XXXIII

Nach dem Mittagessen, es gibt Hasenbraten und ich bekomme kaum einen Bissen hinunter, verschwinde ich wortlos auf mein Zimmer. Wenn ich könnte, würde ich die Tür zusperren und mich in meinem Bett vergraben, bis ich langsam dahinrotte. Ich will mich gerade für meinen langen, grausamen Tod bereitmachen, als ein Klopfen mich unterbricht. Genervt schlurfe ich zur Tür und ziehe sie auf. Arkyns ernste Miene und sein dunkler Schopf kommen zum Vorschein. Ich will ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, doch er hat seinen Fuß hineingestellt, bevor ich es tun kann.
„Was willst du?", murre ich und lasse ihn nicht aus den Augen, „Bist du hier um mich ein zweites Mal an diesem Tag zur Weißglut zu treiben oder kommt du wieder angekrochen, um mir mein dummes Herz zu brechen? Weißt du was? Du ..."
„Halt einfach deine verdammte Klappe", stöhnt Arkyn und ich schließe den Mund und drücke gegen die Holztür. Er flucht, als ich seinen Fuß einzwicke, packt die Tür und reißt sie so schwungvoll auf, dass ich aus dem Zimmer purzle und in seine Arme falle. Sofort befreie ich mich und bringe einen Sicherheitsabstand zwischen uns.
Arkyn atmet ein paar Mal geräuschvoll aus und ein, bevor er zu sprechen beginnt.
„Wir müssen in den Schattenwald und zwar jetzt sofort; Anweisung der Königin. In zehn Minuten bist du unten beim Tor, ist das klar?"
Ich merke, wie meine Wut zusammenschrumpft und nur noch eine leere Hülle überbleibt. In den Schattenwald? Nach maximal fünf Stunden Schlaf und einem gewaltigen Streit mit meinem Gefährten? Ich vergrabe stöhnend den Kopf in den Händen. Als ich den Blick wieder hebe, steht Arkyn immer noch da und mustert mich schweigend. Seine Augen funkeln onyxfarben im dämmrigen Licht des Gangs. Ich drehe mich um und verschwinde in meinem Zimmer. Als die Tür geräuschvoll ins Schloss fällt, atme ich erleichtert aus.

~~~~

„Auf dass wir einen Weg finden!"
„Auf dass wir einen Weg finden!"
Der Schattenwald ist wie an jedem anderen Tag auch. Sobald wir einige Schritte gemacht haben, werden wir auch schon in seinen Bann gezogen. Unser Atem und das leise Knacken der Äste unter unseren Füßen vermischen sich mit den Geräuschen des Waldes. Unerwartete, ferne Schreie oder das Brüllen von Wesen, die wahrscheinlich miteinander kämpfen. Die Luft ist düster und diesig wie immer und die Bäume strecken ihre toten, schwarzen Äste nach uns aus, als wollen sie uns fangen.
Arkyn trägt die Tasche, seine Finger umschließen den Kompass so fest, dass seine Fingerknöchel schon weiß hervortreten. Alle paar Minuten höre ich seine Zähne knirschen.
Alles ist wie immer; mit dem winzigen Unterschied, dass ich seit dem Zusammenstoß mit Arkyn mitten in der Nacht leicht hinke und meine Gedanken zwischen seiner Entschuldigung gestern und dem tobenden Streit heute Morgen hin und her pendeln. Gleichzeitig bahnen sich aber auch ein paar positive Emotionen ihren Weg durch meinen innerlichen Gefühlswirrwarr. Heute könnte tatsächlich der Tag sein, an dem wir das Tor finden. Wenn wir Glück haben und keinen Schattenwesen begegnen, könnte das unsere letzte Erkundungstour in den Wald sein.
Wir stapfen schweigend durchs Unterholz, erreichen den Felsen und dann den umgefallenen Baum. Die Zeit scheint im Flug zu vergehen; den Weg bis zum Stützpunkt drei, der kleinen Lichtung, bewältigen wir auch ohne weitere Zwischenfälle. Ich sollte mich freuen oder erleichtert sein, aber jetzt nagt doch die Angst an meinen Knochen und mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb, als wolle es ausbrechen.
Ich kann Arkyn kaum ansehen; Wortfetzen von unseren Gesprächen klingen immer noch in meinen Ohren. Clarice, es tut mir leid.
Beinahe bin ich wütend auf mich selbst. Ich kann niemanden dazu zwingen, mich zu mögen. Wieso muss mein Herz auch für jemanden schlagen, der den Gefühlsreichtum einer Todträgerin hat und dessen Stimmung im Sekundentakt kippen kann? Ich weiß selbst nur zu gut, dass es das Beste wäre, Arkyn zu vergessen. Nach dem Wortgefecht, das wir uns heute geliefert haben, sollte mir das eigentlich leichtfallen, aber ich habe mich getäuscht.

„Dort vorne ist der See", reißt er mich aus meinen Gedanken und ich atme ein paar Mal tief durch, um mich wieder auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Keine Gefühle, kein Streit; nur zwei Menschen gegen einen Wald.
„Perfekt", bringe ich schließlich hervor, „Links am See vorbei und dann wieder Richtung Westen. Meinst du wir schaffen es heute tatsächlich?"
Arkyn zögert kurz, dann nickt er. Die winzige Verzögerung ist es, die mir Sorgen bereitet. Nicht einmal er ist sich sicher, dass wir es schaffen werden. Je weiter wir uns vom Anwesen entfernen, desto gefährlicher. Wir müssen den Weg auch wieder zurückschaffen und die Wahrscheinlichkeit, dass wir die ganze Strecke lang nicht angegriffen werden, liegt praktisch bei null Prozent. Ich frage mich, wie es wäre, zu sterben und zu wissen, dass man sich nie mit dem anderen versöhnt hat.
Mein schlechtes Gewissen meldet sich augenblicklich und ich will schon die Stimme heben, als ein eisiger Lufthauch mich umfasst und meine Haare im Wind zu tanzen beginnen.
„Da ist etwas beim See", rufe ich Arkyn zu, alle Vorsichtsmaßnahmen in den Wind schlagend.
„Ruhig bleiben", brüllt er ironischerweise zurück.
Im nächsten Moment zieht ein bläulicher Nebel über den See, eiskalter Wind weht zu uns herüber und lässt meine Wimpern einfrieren. Schlackernd umfasse ich meine Arme, unfähig auch nur einen Schritt zu machen. Mein Gehirn rattert, aber mit fällt keine Kreatur ein, die den Wind dazu bringen kann, uns anzugreifen.

Der Nebel materialisiert sich zu einer Gestalt, nimmt langsam Form an. Arkyn und ich stehen fassungslos da und sehen zu wie eine Frau aus eisblauem Nebel entsteht, ihre Augen scheinen bloß schwarze Löcher zu sein. In gleichmäßigen Zügen stößt sie Luft aus, die wir als bitterkalten Windzug spüren.
„Was ist das? Was tut man gegen die?", schreie ich Arkyn zu und er sieht mich so verzweifelt an, wie ich mich fühle. „Laufen?", schlägt er vor, schiebt den Kompass in seine Hosentasche und rennt los. Links am Seeufer vorbei.
Ich fackle nicht lange und sprinte ihm nach. In heiklen Situationen ist es das Beste, Arkyn zu vertrauen. Er wird schon wissen, was wir tun müssen.
Doch so leicht möchte uns die Nebelfrau nicht davonkomme lassen. Auch wenn sie den See nicht verlässt, scheint der Wind uns immer näher zum Ufer zu drücken. Die Kälte lässt außerdem mein Gehirn einfrieren und ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Zusammenhangslose Fragen schwirren durch meinen Kopf, während das Plätschern des Sees neben mir lauter wird. Wie kann das sein, dass uns ein Wesen begegnet, dass bis jetzt noch unentdeckt ist? Wie sollen wir uns verteidigen, wenn wir nichts über sie wissen? Wir sprinten am schlammigen Ufer entlang, pressen unsere Füße in den Matsch und ziehen sie im nächsten Moment mit einem Schmatzen wieder heraus. Der Abstand zwischen mir und Arkyn vergrößert sich und ich presse die Lippen zusammen, um den stechenden Schmerz an meiner Wirbelsäule zu vergessen. Es klappt nicht und mit jedem weiteren Schritt, werde ich unmerklich langsamer.
Arkyn hat längst verstanden, dass die Nebelfrau den See nicht verlassen kann, und versucht unaufhaltsam, den Abstand zum Ufer zu vergrößern. Der Wind ist stark, aber Arkyn ist stärker. Aus einiger Entfernung sehe ich zu, wie der matschige Grund unter seinen Füßen zu trockenem Erdboden wird. Es ist schaffbar, denke ich und stolpere ein paar Schritte weiter.

Doch die Nebelfrau ist nicht bereit, ihre Beute aufzugeben. Sie lässt einen wütenden Schrei los und wirbelt herum, ihre schwarzen Lochaugen weiten sich, bevor sich ihr Blick auf mich richtet. Als aus ihrem Mund eine weitere Windböe dringt, reißt es mich beinahe von den Füßen. Blätter und Äste werden aufgewirbelt und fliegen mir um die Ohren.
„Lauf weiter", schreit Arkyn, seine Stimme kommt kaum gegen den tosenden Wind und das Brechen der Wellen, die sich auf dem kleinen See ausbreiten, an.
Ich kehre der Nebelfrau den Rücken zu und renne so schnell ich kann los. Mein Herz rast in meiner Brust und meine Lunge brennt wie Feuer, aber ich halte mit Arkyns Mordstempo mit und wiege mich langsam in Sicherheit, als auch ich festen Boden erreiche.
Plötzlich wird es still hinter mir. Keine Wellen, kein rauschender Wind und auch die Kälte scheint sich zu legen. Verdattert wende ich mich im Laufen um, nur um zu sehen, was vor sich geht und welchen hinterlistigen Plan diese Kreatur sich ausdenkt, um uns zu töten.
Ich passe einen winzigen Moment nicht auf. Eine Millisekunde höchstens.
Doch diese Zeit genügt diesem Monster einen weiteren Windstoß loszulassen, der mich von den Füßen fegt, als wäre ich leicht wie eine Feder. Ich stürze auf die Knie, spitze Steine und Äste bohren sich in mein Fleisch, während ich meinen Blick nicht von der Nebelfrau lösen kann, die sich vor mir aufbaut und wieder materialisiert. Der Wind nimmt wieder zu und schiebt mich Richtung See, bis ich erneut Schlamm unter mir spüre.
Renn, schreit mein Kopf und ich springe hoch, aber – so schnell kann ich gar nicht schauen – drücken mich zwei blasse und eiskalte Hände auf den Boden. Es sind die armähnlichen Nebelschwaden der Kreatur, die sich um meinen Hals schlingen; beinahe zärtlich streicheln sie die empfindliche Haut und winzige Wassertröpfchen bleiben dort haften, wo ihre Nebelarme mich berühren. Dann drückt sie zu. Wie ein Fisch an Land schnappe ich nach Luft.
Ihre Finger sind beißend kalt und es fühlt sich an als ob ich vom Hals abwärts vereisen würde. Ich will Arkyns Namen rufen, aber es geht nicht. Nichts als gequetschte Laute entweichen mir. Die Hände des Monsters drücken unerbittlich zu; meine Atemwege sind abgeschnitten, ich schnappe nach Luft, trete um mich, aber der feste Griff löst sich um keinen Millimeter.
Arkyn, wo bist du? Kleine Sternchen tanzen mir vor den Augen, mein Kopf fühlt sich an, als würde er platzen. Ich will nicht so sterben. Arkyn, wo bist du?
Mein Sichtfeld scheint sich zu verkleinern, von den Rändern aus kriechen dunkle, schwarze Schatten herein und die bläuliche Färbung der Nebelfrau wird grau.
Luft. Ich brauche Luft. Die eisernen Finger brennen sich in mein Fleisch, so wie meine Hände sich in den Schlamm bohren. Mein Körper wird starr und die Kälte lässt nicht zu, dass ich mich befreie. Wahrscheinlich erfriere und ersticke ich zugleich. Der Gedanke ist beinahe absurd. Inzwischen kann ich kaum noch etwas sehen. Hoffentlich werde ich ohnmächtig, bevor ich sterbe. Dann muss ich wenigstens meinen Tod nicht miterleben.
Mein Wunsch geht in Erfüllung und alles wird schwarz.

~~~~

Das Erste, was ich höre, als ich tot bin, ist eine Stimme. Laut und ungehobelt brüllt sie meinen Namen. So habe ich mir den Empfang in Sheol, dem Reich der Toten, nicht vorgestellt. Ich dachte, dass ich meine Großeltern zuerst wiedersehen würde, die mich mit offenen Armen empfangen. Doch es ist noch alles dunkel, in wenigen Augenblicken wird sich eine neue Welt vor meinen Augen materialisieren. Stattdessen klatscht etwas mit solcher Heftigkeit gegen meine Wange, dass mein Kopf herumgerissen wird.
Ich reiße die Augen auf, schnappe nach Luft, fülle meine brennenden Lungen damit und sehe Arkyn vor mir. „Du bist auch tot?"
Er stößt erleichtert Luft aus. „Ich dachte, du wärst tot." Seine Stimme bricht, er zieht mich an sich und hebt mich hoch, als wäre ich leicht wie eine Feder.
„Ich bin nicht tot?" Meine Stimme ist brüchig und rau. Jedes Wort tut weh.
Mein Kopf dröhnt und ich kann kaum Schlucken. „Nein, verdammt, du lebst!", flüstert Arkyn und ich lehne meinen Kopf gegen seine Brust, als mir ein heftiger Schmerz durch den Nacken schießt. Arkyn bringt mich vom See weg und als er mich in sicherer Entfernung zum Ufer an einem Baumstamm anlehnt, spüre ich seine heißen Tränen der Erleichterung an meiner Haut.
„Wie hast du die Nebelfrau vernichtet?", frage ich leise und Arkyn lässt sich neben mir nieder. Ich senke den Blick, als er sich die glitzernden Tränenspuren von den Wangen wischt.
„Ich habe einen Stock angezündet und ihre Hände mit dem Feuer durchtrennt. Ich glaube, sie ist tot. Ich wusste nicht, was ich sonst machen soll."
„Wie sieht mein Hals aus?", krächze ich und zucke zusammen, als Arkyns Hände sanft meine Haut befühlen. „Geschwollen, aber ich glaube, es ist nicht allzu ernst. Wenn wir sofort umkehren und ins Krankenlager schauen, dann ..."
„Nein", unterbreche ich ihn, mein entschlossener Blick trifft seinen Besorgten, „Wir werden nicht noch einmal hierherkommen, um das Tor zu finden. Wir werden unsere Karte heute fertigstellen. Und ein paar Quetschwunden und ein geschwollener Hals werden mich nicht davonabbringen. Heb die Tasche auf und gib mir die Karte, wir gehen!"
„Bist du wahnsinnig? Das schaffen wir nie im Leben."
„Jeder hat doch diesen winzigen Funken Wahnsinn in sich. Kommst du mit?" Es liegt kein Flehen in meiner Stimme. Arkyn hat die Wahl. Er kann mitkommen oder zurückgehen. Ich werde heute dieses Tor finden und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Seine schwarzen Augen liegen ernst auf meinen. „Ich komme mit."
Schweigend hilft er mir auf die Beine und wir machen uns auf den Weg. Arkyn trägt die Tasche, seine Finger umschließen den Kompass so fest, dass seine Fingerknöchel schon weiß hervortreten.
Alles ist wie immer; mit dem winzigen Unterschied, dass ich immer noch leicht hinke und nun auch noch einen geschwollenen, schmerzenden Hals habe. Heute wird der Tag sein, an dem wir das Tor finden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top