VIII

Während ich schweigend und tief in Gedanken versunken in den Wald starre, fällt mir meine Trainingsstunde wieder ein. Ich schrecke hoch und sprinte los.
Noch einmal zu spät zu kommen, kann ich mir wirklich nicht erlauben. Immerhin möchte ich einen guten Eindruck hinterlassen. Ich muss in den Dunklen Rat aufgenommen werden, um an wichtige Informationen zu gelangen. Aus einem anderen Grund bin ich nicht hier. Ich habe mich angepasst, ich übe Gestaltwandeln und sammle so viele Hinweise wie möglich. Jetzt kann ich nicht sentimental werden, wenn ich ein paar Bäume sehe, die mich an Zuhause erinnern.

Als ich vollkommen außer Atem am Übungsplatz ankomme, ist die Königin schon da.
Die streng zurückgebundenen Haare verleihen ihr einen noch furchteinflößenderen Eindruck. Sie trägt eine weite, olivfarbene Hose und enge, schwarze Schnürstiefel.
„Du bist zu spät", stellt sie fest, bevor ich auch nur den Mund öffnen kann, um mich zu entschuldigen.
„Tut mir leid, ich..."
„Du kannst dir deine fadenscheinige Entschuldigung sparen, wir fangen besser an", unterbricht sie mich und ich klappe den Mund wieder zu. Sie deutet mir, mich auf einen der Baumstämme, die den Übungsplatz begrenzen, zu setzen.
Zögerlich lasse ich mich neben ihr nieder.
„Heute werden wir etwas theoretischer arbeiten. Deine erste praktische Übungsstunde gestern hast du ja bereits abgeschlossen."
Ich nicke eifrig, um der Königin zu zeigen, dass ich bereit bin zu lernen.
Natürlich bekomme ich keine Reaktion. Inzwischen sollte ich wissen, dass ich mit Einschleimen nicht weit kommen werde.
Aber ich habe mir bereits vorgenommen, bei jeder Übungsstunde das Beste zu geben. Außerdem übe ich jeden Morgen vor dem Spiegel das Gestaltenwandeln.
Zuerst hatte ich ein komisches Gefühl dabei im Bauch. In Duniya wird jedem Kind von Geburt an eingetrichtert, dass das Gestaltenwandeln ein Fluch ist. Es ist falsch und jeder, der diese Gabe besitzt, sollte sich schämen.
„Clarice!", ertönt die Stimme der Königin unmittelbar neben mir. Erschrocken zucke ich zusammen. „Pass gefälligst auf, wenn ich dir etwas beibringen will!"
Mein Herz setzt für einen Schlag aus. „Das tut mir leid. Ich ... war nur so ..." „In Gedanken versunken?" Ein abschätziges Lächeln umspielt ihre Lippen, als mir die Röte den Hals hinaufkriecht.
„Mir ist beinahe so, als wärst du sehr oft in Gedanken versunken. Da frage ich mich doch, welche großartigen Gedanken in deinem Erbsenhirn herumschwirren."
Ich schlucke. Eure Hoheit, ich bin eine Spionin, deren einziges Ziel es ist, Ihre geheimen Pläne über eine mögliche Flucht der Gestaltenwandler zu stehlen und Ihrer Schwester zu überbringen, um meine eigene Freiheit zu gewinnen.
Natürlich halte ich die Klappe, auch wenn Zinariyas triumphierendes Lächeln mich alle Kraft kostet ihr genau das nicht ins Gesicht zu schleudern.

„Gestaltenwandlern ist es möglich, die Gestalt anderer Menschen anzunehmen, allerdings nicht die magischer Wesen, wie oder Schattenkreaturen. Auch die Gestalt von Tieren können wir nicht annehmen." Sie knirscht mit den Zähnen. „Auf jeden Fall ist kein Gestaltenwandler bekannt, der den Körper eines Tieres annehmen könnte."
„Wieso kann man sich nicht in ein Tier verwandeln?", frage ich. „Das kann doch nicht recht viel anders sein, als die Gestalt eines Menschen anzunehmen."
Das bittere Lachen der Königin jagt mir einen Schauer über den Rücken. „Man merkt, dass du noch viel lernen musst. Die Verwandlung läuft so ab, dass Konzentration aufgebaut werden muss, um den Verwandlungsvorgang einzuleiten. Diese Konzentration muss auch aufrechterhalten werden, bis die Verwandlung vollführt ist. Danach bedarf es nur noch einer geringen Grundkonzentration in der angenommenen Gestalt. Je kleiner die Gestalt ist, in die man sich verwandeln will, desto schwieriger wird es. So ist zum Beispiel die Verwandlung in Mikroorganismen und Bakterien unmöglich. Ob man sich theoretisch in einen Hund verwandeln kann, wissen wir nicht. Dafür müsste der entsprechende Gestaltenwandler außergewöhnlich starke Fähigkeiten besitzen."
„Was ist mit sehr großen Gestalten?", hake ich nach.
„Das ist genauso schwer, wie die ganz kleinen. Auch das Verwandeln in Gegenstände ist uns natürlich nicht möglich. Doch zum Glück können wir bei der Verwandlung auch die Kleidung einer bestimmten Person annehmen. So ist es auch möglich, dass wir unsere eigene Gestalt in veränderter Kleidung annehmen."
Beinahe kann ich die Rädchen in meinem eigenen Gehirn rattern hören, so kompliziert ist das Ganze.
Eine irrsinnige Frage tut sich auf. „Kann man dann in einer Kampfsituation die eigene Gestalt annehmen, die plötzlich eine Waffe in der Hand hat? Zählen Waffen als Kleidungsstücke?"
Königin Zinariya lacht bitter. „Das würde einiges leichter machen, nicht? Leider ist das nicht möglich, da eine Waffe kein Kleidungsstück ist. Waffen fallen in die Kategorie Gegenstand."

„Ganz schön kompliziert", seufze ich und reibe mir die Stirn.
„Noch Fragen?"
Zögerlich nicke ich und nutze meine Chance, Informationen über meine Gabe zu sammeln. „Was passiert, wenn man in veränderter Gestalt einschläft?"
„Sobald man im verwandelten Zustand einschläft, in Ohnmacht fällt oder stirbt, bleibt die Grundkonzentration nicht aufrechterhalten und man nimmt seine eigene Gestalt wieder an. Wie du wahrscheinlich schon mitbekommen hast, erscheint, sobald man sich verwandelt, ein schwarzer Nebel."
Mit einem Schlag fällt mir meine erste Verwandlung ein und der dichte, schwarze Rauch, der mich umgeben hat. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und nicke.
„Wie dieser Nebel genau entsteht, wissen wir nicht. Aber es ist vollkommen normal. Wir konnten auch beobachten, dass das Erscheinen dieses Rauchs, während der Verwandlung, weniger wird, je besser man die Gabe beherrscht."
„Das habe ich auch schon beobachtet. Bei meiner ersten Verwandlung war es viel mehr Nebel, als jetzt noch erscheint."
Die Königin mustert das Wollkleid, das ich trage. „Wie ich sehe, bist du heute ebenfalls in verwandelter Gestalt unterwegs. Ein guter Fortschritt, Clarice. Du scheinst keine Probleme zu haben, die Grundkonzentration aufrechtzuerhalten und länger in verändertem Aussehen unterwegs zu sein."
Innerlich seufze ich erleichtert auf, das temperamentvolle Gemüt der Königin scheint sich beruhigt zu haben. Ich wage eine weitere Frage.
„Wieso tragen alle Gestaltenwandler diese graue Einheitskleidung? Wäre es denn nicht viel einfacher, immer in veränderter Gestalt zu sein?"
„Magie ist gefährlich, Clarice. Sie macht beinahe süchtig und es wäre nicht richtig, sein ganzes Leben darauf auszurichten. Gewöhnliche Alltagskleidung ist ein Zeichen der Bodenständigkeit, ein Zeichen dafür, dass wir auch ohne unsere Magie zusammengehören."

Am Rückweg zum Schloss dämmert es bereits leicht und ich bin hundemüde von dem Training mit der Königin. Trotzdem beschließe ich, noch einmal bei den Gedenksteinen vorbeizuschauen. Etwas an ihnen fasziniert mich; der Gedanke an die Gestaltenwandler und die Taten die sie wohl vollbracht haben müssen, dass ihnen ihre Gleichgesinnten Denkmäler aufgestellt haben.
Ich schlendere über den Kiesweg und bücke mich vor einem der Gedenksteine nieder.
Ein angenehmer Schauer läuft mir über den Rücken, als ich versuche die Buchstaben darauf zu entziffern. Ich fühle mich wie die Figur in einer Gruselgeschichte, die ich liebend gerne lese. Für einen Moment vergesse ich die heikle Situation in der ich mich befinde. Ich vergesse meine Eltern, die Königin, meine Gabe.
Gedankenverloren male ich die Einkerbungen in dem harten Stein mit den Fingern nach. Ich streiche darüber und frage mich erneut, was für einem Menschen diese Gedenkstätte wohl gewidmet wurde und was er oder sie erreicht hat.
„Was tust du da?" Eine eiskalte Stimme ertönt hinter mir und ich fahre erschrocken herum.
„Ich ... hab mir bloß die Gedenksteine angeschaut", krächze ich und kämpfe mich vom Boden hoch, was gar nicht so leicht ist, denn inzwischen sind meine Beine eingeschlafen und kribbeln jetzt unangenehm. Ich mustere den Typen, der mich aus meinen Gedanken gerissen hat, verstohlen. Er scheint etwas älter als ich zu sein, das dunkle Haar glänzt im Mondlicht und einige Wellen hängen ihm in die Stirn. Auch er scheint mich zu beäugen.
„Zum Schauen benutzt man – soweit ich weiß – die Augen und nicht die Hände", knurrt mir mein Gegenüber zu.
In mir beginnt es zu brodeln. Ich habe nichts verbrochen. Es war vielleicht nicht höflich, die Gedenksteine zu berühren, aber deshalb braucht mich dieser Besserwisser nicht gleich anzufauchen. Lebt denn in diesem gottverdammten Schloss niemand, der auch nur ansatzweise nett ist?
„Clarice mein Name. Ich freu mich auch wahnsinnig dich kennenzulernen", schnaube ich und will mich schon umdrehen und gehen, als der Typ auch noch zu lachen beginnt.
Ein tiefes Geräusch, das aus dem inneren seiner Brust zu kommen scheint.
Ich halte verdutzt inne und drehe mich wieder um.
„Ist was?", fauche ich. Was erlaubt sich dieser Lackaffe eigentlich?
„Keineswegs", antwortet er und seine weißen, in Reih und Glied angeordneten Zähne blitzen im Dunklen auf, „Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand so mit mir spricht."
Ich reiße die Augen auf; mit einer solchen Antwort habe ich nicht gerechnet.
Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand so mit mir spricht", äffe ich ihn nach und schnaube verächtlich. „Soll ich dich mit „Eure Majestät" ansprechen oder reicht „Euer Hochwohlgeboren" auch?"
Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihm auf die Schuhe zu spucken, sondern stolziere einfach davon. Seine Blicke bohren sich in meinen Rücken, aber ich wage es nicht, mich noch einmal umzudrehen.
Kaum habe ich den Fuß in die Eingangshalle gesetzt, läutet auch schon die Glocke zum Abendessen und ich mache mich erleichtert auf den Weg zum Speisesaal.

Heute kann ich mich gar nicht auf das Essen konzentrieren, immer wieder wandert mein Blick zur Tür oder schweift über die Bänke, um Ausschau nach dem Typen von vorhin zu halten. Aber ich kann ihn nirgendwo entdecken.
Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Inzwischen weiß ich, dass alle Gestaltenwandler im Speisesaal essen, nur die wichtigen Mitglieder des Dunklen Rates nehmen die Mahlzeiten in ihren Zimmern zu sich.
Was, wenn er ein Mitglied des Rates ist? Mein Herz beschleunigt sich und ich lege den Löffel mit zittriger Hand zurück in die Schüssel.
Mist, Mist, Mist.
So viel zu „einen guten Eindruck hinterlassen" und „in den Rat aufgenommen werden".
Wenn dieser arrogante Typ tatsächlich beim Dunklen Rat sein sollte, dann wird er mich mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit bei Zinariya verpetzen.
Eigentlich wollte ich heute ein paar weitere Informationen aus Xanthio herauskitzeln, aber dazu habe ich nun wirklich keine Lust mehr. Der Gedanke, dass ich schon wieder alles vermasselt habe, lässt mich nicht los.


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