XXXIX
Einer nach dem anderen tritt aus dem Schatten; manche tragen Fackeln, die Präsenz anderer kann ich nur ihrem keuchenden Atem nach erahnen. Sie erinnern mich an Raubkatzen, die ihre Beute umzingeln und warten, bis sie im richtigen Moment zuschlagen. In ihren Händen tragen sie alle Waffen. Messer, Pfeil und Bogen, Speere. Ich ziehe Arkyn auf die Beine und zücke mein Messer. Kampflos werde ich nicht sterben, das schwöre ich bei allen zwölf Göttinnen.
„Waffen fallenlassen oder ihr seid tot, bevor ihr auch nur Schattenwald sagen könnt", ertönt eine eiskalte Stimme, die die Stille durchschneidet wie eine messerscharfe Klinge.
Arkyn zieht seine Messer aus dem Gürtel und lässt sie auf den Boden fallen. Ich mache es ihm nach. Erst als wir uns unserer Waffen entledigt haben, tritt Zinariya aus dem Schatten ins schummrige Fackellicht.
„Königin Zinariya ...", entfährt es mir und ich greife nach Arkyns kühler Hand.
„Du nennst mich noch deine Königin?", faucht sie und aus ihren Augen schießen Zornespfeile. Sie trägt kein weites Kleid wie üblich, sondern schwere Stiefel, eine dunkle Hose und lederne Handschuhe. Um ihre Schultern liegt ein grauer Pelz und ihr rabenschwarzes Haar hat sie im Nacken zusammengeknotet. Sie ist keine Königin mehr, sondern eine Kriegerin. Eine Kriegerin, die bereit ist, Verräter auf der Stelle zu töten.
„Clarice Ovun", haucht sie und zückt ein Messer, das sie an einem Gürtel befestigt hat. Eingänglich betrachtet sie die blitzende Klinge genauer, bevor sie fortfährt: „Erzähl mir deine Geschichte."
Sie schwingt das Messer, lässt es durch ihre Finger gleiten und spielt damit. Die anderen Gestaltenwandler nähern sich unaufhörlich. Schritt für Schritt ziehen sie einen unüberwindbaren Kreis um uns. Ihre Augen blitzen in der Dunkelheit wie schwarze Diamanten. Ich hole tief Luft und suche meine Stimme. Weil Zinariya jede Lüge entlarven würde, entscheide ich mich für die Wahrheit.
„An meinem sechzehnten Geburtstag rief mich Königin Charis ins Schloss. Ich erfuhr, dass ich in einer ihrer Visionen vorkam. Duniya droht Gefahr und ich soll diejenige sein, die unser Land retten kann. Vor den Gestaltenwandler, vor ... euch", berichte ich und meine Stimme überschlägt sich beinahe, „Doch dann stellte sich an meinem Tag der Enthüllung heraus, dass ich eine Gestaltenwandlern bin. Königin Charis wollte mir noch eine Chance geben und versprach mir, dass ich frei leben dürfte, wenn ich ihr Informationen über die Fluchtpläne der Gestaltenwandler besorge."
Im Fackelschein erkenne ich gefletschte Zähne und wutverzerrte Mienen; nur Zinariya scheint nicht sonderlich überrascht zu sein oder es zumindest nicht zu zeigen.
„Du dummes Mädchen", lacht sie leise und eine Gänsehaut jagt mir über die Arme, „Du dummes, dummes Mädchen. Meine Schwester hat dich ausgestoßen, wie mein Vater einst mich ausstieß. Und du bleibst ihr trotzdem treu? Bei uns hättest du groß werden können, mit uns hättest du groß werden können."
„Mein Ziel war nie Macht und Größe", zische ich und spucke auf den Boden.
„Welche Verschwendung von Potenzial", faucht Zinariya und ich wage es nicht, ihrem Blick auszuweichen, „Deine Dummheit kostet dich das Leben, kleine Verräterin."
Sie festigt den Griff um ihr Messer, die Klinge funkelt ihm bläulichen Mondlicht, als sie einen großen Schritt auf mich zumacht. Auf einmal packt mich ein Gestaltenwandler von hinten und zerrt mich weg von Arkyn, der von einem anderen in die Mangel genommen wird.
Königin Zinariya zieht mich an sich, legt mir die kühle Klinge an den Hals. Ich muss an den Tag im Schattenwald denken, als Arkyn und ich beinahe von der Hayiki getötet wurden. Ich schließe die Augen.
„Nein!", brüllt Arkyn plötzlich, „Tötet sie nicht, Königin Zinariya! Sie wird Euch und den anderen Gestaltenwandlern die Freiheit erlangen. Ihre Kräfte sind so stark, dass sie sich in jedes beliebige Tier verwandeln kann."
Zinariya hält kurz inne, dann stößt sie mich von sich wie ein ekliges Ungeziefer. Ich falle auf den Boden und schnappe erschrocken nach Luft.
„Ist das wahr? Beweise es!", befiehlt sie.
Mein Herz rast in meiner Brust. Ich bin zu schwach, um mich auch nur in eine Maus zu verwandeln, doch bevor ich mich wehren kann, verlangt Königin Zinariya ein zweites Mal: „Beweise es!"
Ein Eichhörnchen, schießt es mir durch den Kopf. Das erste Tier, in das ich mich je verwandelt habe. Vielleicht auch das Letzte.
Ich schließe die Augen, versuche mich zu konzentrieren. Die Blicke der anderen liegen auf mir, ich fühle mich wie eine Zirkusattraktion. Es wird nicht klappen, schießt es mir durch den Kopf, und beinahe bete ich, dass ich Recht behalte. Doch da erfasst mich auch schon das typische Brennen in den Eingeweiden, diesmal stärker denn je, und ich weiß, dass es mir gelungen ist. Ich schrumpfe auf Eichhörnchengröße, höre mein kleines Herz in meiner Brust rasen und lasse im nächsten Moment die Verwandlung auch schon wieder fallen. Trotzdem hat Zinariya gesehen, wozu ich im Stande bin. Die Überraschung ist ihr nicht anzusehen, aber die anderen Gestaltenwandler starren mich an, als wäre ich die Sonnengöttin Hiru höchstpersönlich.
„Dann hätten wir das geklärt", sagt Königin Zinariya kalt und ich erhebe mich umständlich, „Clarice, deine Aufgabe als Retterin wird sich tatsächlich erfüllen. Du wirst uns alle retten."
„Ich werde überhaupt nichts tun", zische ich und der Blick der Königin scheint mich einzufrieren.
„Es ist einfacher, als du denkst", faucht sie und ihre Stimme lässt keinen Widerspruch zu, „Du wirst jetzt zum Tor gehen und in Tiergestalt die Mauer überqueren. Dann wirst du die beiden Wachen niederstrecken und uns das Tor öffnen, denn wenn du dies aus freiem Willen tust, können wir tatsächlich hinaus." Sie spricht mit mir, als wäre ich ein Kleinkind, aber ihr kluger Plan wird nicht funktionieren. Nicht mit mir.
„Nein."
Ihre eisblauen Augen sprühen Funken. „Was heißt nein, du verräterischer Abschaum? Möchtest du lieber meine Klinge zu spüren bekommen? Ich verspreche dir, es wird ein langer und grausamer Tod."
Meine Hände zittern wie Laub im Wind und mein Herz rast, aber meine Entscheidung steht fest. Nein. Nein. Nein.
„Ich würde lieber sterben, als euch die Freiheit zu schenken. Und sei es ein langer und grausamer Tod."
Ein Raunen geht durch die Runde, der Kreis um mich und Arkyn wird enger und Zinariya scheint vor Wut überzukochen. Arkyn flüstert meinen Namen, aber ich verbiete mir, ihn anzusehen. Zinariyas zornessprühender Blick flattert zwischen Arkyn und mir hin und her, im nächsten Moment macht sie einen Satz nach vorne und packt ihn an den Haaren. Sie drückt ihn auf die Knie und reißt dann seinen Kopf zurück, um ihm die Klinge ihres Messers an den Hals zu pressen. Seine Haut schimmert blass und verletzlich im Mondlicht.
„Wie du willst, Mädchen", faucht Zinariya, „Wenn dir dein Leben nichts wert ist, muss ich wohl ihn töten. Dann kannst du seinen langen und grausamen Tod selbst miterleben."
Arkyn keucht auf, als sie das Messer über seinen Hals wandern lässt und auf die empfindliche Haut presst. Schon läuft ein Rinnsal Blut über die blitzsaubere Klinge und seinen Hals hinunter, wo es im Kragen seines Pullovers versickert.
„Verrate mir eins: Warst du es, die Arkyn um den Finger gewickelt hat, um in den Dunklen Rat zu gelangen, oder er, der dich durchschaut hat und für sich gewinnen wollte, um seine eigene Freiheit zu erlangen?", wispert sie und ich versuche ihre Worte nicht in mein Herz zu lassen. Nichts von beidem ist wahr. Die Menge bleibt still und wartet auf meine Antwort. Eine Antwort, die sie nie bekommen wird.
Zinariya seufzt und richtet ein weiteres Mal ihre Worte an mich. „Anscheinend hältst du es nicht für notwendig, zu antworten, wenn dir eine Frage gestellt wird, aber ich verzeihe es dir. Die Klinge an seinem Hals ist beängstigend, nicht?"
Sie drückt noch ein bisschen fester nieder und Arkyn keucht auf.
„Du hast die Wahl, Clarice", flüstert Zinariya und auf einmal ist ihre Stimme so weich und zart wie die ihrer Schwester, „Rette deinen Freund und schenk uns die Freiheit oder sieh zu, wie er stirbt."
Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren, während ihre Worte durch meinen Kopf hallen, ineinander verschwimmen und immer lauter werden. Arkyn oder meine Freiheit. Der Untergang Duniyas oder meine Freiheit. Das triumphierende Glitzern in Zinariyas eisblauen Augen lässt die Wut in mir brodeln wie die Flammen eines unbarmherzigen Feuers. Ich löse meinen Blick von ihrem Gesicht und lasse ihn zu Arkyn gleiten, der mich stumm betrachtet. Die Lippen leicht geöffnet, das Gesicht schmerzverzogen und die Haare in die Stirn hängend.
Auch wenn mein Kopf sich wehrt, hat mein Herz längst eine Entscheidung getroffen.
Ich brauche die Worte nicht einmal aussprechen, denn Zinariya hat es längst in meinem Blick erkannt. Leise lachend nimmt sie die Klinge von Arkyns Hals und stößt ihn von sich.
Ein langer, blutiger Kratzer zieht sich über seine blasse Haut und ich falle vor ihm auf die Knie.
„Nein", haucht er und in seinen Augen spiegelt sich Angst, so gewaltig, dass sie Duniya zerstören könnte, „Wieso tust du das? Nein, nein, nein."
Seine Stimme verliert sich und ich spüre salzige Tränen über meine Wangen laufen. Einen Moment lang dreht sich die Welt wieder nur um uns zwei. Moosgrün in onyxbraun.
Dann werde ich von einem Gestaltenwandler gepackt und hochgezerrt und Arkyn von einem anderen.
„Wir werden hier warten, bis du uns ein Zeichen gibst, dass der Auftrag erfüllt ist", befiehlt Zinariya und ich wische mir Tränen und Dreck aus dem Gesicht, „Und falls dir der Gedanke kommen sollte, abzuhauen, vergiss nicht, dass wir ihn haben!"
Sie deutet mit dem Kinn auf Arkyn, der von zwei Gestaltenwandlern flankiert wird.
Ich nicke und jemand drückt mir zwei Messer in die Hand, um die beiden Wachen vor dem Tor zu erledigen. Mein entschlossener Blick trifft Arkyns. Erneut moosgrün in onyxbraun.
„Clarice, nein!", keucht Arkyn, seine dunklen Augen schimmern wie Käferpanzer, „Clarice, du darfst diesen Menschen nicht die Freiheit schenken! Duniya wird untergehen, wenn es so weit kommt. Mein Leben steht gegen das von Millionen anderen."
Als seine Stimme versagt, ist es so still im Wald, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Arkyn sieht mich flehend an, als würde ich ihm einen Gefallen tun, wenn ich ihn töten lasse. Mein Herz krampft sich zusammen, als ich ihn so sehe.
„Wenn es ein Leben gibt, das ich mit Millionen anderen messen würde, dann ist es deines", sage ich leise und drehe ihm den Rücken zu.
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Meine allerletzte Kraft wende ich auf, um mich in ein Eichhörnchen zu verwandeln. Ich klettere auf einen Baum und springe von da aus auf die hohe Steinmauer, die den Schattenwald umgibt. Die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit und Liebe und Hass.
Im Wald ist es still, aber wenn man genau hinhört, nimmt man vielleicht ein leises Rascheln zwischen den Büschen oder ein unterdrücktes Husten wahr. Es ist die Meute; diese blutrünstige Meute. Ich werfe einen letzten Blick in den Wald mit seinen schwarzen, tot aussehenden Bäumen und dem dichten Blätterdach, das kaum Licht hindurchlässt.
Auf der anderen Seite der Mauer ist die Luft kühl und frisch und ich fülle meine kleine Lunge damit. Die Sterne funkeln am Himmel wie tausende Edelsteine und das Mondlicht beleuchtet das satte Gras des Hügels, auf dem sich das Tor zum Schattenwald befindet. Am unteren Ende des Hügels erkenne ich ein Dorf, das sich beinahe idyllisch an die Landschaft schmiegt.
Tue ich das Richtige?
Ich finde keine Antwort auf meine Frage. Vermutlich gibt es Richtig und Falsch genauso wenig wie Gut und Böse. Die Grenzen verschwimmen.
Ich klettere die steile Mauer hinunter und lande sachte auf dem gefrorenen Gras auf der anderen Seite. Von hier aus habe ich einen guten Blick auf die beiden Wachen, die, mit Speeren bewaffnet, das Tor behüten. Es tut mir leid für die beiden, aber Entscheidungen sind oft in Stein gemeißelt, wenn es um Leben und Tod geht. Manche Entscheidungen sind nötig, auch wenn sie ihren Preis haben.
Ich nehme wieder meine echte Gestalt an, löse mich aus dem Schatten der Mauer und – so schnell können die beiden Wachmänner gar nicht schauen – lasse das erste Messer durch die Luft sausen. Kurz darauf folgt das Zweite. Mit einem Schmatzen bohren sie sich in die dicken, marineblauen Jacken der Männer. Sie sinken zu Boden und Blut tränkt die königlichen Wappen auf den Uniformen der Männer. Der halbe Mond und die halbe Sonne färben sich scharlachrot.
Flink entwende ich ihnen den Schlüssel und stecke ihn in das Schloss, bevor ich es mir anders überlegen kann. Die Gestaltenwandler kommen aus dem Gebüsch hervor, keiner gratuliert mir für die gelungene Mission, denn sie sind noch nicht frei. Das Risiko besteht und Arkyns flehender Blick sagt mir, dass ich so schnell laufen soll, wie ich noch kann. Ich schüttle kaum merklich den Kopf, um ihm zu zeigen, wie ernst ich es meine. Vielleicht auch um mir selbst zu zeigen, dass ich im Inbegriff bin, Duniya mit einem leichten Fußtritt in den Abgrund zu befördern. Es ist so egoistisch, beinahe selbstsüchtig, doch das laute Pochen meines Herzens übertönt meinen Verstand.
„Königin Zinariya?", frage ich und ihre eisblau funkelnden Augen legen sich auf mich, „Ich werde euch allen die Freiheit schenken. Damit bin ich als Spionin für Königin Charis wertlos geworden und für Euch ebenso, aber mir ist mein Leben lieb und Arkyn und ich wollen auch als freie Bürger leben."
Zinariyas Augen glitzern tückisch, aber sie nickt.
„Versprechen Sie, uns gehen zu lassen?", dränge ich, die Finger immer noch um den Schlüssel gelegt. Nur eine kleine Drehung trennt mich noch von Arkyn und dem riesigen Desaster, in das mein Land schlittern wird, wenn dieses Tor sich öffnet.
„Ich verspreche es", meint Zinariya und ihre Stimme zittert kein bisschen.
Zwei Leben in den Händen einer selbsternannten Königin, deren Rachegedanken sie in jeder Sekunde ihres Lebens zu plagen scheinen. Es ist nicht Liebe und Hass. Es ist entweder Liebe oder Hass. Ich habe meine Seite gewählt und Zinariya ihre.
Es klickt, als ich den Schlüssel drehe.
Für Xanthio, für Magretta, für Janae und für Chase.
Und allen voran für Arkyn.
Ende von Buch eins
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