XI

Die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg zwischen den meterhohen Baumstämmen hindurch, die lange Schatten auf den moosbedeckten Boden werfen.
Ein paar Vögel zwitschern und der Wind lässt die Blätter der Bäume rascheln und zu Boden segeln. In der Luft liegt eine Spannung, die mir eine leichte Gänsehaut auf die Arme zaubert. Ich höre Chases keuchenden Atem neben mir, den Bogen hält er griffbereit in der Hand. Ich selbst bin unbewaffnet, die Jäger mit denen ich unterwegs bin – Chase, Arkyn und zwei Frauen mittleren Alters – meinten, es sei besser, wenn ich vorerst nur einmal zusehe.
Ein bisschen enttäuscht bin ich schon deswegen, aber ich kann sie verstehen. Ich würde sowieso nichts treffen. Heute sind wir die einzige Jägerpatrouille, die unterwegs ist. Systematisch streifen wir durch den Wald. Chase und die beiden Frauen tragen ihre Bögen bei sich, während Arkyn mit Messern ausgestattet ist.
Eine Weile kämpfen wir uns schweigend durch das Unterholz, bedacht nicht zu viel Lärm zu machen.
Meine Gedanken wandern immer wieder an den gestrigen Abend und den überaus attraktiven Rücken eines charakterlich weniger attraktiven Menschen. Arkyn hat kein Wort darüber verloren, worüber ich ihm ehrlich gesagt sehr dankbar bin. Aber trotzdem krieg ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf.
Ganz schusselig bin ich heute deswegen, trete immer wieder auf Aststückchen, die unter meinen Füßen knacksen und ernte dafür böse Blicke. Arkyn bezeichnet mich sogar als tollpatschigen Troll. Übrigens die einzigen Worte, die er heute an mich gerichtet hat.

Plötzlich höre ich ein Knacksen im Gebüsch. Ich erwarte eine weitere Beschimpfung in die Richtung tollpatschiger Troll, als ich ein Reh erblicke, das mich durch seine dunklen, schimmernden Augen beobachtet. Es sieht uns nur zu, läuft nicht einmal davon.
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Gleich bist du tot, denke ich und am liebsten hätte ich mich schützend vor das Tier gestellt.
Im Augenwinkel erkenne ich, wie Chase blitzschnell einen Pfeil aus seinem Köcher zieht und den Bogen spannt. Das Reh zuckt zusammen, dreht sich um und sprintet los.
Doch die Millisekunden, in denen es uns beobachtet hat, werden ihm nun zum Verhängnis.
Ich zucke zusammen, als Chases Pfeil sich mit einem dumpfen Laut in den Bauch des Tieres bohrt und es zu Boden sackt.
Bevor ich zu dem Reh laufe, sehe ich noch, wie Arkyn und Chase sich abklatschen.
Als ich das tote Reh aus der Nähe sehe, dreht sich mir der Magen um. Blut. Überall Blut.
Chase bückt sich vor dem toten Reh nieder und zieht ihm den Pfeil mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Bauch; ich presse mir die Hand auf den Mund.
„Sei kein Weichei", flüstert mir Arkyn zu, der direkt hinter mir steht. So nahe, dass ich seinen warmen Atem im Genick spüre. Mein Herz macht einen erschrockenen, kleinen Hüpfer.
„Wie wäre es, wenn wir uns aufteilen?", schlägt eine der beiden Jägerinnen vor und die anderen stimmen alle zu. Schnell sind drei Gruppen gebildet. Die beiden Frauen ziehen gemeinsam los und nehmen sich den östlichen Teil des Waldes vor, Chase, der auch das tote Reh mitnimmt, wird der westliche Waldabschnitt zugeteilt und Arkyn und ich sollen hierbleiben.
„Wieso kann ich nicht bei Chase bleiben?", seufze ich und Arkyn verdreht die Augen. „Ich dachte, das Messerwerfen soll deine zukünftige Disziplin werden?"

Ohne auf mich zu warten, stapft er tiefer in den Wald hinein. Wir reden kein Wort miteinander. Das einzige Geräusch, das zu hören ist, ist das gleichmäßige Rascheln der Blätter im Wind. In der rechten Hand hält Arkyn sein Messer, er bewegt sich so leise durch das Unterholz, das es beinahe gruselig ist.
Ein lautes Knacksen ertönt, als ich auf einen Ast am Boden trete. „Psssst, bist du verrückt geworden?", faucht Arkyn und funkelt mich böse an. Seine Augen sind so dunkel, beinahe schwarz. „Tschuldigung", murmle ich. Es ist wohl besser, wenn ich keine Diskussion mit ihm eingehe.

Plötzlich streckt er seinen Arm aus und hält mich zurück. „Halt die Klappe", haucht er, bevor ich lautstark protestieren kann. Erstaunt folge ich seinem Blick. Ein prächtiger Hirsch lugt zwischen zwei Bäumen hervor. Der warme Blick in seinen Augen erinnert mich sofort wieder an das tote Reh von vorhin. Ein Knoten bildet sich in meinem Hals.
Lauf, Hirsch, lauf solange du noch kannst, denke ich. Aber der Hirsch rührt sich nicht von der Stelle. Ich merke, wie Arkyn seine Muskeln anspannt, langsam zückt er das Messer.
Jeden Augenblick wird er werfen.
Mein Herz rast. Wieso läuft der Hirsch nicht davon?
Ohne nachzudenken stürme ich in zwei gewaltigen Sätzen auf das Tier zu. Äste brechen unter meinen Füßen, das Geräusch hallt durch den ganzen Wald. Der Hirsch zuckt erschrocken zusammen und jagt davon.

Schweratmend bleibe ich stehen. Was war das denn? Ich muss vollkommen übergeschnappt sein, so viel steht fest.
Vorsichtig drehe ich mich um, Arkyns Blicke erdolchen mich. „Bist du ... bist du vollkommen übergeschnappt, du dummes Ding!", brüllt er und kommt – das Messer immer noch gezückt – auf mich zu. Seine dunklen Augen sprühen vor lauter Zorn.
Mein Herz rast vor Angst. Will er jetzt etwa mich anstelle des Hirsches abstechen?
Ich halte mir schützend die Hände über den Kopf. Auf einmal bleibt er stehen, schüttelt den Kopf, als hätte er gerade erst bemerkt, dass er mit erhobenem Messer auf mich zugestürmt ist. Sofort lässt er die Arme sinken, ein beschämter Ausdruck tritt in sein Gesicht.
Ich spüre Tränen in meinen Augen brennen. Verzweifelt versuche ich sie wegzublinzeln.
„Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Tut mir leid", flüstere ich.
Arkyn stöhnt nur frustriert auf und schiebt das Messer in eine lederne Messerscheide an seinem Gürtel. „Du bist echt ganz schön blöd, weißt du das eigentlich?", knurrt er und für eine Millisekunde denke ich, dass er jetzt ein Kompliment hinten dranhängen wird.
Du bist echt ganz schön blöd, aber trotzdem irgendwie süß. Nur so als Vorschlag.
Aber natürlich habe ich mich getäuscht.
„Wie willst du Jägerin werden, wenn du nicht einmal zu sehen kannst, wie jemand ein Tier tötet? Von irgendetwas müssen wir hier leben."
Ich schlucke. „Ich weiß selbst nicht, was ich mir dabei gedacht habe."
Er lacht trocken. „Mir scheint es fast, als würdest du dir nie irgendetwas denken."
Ich schnappe nach Luft. „Jetzt gehst du aber zu weit. Ich weiß nicht, warum ich den Hirsch verscheucht habe und es tut mir wirklich leid, aber das hier ist alles neu für mich!"
Kurz ziehe ich es in Erwägung, ihm mein Herz auszuschütten, lasse es dann aber doch bleiben. Er scheint auch kein Interesse daran zu haben, meine Leidensgeschichte zu hören.

„Verdammt. Schon zehn nach sieben. Wenn wir noch ein Frühstück wollen, müssen wir uns beeilen", meint er und fällt in einen leichten Trabschritt. Schweigend hefte ich mich an seine Fersen.
Während wir Richtung Anwesen marschieren, lässt er mich links liegen. Den Blick hat er in die Ferne gerichtet und er scheint tief in seinen Gedanken versunken zu sein.
Um kurz vor halb acht erreichen wir das Schloss. Ich presse mir die Hände in die Hüften, meine Kondition scheint lauftechnisch nicht die beste zu sein, während Arkyn nur leise keucht.
„Wenn du Jägerin werden willst, brauchst du definitiv eine bessere Kondition", meint er. War ja klar. „Du kannst auch nur meckern", keuche ich, „Ich glaube, ich werde das Frühstück ausfallen lassen und stattdessen duschen gehen."
Ein hämisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Erkunde dieses Mal aber besser nicht die Männerduschen. Manche Typen mögen es nicht, angestarrt zu werden."
Ich spüre, wie an meinem Hals die Röte hinaufkriecht, während ich in den Tiefen meines Gehirns verzweifelt nach einer Beleidigung suche, die Arkyn gerecht wird.
„Arroganter Schnösel", zische ich schließlich, auch wenn ich damit nicht ganz zufrieden bin. Arkyn grinst nur noch selbstgefälliger. Schnaubend drehe ich mich um und will mich aus dem Staub machen, als er mir etwas nachruft. „Tschüss, Clara!"
Wutentbrannt stiere ich ihn an. „Ich heiße Clarice, verdammt."
Ich glaube, es ist das erste Mal in meinem Leben, dass mir das Wort verdammt über die Lippen rutscht.

Nachdem ich eine eisige Dusche – diesmal in meinem Stockwerk – genommen habe, schlüpfe ich in frische Klamotten – ich entscheide mich für das eintönige graue Kleid – und mache mich auf den Weg zum Krankenlager.
Diesmal steht Janae nicht singend im Garten, aber sobald ich das Haus betrete, werde ich herzlich empfangen. „Clarice!", ruft Magretta erfreut und drückt mich an ihre Brust und ich atme einmal tief den Geruch nach herben Kräutern ein.
Auf einmal knurrt mein Magen so laut, dass ich mir sicher bin, dass man es bis in das Turmzimmer der Königin hören muss. Janae bricht in Lachen aus. „Es gab doch erst Frühstück. Du bist vielleicht gefräßig."
Ich seufze deprimiert. „Für mich gab es kein Frühstück, ich war auf der Jagd und wir sind zu spät zurückgekommen. Ich habe einen Bärenhunger."
„Das müssen wir ändern", ruft Magretta und beginnt bereits in der Küche mit den Tellern zu hantieren.

Zehn Minuten später sitze ich an dem klapprigen Tisch und schaufle eine riesige Portion Rührei in mich hinein, während ich meinen beiden Pflegerkolleginnen von meinem Jagdausflug erzähle. Ich lasse kein Detail aus, auch nicht das mit dem Hirsch.
„Ach Clarice", seufzt Magretta und nippt an ihrer Teetasse, „Vielleicht bist du einfach nicht für die Jagd gemacht."
„Ich weiß es ja auch nicht", stöhne ich frustriert.
„Lenk nicht vom Thema ab, was war dann? Hat Arkyn dich zur Schnecke gemacht?", fragt Janae, in ihrer Stimme schwingt Aufregung mit.
Ich grinse. „Ja, hat er. Ich dachte schon, er wird mich jetzt anstelle des Hirschs abstechen, so sauer war er." Janae beginnt zu lachen, dass ihre Locken nur so wippen.
„Aber glaub mir, das habe ich nicht so auf mir sitzen lassen! Bevor ich abgezischt bin, hab' ich ihn noch einen arroganten Schnösel genannt." Die Sache mit der Dusch-Panne lasse ich geflissentlich weg; alles müssen die beiden ja auch wieder nicht wissen.
„Du hast Arkyn wie genannt?", fragt Janae; jetzt klingt sie beinahe besorgt, auch ihr Gesichtsausdruck ist ernst. Ich runzle die Stirn. „Ich habe ihn einen arroganten Schnösel genannt. Zugegebenermaßen war ich damit auch nicht zu hundert Prozent zufrieden, aber vielleicht hat es zumindest ein bisschen an seinem Ego gekratzt."
„Clarice, du verstehst nicht", mischt sich jetzt auch noch Magretta ein, auch sie blickt mich stirnrunzelnd an, „Arkyn scheint nicht gerade die Freundlichkeit in Person zu sein. Die meisten können ihn nicht leiden, aber das hättest du nicht sagen dürfen."
„Warum denn nicht? Ich glaube nicht, dass „arroganter Schnösel" ihm das Herz gebrochen hat!"
Magretta winkt ab. „Darum geht es nicht. Wahrscheinlich weißt du es nicht, aber Arkyn ist Mitglied des Dunklen Rates."
Mein Herz setzt aus.


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