XIV

In Duniya gibt es das Sprichwort: Das Leben ist nicht ruhig wie ein See, es ist ein reißender Strom, der sich durch das Land schlängelt.
Bis zu meinem sechzehnten Geburtstag war mein Leben immer ein ruhiger See, aber seit ich im Schattenwald bin, ist es zu dem reißenden Fluss geworden.
Es ist immer noch schwer, jeden Abend liege ich im Bett und muss an meine Eltern denken. Wie sie im Wohnzimmer sitzen und an mich denken so wie ich an sie.
Es bricht mir das Herz und ich mache mir fast mehr Sorgen um sie als um mich selbst.
Ich lebe hier und ich kann es nicht ändern, aber ich habe mein Ziel vor Augen und nähere mich ihm jeden Tag. Aber meine Eltern wissen nicht wie es mir geht und ob ich überhaupt noch lebe; sie müssen wahrscheinlich vor Sorge umkommen.

Nach einer Woche Wurf- und Konditionstraining merke ich deutlich eine Steigerung. Beim Laufen komme ich nicht mehr so schnell außer Puste und kann mit Arkyn mithalten und beim Werfen bin ich schon von Steinen zu Messern umgestiegen. Ich treffe aus kleinen Entfernungen relativ zielsicher, aber auf die Jagd kann ich noch nicht mitkommen.
Außerdem bin ich auch zu keiner weiteren Sitzung im Dunklen Rat eingeladen worden, obwohl ich zusätzlich noch jeden Tag mein Gestaltenwandlertraining absolviere.
Arkyn und ich sitzen praktisch den ganzen Tag aufeinander; am Ende des Tages sind wir beide geschafft. Er geht mir auf die Nerven und ich ihm, aber trotzdem hat sich etwas zwischen uns verändert.
Er ärgert mich wie immer, aber seine Witze sind weniger verletzend, seine Worte weniger schroff. Seitdem er meine Gestalt angenommen hat, um mich zu ärgern und ich ihm einmal die Meinung gegeigt habe, ist er rücksichtvoller.

Trotz alledem bringt mich das Training an meine Grenzen. Es ist schwer zu verstehen, wie der Mensch funktioniert. Aber um wirklich glaubhaft eine andere Gestalt anzunehmen, ist genau das wichtig. Zu wissen, wie andere ticken, handeln, sprechen, gehen. Auf einmal kommt es auf all die winzigen Details an.
Aber ich begreife schnell und – auch wenn er es nicht zugeben will – ist Arkyn zufrieden mit mir. Er lobt mich zwar nicht, aber er hat auch nichts auszusetzen. Das ist alles, was mir genügt.

Doch heute will es einfach nicht funktionieren. Schon seitdem ich morgens meine Augen aufgeschlagen habe, dröhnt mein Kopf. Noch nie in meinem gesamten Leben hatte ich solche Kopfschmerzen. Es fühlt sich an, als würde jemand mit einem Hammer auf meinen Schädel einschlagen, jede Bewegung und jedes laute Geräusch jagt mir einen Stich durch die Schläfen.
Arkyn scheint das egal zu sein. Seit einer Stunde quält er mich mit theoretischem Zeug über die Sprache und verschiedene Arten der Gestikulation; ganz zu schweigen von dem langem Wurftraining heute Morgen.
Zwei Mal fallen mir beinahe die Augen zu und die ganze Zeit über presse ich mir die kühlen Hände auf die Schläfen, um den Schmerz zu lindern.
„Was ist eigentlich heute los mit dir?" Arkyn klingt genervt; als ob ich etwas für meine Schmerzen könnte.
„Ich habe verdammtes Kopfweh", maule ich und drücke die Handfläche demonstrativ gegen meine Stirn. Das zweite Mal, dass ich das Wort verdammt benutze. Meine Eltern würden sich für mich schämen.

„Ach komm schon, du musst ja nur zuhören und dir merken, was ich sage", meint er und dann erhellt sich sein Gesicht.
„Die Krankenpfleger haben echt gute Kräuter gegen Kopfschmerzen. Ich hole dir das Zeug und dafür machst du bei der kleinen Herausforderung mit, die ich mir für heute Abend überlegt habe mit. Deal?"
„Was für eine Herausforderung? Ich will einfach nur schlafen." Beim Gedanken an mein mehr oder weniger gemütliches Bett muss ich gähnen.
„Das verrate ich dir erst, wenn du dabei bist."
Er hält mir die Hand hin, ich zögere kurz, schlage dann aber ein. Ich bin einfach zu neugierig.
Ein geheimnisvolles Schmunzeln erhellt Arkyns Gesicht und lässt seine dunklen Augen funkeln.
„Heute ist eine kleine Versammlung des Dunklen Rates und ich habe die Königin überzeugt, dass du mitkommen darfst."
„Was?!", keuche ich, vor lauter Schreck muss ich ein Hicksen unterdrücken, das sich seinen Weg durch meinen Hals bahnt. Ein selbstzufriedenes Grinsen stiehlt sich auf Arkyns Gesicht und ich kann nicht anders, als ihn gegen den Arm zu boxen. Natürlich nur ganz leicht. Wer weiß, ob er zurückschlägt.
„Und was ist daran jetzt herausfordernd?", frage ich ihn.
Er zögert kurz, bevor er fortfährt: „Ich habe einen äußerst ausgeklügelten Plan entwickelt, um dein Gestaltenwandlertraining auf das nächste Level zu bringen."
„Und der wäre?"
„Wir werden Rollen tauschen."

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„Denk dran: Du bist ich", flüstert er mir zu, bevor ich die steile Leiter hinab in den Versammlungsraum erklimme. Direkt hinein ins Verderben.
Mein Herz rast in meinem Brustkorb, besser gesagt in Arkyns. Denn jetzt bin ich tatsächlich er; wenn auch nur für heute Abend.
Sobald ich die letzte Sprosse erklommen habe und meine Füße den steinernen Boden berühren, rutscht mir das wild pochende Herz in die Hose. Dort sitzen sie alle am Tisch, die Ratsmitglieder, und werfen mir kurz nickende Blicke zu, bevor sie sich wieder ihren Sitznachbarn widmen, mit denen sie leise tuscheln.
Vor lauter Angst bildet sich ein leichter Schweißfilm auf meiner Stirn. Ich warte bis Arkyn die Leiter herunter kommt. Heute ist er ich, wenn auch nur für einen Abend.

Sobald er neben mir steht, fühle ich mich etwas sicherer. Setz dich einfach hin, rufe ich mir seine Befehle in Erinnerung. Mit forschen Schritten gehe ich auf meinen – Arkyns – Platz zu und setze mich hin. Arkyn folgt mir; er lässt einen unsicheren Blick durch die Menge gleiten und setzt sich dann schnell neben mich. Es ist bewundernswert, wie gut er sich in andere Rollen versetzen kann. Fast ein bisschen unheimlich, wie realitätsgetreu er mich verkörpert.

Zuerst habe ich panische Angst, dass eines der Ratsmitglieder etwas bemerken würde, dass sofort jemand aufstehen würde und laut „Betrug!" rufen würde, aber keiner sagt etwas und nach ein paar Minuten hat sich mein Herzschlag beruhigt.
Auch mein Sitznachbar spricht mich nicht an; vermutlich, weil der echte Arkyn nicht unbedingt der Typ für Smalltalk ist. Zum Glück. Nur die junge Frau mit den haselnussfarbenen Haaren zwinkert mir kurz zu. Es sieht beinahe spöttisch aus.
Nach einer Weile betritt auch die Königin den Raum und augenblicklich verstummen die Gespräche. Es ist als hätte sich die Atmosphäre des Raums binnen Sekunden geändert.
Von leicht angespannt auf frostig.
Die Königin nimmt ihren Platz am Ende der Tafel ein und blickt durch die Runde. Am liebsten würde ich meinen Blick auf den Tisch richten, aber ich weiß, dass Arkyn das nicht tun würde, deshalb sehe ich Königin Zinariya direkt in die eisblauen Augen, als sie meine streifen.
Kurz bleibt ihr Blick an meinem hängen und mein Puls beschleunigt sich; ich widerstehe dem Drang meine schwitzigen Hände an der Hose abzuwischen. Doch auch sie scheint nichts zu bemerken.
Auch Arkyn neben mir atmet erleichtert aus. Seinen blöden Plan hat er mit niemandem abgesprochen; kein anderer weiß Bescheid und ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Königin darüber erfreut wäre, wenn sie wüsste, dass wir unsere Rollen getauscht haben.
„Schön euch hier versammelt zu sehen."
Mit diesen Worten beginnt die schweißtreibendste Stunde meines Lebens.

Zuerst werden die üblichen, unwichtigen Sachen gesprochen. Ich mische mich nicht ein; Arkyn würde das auch nicht tun. Zwischen Frau Hakennase und Herr Wal entbricht ein weiterer Streit, der jedoch relativ schnell gelöst ist.
Ich wage es kaum, mich auf meinem Stuhl zu bewegen, merke stattdessen etwas panisch, wie meine Achselhöhlen schon ganz feucht sind und ich hoffe einfach, dass ich nicht stinke.
Plötzlich, als ich schon denke, dass ich ohne groß etwas sagen zu müssen davon komme, lenkt die Königin das Thema auf meinen Unterricht.
„Wie läuft das Wurftraining, Arkyn?", fragt sie mich und mein Herz setzt für einen Schlag aus.
Mein Gehirn rattert; irgendetwas muss ich antworten. Was würde Arkyn sagen? Bloß nicht stottern. Denk dran: Du bist ich. Was würde Arkyn bloß sagen?
Die unangenehme Pause zieht sich in die Länge, die Königin runzelt die Stirn.
„Das Training?", sage ich und versuche ruhig und leicht spöttisch zu klingen, „Für jemanden mit wenig Treffsicherheit und Kondition macht sie sich nicht schlecht."
Ein paar Gestaltenwandler brummen leise; das Andeuten eines Lachens.
Die Königin nickt leicht; sie scheint sich mit der Antwort zufrieden zu geben.
Am liebsten hätte ich vor Erleichterung aufgestöhnt, aber ich kann es mir verkneifen.
Die Königin räuspert sich und es wird wieder still. „Und was hast du noch für das Gestaltenwandlertraining geplant?" Noch eine Frage? Mein Blick flattert panisch zu Arkyn hinüber. Woher soll ich wissen, was er geplant hat? Alle warten auf eine Antwort, was soll ich sagen?
Da ergreift auf einmal Arkyn das Wort. „Ich habe schon das Grundwissen zum Verstehen des menschlichen Verhaltens gelernt. Die nächste Woche werden wir uns auf das Praktische konzentrieren." Seine Stimme – meine Stimme – klingt zuerst vorsichtig, dann sicherer, als würde er mit jedem Wort ein bisschen Mut fassen.
Mein Herzschlag beruhigt sich wieder; er hat mir gerade noch so aus der Patsche geholfen, aber ich weiß, dass die Königin auch irgendeine Antwort von mir erwartet.
„So ist es", beginne ich ziemlich lahm, aber die Königin unterbricht mich sowieso.
„Ich möchte, dass du ihr nicht nur das Gestaltenwandeln vermittelst, Arkyn, sie soll auch von den Drei Büchern erfahren. Ich muss morgen deswegen noch einmal mit dir sprechen. Du bist für die Jagd entschuldigt, kommt bitte in mein Zimmer."
Ich nicke bloß und fahre mir nervös durch die dunkeln Haare; meine Finger bleiben leicht in den Wellen hängen, aber ich bin erstaunt, wie weich sie sind.
Die restliche Versammlung bekomme ich nur nebenbei mit. Ich bin damit beschäftigt, nicht aufzufallen und gleichzeitig auch nicht einzuschlafen, denn im Schlaf würde ich wieder meine eigene Gestalt annehmen.
„Ich denke die Sitzung ist für heute beendet", schließt Königin Zinariya endlich und erleichtert erhebe ich mich von meinem Sessel.
Arkyn und ich verlassen den Raum ganz zum Schluss und ich verschließe gewissenhaft die Luke in den Versammlungsraum und schiebe den schweren Thron darüber. Mit Arkyns Armen kommt er mir gar nicht mehr so schwer vor. Wir warten bis die anderen Ratsmitglieder in verschiedene Treppenhäuser und Gänge verschwunden sind, dann nehme ich meine eigene Gestalt wieder an.

Zischend atme ich aus. „Das war die schrecklichste Stunde meines ganzen Lebens. Was hast du dir nur dabei gedacht?" Ich presse die Hände gegen meine pochenden Schläfen. Die Kräuter die Arkyn den Pflegern abgeluchst hat, haben bald gewirkt, aber jetzt kommen die Kopfschmerzen langsam zurück.
Arkyn, nun auch in seiner Gestalt, lacht leise. Ein Schauer jagt mir über den Rücken.
Für jemanden mit wenig Treffsicherheit und Kondition macht sie sich nicht schlecht", äfft er mich nach, „So etwas würde ich nie sagen!"
Verblüfft keuche ich auf. „Das ist genau das, was du gesagt hättest!"
„Ach was, so ein Arsch bin ich auch wieder nicht", grinst er und fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Ich ertappe mich dabei, daran zu denken, wie weich sie sich angefühlt haben.
„Du bist ein Arsch", entgegne ich, aber auch ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Okay, du hast Recht." Im Dunklen kann ich sein Gesicht nicht genau sehen, aber auf einmal klingt er wieder ernst. „Das war echt ein bisschen riskant gerade eben."
„Das war sowas von riskant. Ich dachte schon ich bekomme einen Herzinfarkt, als die Königin mich etwas gefragt hat." Bei dem Gedanken daran, was alles hätte schief gehen können, dreht sich mir der Magen um.
Eine kurze Stille legt sich zwischen uns. Ich weiß nicht genau, was ich sagen sollen, ob ich überhaupt noch etwas sagen soll.
„Dann bis morgen, Clarice", verabschiedet Arkyn sich schließlich, dann verschluckt ihn die Dunkelheit.
Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als ich realisiert habe, dass er mich nicht Clara genannt hat.


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