XIII

„Weiterlaufen. Nicht stehen bleiben."
„Ich habe Seitenstechen. Ich will nicht mehr."
„Das ist ja wohl ein Witz. Wir laufen erst seit einer halben Stunde."
Ich will eine schnippische Bemerkung ablassen, aber weder meine Stimme noch meine Lunge spielt mit. Ein heftiges Stechen zieht sich durch meine rechte Seite und meine Beine sind weich wie Gummi.
Die Sonne scheint heute auch keine Lust zu haben und verzieht sich hinter grauen Wolken. Seit Arkyn und ich unser Konditionsprogramm begonnen haben, nieselt es leicht und dichte Nebelschwaden wabern zwischen den Baumstämmen hindurch und machen es unmöglich, aus dem Boden ragende Wurzeln zu erkennen.
Bereits vier Mal bin ich gestolpert und meine Hose ist inzwischen mit Schlamm vollgespritzt.
Arkyn scheint magische Augen zu haben, mit denen er durch den Nebel blicken kann, denn er läuft zielsicher zwischen den Bäumen hindurch, ohne ein einziges Mal stehen zu bleiben oder sich nach mir umzudrehen. Inzwischen bereue ich es, seiner Bedingung eingewilligt zu haben.
„Trinkpause", keucht er leise und bleibt so abrupt stehen, dass ich gegen sein vom Regen durchnässtes T-Shirt knalle. Peinlich berührt muss ich an seine nackten Rückenmuskeln denken, mit denen ich ja – unfreiwillig – schon Bekanntschaft gemacht habe.
Ich räuspere mich verlegen und nehme den schwarzen Rucksack von den Schultern.
„Jetzt kannst du gefälligst den Rucksack tragen", schlage ich vor und nehme meine Trinkflasche heraus. Kaltes Wasser läuft in meinen Mund und befeuchtet meine trockene Zunge.
Einfach himmlisch. „Heb dir noch etwas auf", meint Arkyn. Er nimmt nur ein paar kleine Schlucke von seinem Trinken.
„Dann werde ich elendig vertrocknen", keuche ich und wische mir mit dem Ärmel meines T-Shirts über den Mund. Es ist ganz schön kalt, mein T-Shirt klebt nass an mir und ich fröstle leicht. „Besser wir laufen weiter. Bevor wir uns verkühlen", schlage ich vor und Arkyn sieht mich ungläubig an.
„Du musst ja schon halb erfroren sein, wenn du tatsächlich vorschlägst, weiterzulaufen", stichelt er und ich lasse seine Worte – wie immer – an mir abprallen.
Er ist einer dieser Menschen, die es einem schwer machen, ihn zu mögen. Vielleicht will er gar nicht, dass jemand ihn mag, überlege ich.
Arkyn greift nach dem Rucksack und läuft weiter; ich keuche hinterher.
Ich liebe es spazieren zu gehen, aber laufen ist dann doch wieder eine ganz andere Nummer.
Mit den Worten: Dir fehlt es nicht nur an Treffsicherheit, sondern auch an Kondition, hat Arkyn mich vor unserem ersten Training „motivieren" wollen. Scheinbar hat er Recht. Beim Laufen komme ich schnell aus der Puste, meine letzte Chance, mich zu beweisen, ist beim Messerwerfen heute. Ich werde ihm zeigen, was ich draufhabe, denke ich und grinse in mich hinein, als ich mir vorstellen, wie ich ein Messer genau in der Mitte der Zielscheibe versenke und wie Arkyn der Mund aufklappt.

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Okay, anscheinend fehlt es mir wirklich an Treffsicherheit.
„Weniger Spin, Clarice. Weniger Spin. Das soll ein Half Spin werden, verdammt, kein Full Spin", brüllt Arkyn seit einer halben Stunde im Minutentakt, während ich – inzwischen ziemlich verzweifelt – Messer auf eine Zielschiebe schleudere.
Aber keines will stecken bleiben, alle prallen ab und zwei Mal erwischt mich das Messer beinahe am Bein. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.
Arkyn fährt sich genervt durch die dunklen Haare. „Gib mir das Messer."
Er nimmt mir die Waffe aus der Hand. Seine Finger streifen meine, ganz leicht nur, und hinterlassen ein Kribbeln auf meiner kühlen Haut. Ich muss an gestern denken und kurz schweifen meine Gedanken ab.
„Pass auf, was ich mache", meint Arkyn, ohne mich anzusehen. Woher weiß er, dass ich eine Millisekunde nicht aufgepasst habe? Sein Menschengespür jagt mir beinahe etwas Angst ein.
Ich fokussiere mich wieder auf Arkyns Wurf. Er hält das Messer zielsicher an der stumpfen Klinge, die Augen konzentriert zusammengekniffen. In Sekundenschnelle holt er aus und schleudert das Messer auf die Zielscheibe, mit einem Krachen versenkt er es in der Mitte.
Kurz schließt er die Augen, presst die Luft aus den Lungen und atmet zischend aus.
„So geht das", seufzt er, er hat seine gesamte Wut in dem Wurf abgeladen. Zurück bleibt der geheimnisvolle Arkyn, der einen nicht an seinen Gedanken teilhaben lässt.
Ich würde mich selbst als eine gute Beobachterin mit einer Liebe für Details bezeichnen. Fast immer kann ich erkennen, was in anderen vorgeht, doch Arkyn scheint eine Ausnahme zu sein, was mich mehr verwirrt, als es sollte.
Ich weiß nicht, was er denkt. Manchmal erfasse ich den Anflug eines – meist spöttischen – Lächelns oder ein Zähneknirschen, wenn er wütend ist.
Aber das war's auch schon. Kein freudiges Lachen, keine Traurigkeit.
Nur seine Wut scheint er nach außen tragen zu können.
Es verwirrt mich, dass ich nicht schlau aus ihm werde.

„Wir müssen wohl mit der Idioten-Technik beginnen", meint er plötzlich und kramt einen kleinen Stein aus seiner Tasche. „Hier, wirf mit dem! Du bist noch nicht bereit für das Messer."
Ich nehme den Stein und streiche über die graue Oberfläche.
In Duniya gibt es hunderte kleine Seen, an deren Ufer die buntesten, schillerndsten Steine liegen. Dieser Stein ist grau und wirkt leblos. Er passt in diese triste Umgebung.
Arkyn scheint eine Widerrede von mir zu erwarten, aber plötzlich verspüre ich eine große Lust, diesen blöden Stein auf die Zielscheibe zu pfeffern.
Ich versuche auch die Technik umzusetzen. Ein breitbeiniger Stand, gerader Wurf, weniger Spin. Der Stein knallt auf die Mitte der Zielscheibe und ich werfe Arkyn einen triumphierenden Blick zu.
Er zieht bloß eine Augenbraue hoch. „Mach das noch hundert Mal, dann reden wir weiter!"

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Nebel ist das Markenzeichen von Duniya. Man sagt, dass unsere Nebelgöttin Haze jeden Morgen dichte Nebelschwaden auf die Felder zaubert. Haze war immer schon meine Lieblingsgöttin. Eigentlich ist es nicht richtig, eine Göttin mehr zu mögen als andere, aber ich finde Haze einfach toll. Ich erinnere mich an das wunderschöne Mosaik im Archiv der Weissagungen im Palast von Königin Charis. Haze hat darauf graublaue Locken, die ihr bis zur Hüfte reichen und ihre Haut ist blass und kühl wie Marmor.
Und auf einmal fällt mir auf, dass Arkyn mich an sie erinnert. Oder umgekehrt, ich kann es nicht sagen. Wie er da im Nebel steht, so unantastbar, so kühl. Wie kleine Tautropfen in seinen Haaren glitzern und wie er seinen Blick in die Ferne gerichtet hat.
„Gestaltenwandlerei ist kein Fluch, es ist eine Gabe. Es ist eine Einstellung, eine Kraft, eine Fähigkeit, die es dir erlaubt du selbst zu sein, egal wie deine äußere Erscheinung aussieht.
Wenn du eine echte Gestaltenwandlerin sein willst, musst du dich von deinem Äußeren loslösen, es macht dich nicht aus. Es ist nur eine leere Hülle, in der dein wahres Ich gefangen ist. Wir haben die Gabe, uns wahrhaftig von unserem Körper loszulösen, Clarice."
Ein angenehmer Schauer überläuft mich, als er zu sprechen beginnt. Diese weiche Stimme passt nicht zu seinem schroffen Charakter.
„Wenn du eine gute Gestaltenwandlerin sein willst, musst du in die Defensive gehen. Beobachte bevor du reagierst. Du musst verstehen wie ein Mensch tickt, was einen Charakter ausmacht. Du änderst vielleicht dein Äußeres, aber wenn es glaubhaft wirken soll, musst du den Charakter verstehen. Vor allem wenn du jemanden täuschen willst."
„Wieso sollte ich jemanden täuschen wollen?", flüstere ich. Ich schaffe es nicht, lauter zu sprechen; als hätte ich zu große Angst, die magische Schönheit dieses kühlen Novembertags gemischt mit dem Klang von Arkyns Worten zu zerstören.
Wir sitzen auf den umgelegten Baumstämmen am Trainingsplatz mitten im Nebel.
Aber wenn man mittendrin ist, merkt man meistens nicht, dass man Teil von etwas ist.

„Deine Gestalt verändern kannst du schon. Und du bist gut dabei. Aber kannst du auch ein anderer Mensch sein? Jetzt schaffst du es nur, so auszusehen", antwortet er.
„Ich will kein anderer Mensch sein. Wieso reicht es nicht aus, nur so auszusehen?"
Er lacht leise, eine Gänsehaut überzieht meine Arme, obwohl ich eine dicke Jacke trage.
„Weil es das ist, was ich dir lernen soll", meint er und vergräbt die Hände in den Jackentaschen.
„Wozu muss ich das können? Wenn wir die Identitäten von Fremden annehmen, machen wir doch genau das, wofür wir verachtet werden!"
Meine Stimme zittert leicht. Es macht mir Angst, wenn ich daran denke, dass ich jemand anderes sein soll als ich. Und dass das wohl Normalität für Arkyn und die anderen Gestaltenwandler ist.
„Es ist ihnen doch egal, ob wir hier im Schattenwald verrecken, solange wir ihnen keine Probleme bereiten. Aber Rache ist süß", sagt er und lächelt leicht. Es sieht bitter aus und stimmt mich nachdenklich.
„Na schön. Womit beginnen wir?"
Kleine Wölkchen steigen aus meinem Mund auf, als ich spreche.
„Wir beginnen mit etwas Leichtem. Mimik, Gestik, Haltung, Gang", antwortet er, „Wenn du jemanden gut imitieren willst, musst du wissen, was für ein Mensch derjenige ist. Schüchtern? Meist wenig Gestik und ein unsicherer Gang. Selbstbewusst? Viel Gestik und eine aufrechte Haltung mit schnellen, sicheren Schritten."
Ich nicke und frage mich augenblicklich, wie ich wohl auf andere wirke.
Arkyn schließt die Augen, einen Wimpernschlag später sitze ich mir selbst gegenüber. Erschrocken schnappe ich nach Luft, muss dann aber lachen.
„Willst du mich zu Tode erschrecken?"
Arkyn geht nicht genauer darauf ein. „Sieh mir zu", meint er und es ist ganz seltsam meine eigene Stimme zu hören. Er erhebt sich und geht eine kleine Runde über den Trainingsplatz, aber ich merke sofort, dass etwas nicht zusammenpasst. Er geht wie Arkyn in meinem Körper. Mit forschen Schritten, gerader Haltung. Seinen – beziehungsweise meinen – Blick kann ich nicht sehen, aber ich kann ihn mir bildlich vorstellen. Spöttisches Lächeln, leicht gerunzelte Stirn und ansonsten ein kaltes Pokerface.
Als er sich umdreht und zurückkommt, wird meine Vermutung bestätigt. Er trägt seinen eigenen Gesichtsausdruck, obwohl er mich imitieren will.
„Ich war jetzt vielleicht du, aber nur Äußerlich, ansonsten habe ich mich verhalten wie immer", meint er und ich zucke zusammen, als ich meine Stimme höre. So ein Mist, es ist einfach immer wieder seltsam.
Ich grinse leicht. „Das habe ich bemerkt. Du sahst nicht sehr überzeugend aus."
Arkyn schnaubt. „Das war beabsichtigt. Ich werde dir jetzt zeigen, wie es richtig geht."
Dieses Mal ist sein Gang ganz anders. Mädchenhafter irgendwie, mit kleineren, etwas unsicheren Schritten, aber gerader Haltung. Er streicht sich die langen, blonden Haare hinters Ohr, wie ich es immer mache, wenn ich unsicher bin und lächelt schüchtern.
Es wirkt so echt, dass ich schlucken muss. Wieso weiß er das alles über mich? Meinen Gang, meine Ticks und wer ich bin?
Er kommt vor mir zu stehen und grinst.
„Hör bitte auf", krächze ich, als ich mein eigenes Lächeln sehe. Das ist einfach zu viel. Wie kann man nur die Identität eines Menschen klauen?
Wie kann man jemanden anderes das Leben wegnehmen?
Arkyn hört nicht auf. Er verzieht das Gesicht – mein Gesicht – und auf einmal laufen ihm Tränen über die blassen Wangen.
Er weint. Er weint meine Tränen.
„Hör auf, du Idiot!"
Ich kann mich nicht beherrschen. Wieso tut er so etwas? Am liebsten würde ich ihn schlagen, aber ich bringe es nicht über mich, mein eigenes Gesicht zu demolieren.
Er lacht und wischt sich die Tränen von den Wangen. Mit dem Ende des langärmligen T-Shirts fährt er vorsichtig über die empfindliche Haut unter den Augen und es sieht genauso aus wie etwas, was ich tun würde.
Es tut weh, mich selbst zu sehen. Meinen Körper ihm Besitz eines anderen Menschen.
„Authentizität", meint er bloß, als er sich zurückverwandelt.
Ich drehe mich um und laufe los. Ich kann das nicht mehr ertragen.
Ich ramme meine Füße in den aufgeweichten Boden, Schlamm spritzt um mich, aber es macht mir nichts aus.
Ich höre Arkyn nach mir rufen. Mit seiner eigenen Stimme, aber ich bleibe nicht stehen.
Was bildet er sich eigentlich ein? Warme Tränen laufen mir über die Wangen und hinterlassen feuchte Spuren auf meiner Haut.
Ich wische sie weg. Nicht mit den Ärmelenden meines T-Shirts, wie ich es normalerweise tun würde, sondern mit den bloßen Händen.

„Clarice", brüllt Arkyn, aber ich ignoriere ihn. Es ist mir egal, dass er ein Ratsmitglied ist und dass ich seinetwegen wahrscheinlich nie in diesen Rat kommen werde. Ich habe es versucht, aber alles muss ich mir nicht gefallen lassen.
„Bleib stehen. Es tut mir leid."
Mein Herz macht einen unerwarteten Hüpfer, als ich seine Stimme höre, aber ich laufe weiter. Innerlich ringe ich mit mir selbst. Seine Entschuldigung klingt aufrichtig.
Zögernd halte ich an und drehe mich um, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Wieso tust du das?", frage ich ihn, „Wieso bist du immer so gemein zu mir?"
Sobald ich die Worte ausgesprochen habe, bereue ich es. Es klingt einfach nur erbärmlich. Als wären wir kleine Kinder, die sich gegenseitig ärgern.
Ich erwarte, dass Arkyn spöttisch lacht, aber das tut er nicht.
„Es tut mir leid, ich bin zu weit gegangen", wiederholt er. Seine Augen sind dunkel wie immer, aber ich kann Reue in ihnen erkennen.
Ich seufze theatralisch. „Es geht ja nicht nur um die Sache gerade eben. Du verhältst dich zu jeder Tageszeit unmöglich und ich weiß nicht, ob es an mir liegt oder ... -"
Im nächsten Moment unterbreche ich mich selbst. Genauer gesagt ein viel zu lautes Hicksen unterbricht mich.
Schluckauf.
Und ich bin auch noch diejenige, die hicksen muss. Vor lauter Scham kribbeln mir die Wangen und ich presse fest meine Lippen aufeinander, um nicht noch einmal aufstoßen zu müssen.
„Hast du was getrunken?", fragt Arkyn, bevor er in schallendes Gelächter ausbricht.
Oh Boden, tu dich auf und verschling mich! Wieso muss ich mich ständig blamieren?
„Das ist nicht lustig", zische ich und meine Worte werden von einem weiteren Hicksen begleitet, was meinen Worten wenig Glaubwürdigkeit verleiht und Arkyn dazu verleitet, noch lauter zu lachen.
Seltsamerweise klingt es nicht so spöttisch wie sonst; eher, als würde es von Herzen kommen.


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