Verrätern zu werden. Wirklich ein Kinderspiel.
„Wir hätten dem alten Trottel die verdammte Kehle durchschneiden sollen", faucht Arkyn wütend und packt mich an der Hand. Ich folge ihm stolpernd.
„Wie viele werden es sein?", keuche ich und befreie mich aus seinem festen Griff. Laufen kann ich auch alleine.
„Wahrscheinlich die Mitglieder des Rates und ein paar Jäger", schnauft Arkyn und die Laterne flackert hin und her. Wenn wir in dem Tempo weiterrennen, wird das Licht irgendwann erlöschen. Und wenn nicht, dann wird es uns an unsere Verfolger verraten.
Den Weg zum nächsten Stützpunkt legen wir laufend zurück, die Rufe der Gestaltenwandler im Rücken und die ungewisse Zukunft vor uns. Einige Male stolpere ich über armdicke Wurzeln, die aus dem Boden ragen, und ich kann von Glück sprechen, dass keine Greifklaue dabei ist, die mich unter die Erde reißen will.
Bis zu dem Zeitpunkt, als eine schaurig singende Todträgerin unseren Weg quert, scheinen die zwölf Göttinnen auf unserer Seite zu sein. Dieses Mal bin ich es, die schnell reagiert. Ich ziehe die Streichhölzer aus meiner Hosentasche, entzünde eines und werfe es Richtung Todträgerin. Grässliches Geschrei ertönt, dann ein Knall und im nächsten Moment umgibt uns schwarzer Rauch, den wir jedoch kaum von der gewöhnlichen Dunkelheit unterscheiden können.
„Wir müssen weiter", meint Arkyn sofort und ich folge ihm schweigend. Nur zu gut weiß ich, dass die Gestaltenwandler den Schrei der Todträgerin gehört haben werden.
Weiter, immer weiter, denke ich und lasse mich von meinen Füßen tragen. Berstende Äste knirschen unter unseren Füßen und keuchender Atem hängt in der Luft. Es könnte immer so weiter gehen, immer weiter, immer weiter. Der Schein unseres Lichts flackert gefährlich, aber wir brauchen es. Dunkelheit und Bäume verschmelzen miteinander und werden zu einer schwarzen Masse. Äste kratzen über meinen Arm, die Umgebung zieht an uns vorbei wie ein Alptraum, aus dem man nicht erwachen kann.
Auf einmal bricht die Monotonie. Ich sehe zu, wie Arkyns Fuß sich an einer Wurzel verhakt und er in Zeitlupe zu Boden taumelt. Ein Krachen, lauter als zorniger Donner, zerreißt die Luft, lässt den Boden vibrieren und wirft auch mich auf die Knie. Mein verdatterter Blick gleitet zu Arkyn. Er hat die Augen unnatürlich weit aufgerissen, das Weiße darin blitzt in der Dunkelheit.
„Greifklaue", brüllen wir im selben Moment, springen auf und versuchen, den jeweils anderen von der tödlichen Gefahr wegzuzerren. Ich wage einen Blick über die Schulter, wo sich eine riesige Greifklaue aufbäumt. Obwohl Arkyn die Laterne von sich geworfen hat und das Licht erloschen ist, erkenne ich die fünf Fangarme des unterirdischen Monsters. Sie zucken erregt, greifen in unsere Richtung und im gleichen Augenblick, in dem das Ungetüm nach vorne stürmt, werfen Arkyn und ich uns erneut zu Boden. Als mein Brustkorb auf die Erde kracht, bleibt mir beinahe die Luft weg. Meine Lungen rasseln.
Die Greifklaue schießt nach vorne und bohrt sich nur wenige Schritte von uns entfernt in den harten Boden. Erde und Moos stieben auf und fliegen durch die Luft. Ich bekomme eine Ladung davon ins Gesicht. Trotzdem lasse ich mich nicht ablenken, denn die Greifklaue holt bereits zum nächsten Schlag aus, türmt sich über uns auf und fährt mit Mordsgeschwindigkeit wieder herab. In letzter Sekunde rolle ich mich auf die andere Seite und werde einige Zentimeter in die Höhe geschleudert, als die Klaue neben mir in den Boden einschlägt.
Benommen kämpfe ich mich wieder auf die Beine und helfe Arkyn hoch, der auf der anderen Seite liegt. „Sie hat mich an den Beinen erwischt", brüllt er, während ich ihn hochziehe und von der Greifklaue wegzerre. Einfach nur weg.
Ein letztes Mal kracht das Ungetüm hinter uns zu Boden, lässt den Boden erschüttern, aber wir haben uns bereits zu weit entfernt, als dass es uns noch erwischen könnte. Arkyn lässt sich ächzend auf den Boden sinken, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. Seine Hosenbeine sind zerfetzt und ich reiße sie mit einem ratsch ab. Darunter kommen seine Beine zum Vorschein, die mit roten, blutenden Striemen überzogen sind. „Ein Fangarm hat mich erwischt", quetscht er hervor.
„Kannst du laufen?", frage ich gehetzt, aus Angst, die Greifklaue könnte uns noch einmal angreifen. Ich helfe Arkyn auf die Beine. Er hält sich tapfer, beißt die Zähne zusammen und lässt sich seine Schmerzen nicht anmerken. Wir kämpfen uns weiter, die Geräusche der Gestaltenwandler, die immer näher zu kommen scheinen, versuchen wir auszublenden.
Doch als wir den zweiten Stützpunkt erreichen, sinkt Arkyn stöhnend neben dem umgefallenen Baum zu Boden. „Das hat keinen Zweck", meint er und wischt sich den Schweißfilm von der Stirn.
„Wir müssen weiter", flehe ich verzweifelt. „Gib nicht auf, bitte!"
„Clarice, ich werde nicht aufgeben", beruhigt er mich, „Aber du musst mich tragen. So weit du kannst, sonst haben wir keine Chance."
Kurz weiß ich nicht, was er andeutet, dann dämmert es mir.
„Kannst du dich alleine auf meinen Rücken ziehen?", frage ich ihn und er nickt mit blassem Gesicht, die Stirn vor lauter Sorge in Falten gelegt. Vor Angst wird mir ganz übel.
Trotzdem schließe ich die Augen, versuche zur Ruhe zu kommen und mich zu konzentrieren.
Ein brennender Schmerz schießt durch meine Eingeweide und im nächsten Moment bin ich wieder der dunkle Rappe, der Arkyn schon einmal das Leben gerettet hat.
Ich sinke auf die Knie, Arkyn zieht sich schnaufend auf meinen Rücken und vergräbt die Finger in meiner dichten Mähne. Dann trabe ich los. Ich spüre, dass Arkyns Kräfte nachlassen und er sich nur mit den Armen halten kann, aber trotzdem behalte ich mein Tempo bei. Ich könnte viel schneller laufen, wenn es doch nur nicht so verdammt finster wäre. Außerdem schwinden meine Kräfte rasend schnell.
Ich beiße die Zähne zusammen, versuche meine Gedanken nur auf das Pferd zu richten und die Gestalt zu verinnerlichen. Die im Wind wehende Mähne, die sich blähenden Nüstern und das Gefühl der Freiheit, während ich meine Hufe über Gestrüpp und Äste fliegen lasse.
Ein paar Mal verwandle ich mich im Sprung beinahe zurück, doch mit Müh und Not schaffe ich es, in Gestalt des Rappens zu bleiben. Es kostet mich unglaublich viel Energie und meine Eingeweide brennen wie züngelnde Flammen in mir. Reiß dich zusammen, denke ich, reiß dich zusammen und tu es für Arkyn.
Sein Name gibt mir Kraft und ich kämpfe mich weiter durchs Unterholz.
Als wir den kleinen See erreichen, weiß ich, dass ich nicht länger kann. Ich bremse abrupt ab, sodass Arkyn fast über meinen Kopf zu Boden geschleudert wird. Er kann sich gerade noch halten, rutscht dann aber seitlich von meinem glänzenden Fell herab.
Im nächsten Moment lasse ich los und stehe in meiner ursprünglichen Gestalt vor ihm. Schwer keuchend, in Schweiß gebadet und vollkommen erschöpft. Ich sinke zu Boden, versuche das Brennen in meinen Innereien zu stoppen, indem ich mich möglichst wenig bewege. Arkyn, der sich neben mir auf die harte Erde fallen lässt, atmet schwer und seine Beine zittern vor Schmerz.
„Wie geht dir?", frage ich überflüssigerweise, „Wir haben noch ein ganz schönes Stück vor uns."
„Ich werd's überleben. Wir müssen sofort weiter und unseren Vorsprung nutzen."
Er spricht den Satz nicht fertig aus, aber ich weiß, was er meint. Jetzt, wo wir einen Vorsprung haben, haben wir eine Chance.
Ich krame die Karte aus der Hosentasche und entzünde ein Streichholz, das ich dicht über das raue Papier halte. Ab dem kleinen See kennen wir den Schattenwald weniger gut und es wäre ein überaus dämlicher Fehler, sich zu verlaufen.
Arkyn robbt über den schlammigen Boden ans Ufer des Sees. Am liebsten würde ich ihn packen und zurückzerren, aber selbst dazu fehlt mir die Kraft.
Die ruhige Wasseroberfläche teilt sich, als er seine Hand hineinhält und ein paar Schlucke nimmt. „Pass bloß auf!", rufe ich, aber er trinkt bereits gierig.
„Die Nebelfrau ist tot", erinnert er mich, aber ich traue der Sache nicht.
„Bitte, lass uns einfach weitergehen", flehe ich und reiche ihm meine Hand, um ihn auf die Beine zu ziehen. Er lehnt meine Hilfe ab und steht selbständig auf, aber ich sehe den Schmerz in seinen Augen und an seinem verzogenen Gesichtsausdruck.
Wir machen uns wieder auf den Weg; kommen allerdings nur langsam voran und müssen alle paar Minuten eine Verschnaufpause einlegen. Mein gesamter Körper schmerzt, es fühlt sich an, als hätte man mir die Organe bei lebendigem Leib herausgerissen, aber ich beschwere mich nicht. Arkyns Schmerzen sind bestimmt noch größer als meine.
Die blutrünstige Meute der Gestaltenwandler hören wir nicht mehr, aber das mulmige Gefühl in meiner Magengegend sagt mir, dass unser Vorsprung von Minute zu Minute schrumpft.
Arkyn und ich huschen von Baum zu Baum, verschmelzen mit den Schatten und geben keinen Mucks von uns. Einen weiteren Angriff eines Schattenwesens würden wir nicht überleben. Weil wir die Lampe verloren haben, bin ich erleichtert, dass sich das Blätterdach inzwischen so weit lichtet, dass ein wenig Mondlicht hindurchsickert und mir erlaubt, die Karte halbwegs zu lesen.
„Pause", keucht Arkyn wieder und lässt sich an einem Baumstamm herabsinken. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, während wir uns keinen Meter weiterbewegen, wächst meine innere Unruhe. „Arkyn, wir müssen weiter, bitte!", flehe ich und ziehe ihn hoch. Er hat die Augen geschlossen, die Lippen stehe einen Spalt offen. Sein Atem geht flach und die Sorge frisst mich innerlich auf. „Bitte, halt durch! Vielleicht kann ich mich noch ein letztes Mal verwandeln."
Arkyn öffnet die Augen und auch wenn es dunkel ist, kann ich seinen entschlossenen Blick auf mir spüren. „Nein, gehen wir."
Sobald wir uns in Bewegung gesetzt haben, vernehme ich in weiter Entfernung wieder die Geräusche, die die Gestaltenwandler von sich geben. Den Schreien nach zu urteilen, bleiben auch sie nicht von den Bestien, die im Wald lauern, verschont. Tötet sie, denke ich, tötet sie alle. Ich erschrecke mich über meine eigenen, grausamen Gedanken, aber der Schattenwald macht vor niemandem Halt. Er verändert uns alle.
„Clarice, hörst du das auch?", flüstert Arkyn und ich halte inne.
Tatsächlich vernehme ich den Gesang einer Todträgerin in unmittelbarer Nähe. Einen Atemzug später nehme ich auch die Konturen der Schattenkreatur wahr. Sie lehnt lässig an einem Baum, gräbt ihre Krallen in die Rinde und singt so laut, dass es sich anfühlt, als müsse mein Gehirn jeden Augenblick explodieren. Meine Finger gleiten zu meiner hinteren Hosentasche und mein Herz setzt aus, als ich die vertrauten Kanten der Streichholzschachtel nicht spüre. Mist. Mist. Mist.
„Ich hab' die Streichhölzer verloren", brülle ich und packe Arkyns Hand. Weiter, immer weiter. Er scheint verstanden zu haben, denn gemeinsam rasen wir los, stolpern und fangen uns wieder. Bitte nicht. Bitte nicht. Der Gesang der Todträgerin erfüllt die Luft, lässt sie klirren und vibrieren. Bitte nicht so. So will ich nicht sterben. Arkyn fällt über eine Wurzel und ich ziehe in schreiend auf die Beine. Meine eigene Stimme geht in dem Gekreische der Schattenfrau unter. Weiter, immer weiter. Wir laufen längst nicht mehr, sondern taumeln nur noch voran; nicht bereit, dem Tod ins Auge zu sehen, auch wenn er so laut für uns singt.
Plötzlich krache ich gegen eine harte, raue Oberfläche. Mein Blick gleitet nach oben, wo sich gewaltige Äste nach uns ausstrecken, als würden sie uns umarmen wollen oder doch packen.
„Der Riesenbaum", zischt mir Arkyn zu und Tränen brennen mich in den Augen. Wie weit wir doch gekommen sind. Vom Baum aus wären es nur noch wenige Minuten bis zum Tor.
Eine Gänsehaut kriecht mir die Arme hinauf. Arkyn und ich pressen uns gegen die Rinde des Baumes und warten auf unser Ende. Die Todträgerin ist nur noch wenige Meter von uns entfernt; jeder Schritt verkleinert den Abstand.
Ein Knacksen im Gebüsch ertönt und bricht den Bann für wenige Sekunden. Das Sirren eines Brandpfeiles zerreißt die Luft, im nächsten Moment geht die Todträgerin in Flammen auf und der laute Knall, der ertönt, lässt mich und Arkyn zu Boden fallen.
Zahlreiche Fackeln entflammen, eine nach der anderen. Weil der Gesang der Todträgerin verstummt ist, vernehme ich nun ihr Atmen; das Atmen einer blutrünstigen Meute.
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