II

Nur das Klackern von Absätzen auf Steinboden hallt durch die hohen, unterirdischen Hallen.
Wir befinden uns direkt im Inneren der kleinen Insel und ich kann beinahe das Klatschen der Wellen an die schroffen Felsen hören.
Königin Charis eilt schnellen Schrittes voran und ich kann kaum mit ihrem Tempo mithalten.
Das Ganggewirr in diesem Teil des Schlosses kommt mir wie ein Labyrinth vor. Oder eher wie ein Irrgarten, ohne Anfang und Ende.
Nachdem wir das tausendste Mal abgebogen sind, erblicke ich ein Tor. Endlich eine Abwechslung von dem düsteren Hallenwirrwarr. Eiserne Beschläge zieren das dunkle Holz und sind in verschnörkelter Form angebracht. Auf beiden Türflügeln befindet sich je ein tellergroßes Wappen Duniyas und das Fackellicht in den Gängen bringt die Embleme zum Leuchten.
„Wieso bewacht niemand dieses Tor?", frage ich und Charis streicht beinahe zärtlich über das rustikale Holz.
„Das ist nicht nötig", meint sie, „Das Archiv der Prophezeiungen ist der wahrscheinlich sicherste Raum in ganz Duniya."
Erst jetzt fällt mir auf, dass das Tor keinen Knauf besitzt.
„Umdrehen", befiehlt Königin Charis und ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass sie mich meint. Ich gehorche und blicke zurück in den Gang, der sich am Ende in zwei weitere teilt. Ich höre ein kurzes Klackern, dann darf ich mich wieder der Tür zuwenden, die nun geöffnet vor uns liegt.

Mein Blick fällt in eine riesige Halle mit haushohen Marmorwänden, die eine kuppelartige Decke formen. Nicht ganz so pompös wie die goldene Baldachindecke im oberirdischen Teil des Schlosses, aber bestimmt so groß, dass zwei Häuser übereinander Platz hätten.
Die hintere Wand des Raums wird von einem Mosaik geschmückt. Funkelnde, daumennagelgroße Steinchen, die zu einem lebensechten Abbild der zwölf Göttinnen Duniyas zusammengesetzt wurden. Die zwölf wunderschönen Frauen strahlen von der Wand und ich kann kaum die Augen abwenden. Jede Familie in Duniya hat ein Bild der Göttinnen im Haus hängen, doch noch nie habe ich ein solch detailgetreues Mosaik gesehen.
Mein Blick bleibt an der Nebelgöttin Haze hängen. Ihre graublauen, wilden Locken umfließen ihren Oberkörper und bilden einen starken Kontrast zu ihrer porzellanblassen Haut.
Haze ist es, die jeden Morgen dichten Nebel über Duniya legt, in dem das Land zu verschwinden scheint. Als ich noch jünger war, habe ich mich in den frühen Morgenstunden einmal aus dem Haus geschlichen, um auf den Wiesen Blumen zu pflücken, als mich der Nebel überraschte. Beinahe hätte ich mich in den weißen Weiten verirrt, doch selbst der stärkste Nebel lichtet sich irgendwann wieder.
Seither verehre ich Hazes Gabe, eine ganze Welt verschwinden zu lassen.

„Das Archiv der Prophezeiungen", flüstert Königin Charis mir zu und ihre Augen glitzern wehmütig, als sie mich ansieht. „Es ist wunderschön", hauche ich und lasse meinen Blick von dem Mosaik zu den Seitenwänden der Halle gleiten, in die – im Abstand von einer Armlänge – Einbuchtungen in den Stein geschlagen wurden. Diese sind etwa zwei Meter breit, ellbogentief und führen fast bis zum bogenförmigen Deckenansatz.
Königin Charis deutet mir, ihr zu folgen und wir bleiben vor einer der Vertiefungen stehen.
„Hier befinden sich alle Visionen meiner Vorfahren", erklärt sie und deutet auf das untere Ende der Einbuchtung, das sich auf Kniehöhe befindet. Ein goldenes Plättchen schmückt den Marmor. Ich bücke mich, um die winzige Inschrift zu lesen.
Sarkin.
„Mein Vater", seufzt Charis und ihr rechter Zeigefinger streicht vorsichtig über den Namen des ehemaligen Königs, der so überraschend starb, als Charis erst achtzehn war.
Seufzend wendet sie sich ab und schreitet zurück in die Mitte des Raums.
Mein Blick wandert zurück zu dem Namensschild des ehemaligen Königs. Blut klebt an dem goldenen Plättchen; frisch und glänzend wie rote Rubine.
Erschrocken folge ich der Königin.

Langsam wandere ich durch die Halle, lasse meine Augen über die riesigen Aushöhlungen der Wände gleiten. An der Innenseite wurden in den Stein dutzende untertellergroße, dunkelgraue Steinplättchen eingelassen, die mit einem halben goldenen Mond und einer halben goldenen Sonne verziert wurden.
„Wie das Wappen von Duniya", stelle ich fest, „Was genau ist das?"
Charis lächelt nachsichtig und ich schäme mich für meine Unwissenheit.
„Das, mein Kind, sind die gespeicherten Prophezeiungen meiner Ahnen. Jeder ehemalige Herrscher mit der Gabe des Zukunftslesens speicherte seine Visionen und hütete sie hier – im Archiv der Prophezeiungen."
Jetzt wo ich ihren Zweck kenne, scheinen sie mich von allen Seiten anzufunkeln und im dämmrigen Licht der Kronleuchter zu leuchten. Nach genauerem Hinsehen, stelle ich fest, dass in manchen Sektionen freie Plätze sind, auch bei König Sarkin ist eine leere Stelle, an der eigentlich eine Prophezeiung hätte stecken müssen. Wahrscheinlich wurden unwichtige Weissagungen nicht aufgehoben, überlege ich. Vielleicht sind welche verloren gegangen. Absichtlich entfernt worden. Der Gedanke jagt mir eine Gänsehaut über die Arme.
„Wie ist es möglich, eine Zukunftsvision zu speichern?", frage ich die Königin und streiche mit den Fingerspitzen über den kalten Marmor. So viel Vergangenheit in einem Raum.
„Nur der äußerst seltene und teure Mondstein hat die Fähigkeit, Prophezeiungen zu speichern." Sie deutet auf die Plättchen, die in den Wänden verankert wurden.
„Ich will dir nun die wahrscheinlich wichtigste Prophezeiung im Archiv zeigen. Kurz vor meiner Krönung mit achtzehn Jahren hat diese Vision mich ereilt. Ich habe bereits alles vorbereitet, folge mir!"

Sie führt mich durch die riesige Halle, vorbei an abertausenden gespeicherten Visionen, in die Mitte des Raums. Ein rundes Podest mit einem Durchmesser von etwa acht Metern ziert die Raummitte.
Drei steinerne Stufen führen hinauf, der Boden ist marmorfarben, wie der Rest der Halle, und in der Mitte thront ein brunnenähnliches Wasserbecken. Zögerlich folge ich Königin Charis und stelle mich gegenüber von ihr an den Rand des hüfthohen Beckens. Die Schüssel ist rund und in etwa so groß wie ein Waschbecken. Die Wasseroberfläche liegt so klar vor mir, dass meine eigene Spiegelung kaum verzerrt ist. In der Mitte des Beckens befindet sich eine Einkerbung in den hellen Stein; rund und genau so groß wie die Prophezeiungen.
Als hätte Königin Charis meine Gedanken erraten, greift sie mit der rechten Hand in die Tiefen ihres Kleides und zieht eine Prophezeiung hervor. Sie wiegt das zentimeterdicke Plättchen kurz in ihrer Hand, bevor ihre Finger die Wasseroberfläche durchbrechen und sie die Prophezeiung in der Einkerbung platziert.
Der dunkelgraue Mondstein liegt in dem hellen Brunnen wie ein schwarzes Schaf unter lauter Weißen.
Es ist mucksmäuschenstill in der Halle, nur das leise Plätschern des Wassers ist zu hören. Ich öffne den Mund, um die Stille zu durchbrechen, aber Königin Charis legt den Finger an die Lippen und deutet auf das Becken.
Im nächsten Moment geht ein zartes Leuchten von der Prophezeiung aus. Bläuliche Lichtwellen bringen das Wasser dazu, sich leicht zu kräuseln. Als mir die Königin den Blick zuwendet, erkenne ich das blaue Lichterfunkeln des Mondsteins darin, der unaufhaltsam pulsiert. Ihre schmalen Lippen beben leicht, ihre Finger hat sie so fest an den Beckenrand geklammert, dass sie Knöchel weiß hervortreten.

„Unglaublich", entfährt es mir, als auf einmal ein verschwommenes Bild auf der Wasseroberfläche erscheint. Zuerst stark verzerrt, vermischt mit meinem eigenen Spiegelbild, das mir mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrt, dann immer deutlicher.
Ich erkenne das Schloss, golden glänzend in hellem Morgenlicht. Dann die Seen Duniyas, klar und rein mit strahlend bunten Steinen am Ufer. Wiesen, deren sattes Grün sogar durch den Nebelmantel schimmert. Lachende Menschen, geschäftige Straßen, einen Wald. Beinahe kann ich den harzigen Geruch und das Zwitschern der Vögel wahrnehmen.

Auf einmal ändert sich die Atmosphäre der Vision. Eine Gänsehaut kriecht mir die Arme hinauf, als dunkle Schatten vom Rand des Beckens das Wasser verdunkeln.
Die beruhigenden Waldlaute verstummen und werden von einem seltsamen Knistern und Rascheln übertönt. Ganz leise vernehme ich menschliche Stimmen im Hintergrund, schnell und gehetzt, aber lauterwerdend.
Ich werfe der Königin einen verwirrten Blick zu, aber sie hat die Augen stumm auf die Wasseroberfläche geheftet. Ihr rechtes Augenlid zuckt.
Eine Stimme ertönt, klar und so laut, dass ich erschrocken zusammenzucke.

Sie ist ein Monster, das nicht ruht. Merkt ihr denn nicht, wie sie nach Rache lüstert? Sie ist Duniyas Verderben.

Das Bild verändert sich, die grünen Blätter des Waldes färben sich schwarz und segeln zu Boden wie Federn im Wind. Die Bäume breiten ihre verkohlten Äste aus und verschlingen das Licht.
„Der Schattenwald", entfährt es mir und mein Herz beginnt zu rasen. Der Schattenwald befindet sich im Nordwesten Dunyias und in seinem Inneren liegt das Anwesen, in dem die Gestaltenwandler leben müssen. Vor langer Zeit wurde es als Sommerresidenz für die Königsfamilie genutzt, doch als die Gestaltenwandlerei verboten wurde, beschloss man, das Schloss den Verbannten zur Verfügung zu stellen. Nun ist es kein Ort der Freude mehr. Ein Wald wurde um das Schloss gepflanzt und bald nisteten sich dort auch die fürchterlichsten Kreaturen ein. Schattenwesen werden sie genannt, aber nur im Stillen, denn niemand würde dieses Wort je aussprechen.
Ein Zaun trennt die Welt der Gestaltenwandler von meiner. Ein undurchdringlicher Zaun, der die Bevölkerung schützt. Nur ein Zaun, der die Grenze zwischen Gut und Böse bildet.

Ihr Leben wurde zerstört. Nun wird sie eures zerstören.
Doch auch Hoffnung soll es geben. Ein Mädchen, von Hiru geweiht und ihrer ewigen Sonne geküsst. Ein Mädchen, am Tag einer totalen Sonnenfinsternis zur Welt gekommen, wird die Kräfte Normalsterblicher übertreffen.

Die Worte hallen durch meinen Kopf und ich muss mich am Beckenrand abstützen, um nicht zu fallen. Es ist, als hätte mir jemand die Luft zum Atmen abgeschnürt.

Du bist an einem Tag der Sonnenfinsternis geboren, Clarice. Du bist wohl eine Tochter der Sonnengöttin Hiru.

Das waren die Worte, die mir mein Vater seit meiner Kindheit immer zuflüstert. Es waren die ersten Worte, die er zu mir sagte, als ich zur Welt kam. Jeden Abend, bevor er mich ins Bett brachte, flüsterte er sie mir ins Ohr und ich fühlte mich besonders, als wäre ich tatsächlich Hirus Tochter, eine Ahnin der Sonnengöttin.
„Ich denke, du weißt, was das bedeutet", unterbricht Königin Charis meine Gedanken, ihr vielsagender Blick liegt auf meinem.
Sie will gerade weitersprechen, als die Stimme in der Prophezeiung noch einmal ertönt.
Charis steckt ihre zitternde Hand ins Wasser und reißt den Mondstein mit einem Knirschen aus der Einkerbung. Die Stimme versiegt, das bläuliche Licht wird schwächer und das Bild verschwindet von der Wasseroberfläche.
„Ich denke, du weißt, was das bedeutet", wiederholt die Königin und lässt die Weissagung in eine Tasche in ihrem Kleid sinken. Ich merke, wie sie versucht, ihre zitternden Hände vor meinen Augen zu verstecken. Ein paar Tropfen Wasser perlen von dem robusten Stoff ihres Kleids ab, als sie die Prophezeiung in ihrer Tasche versenkt.
„Ich hatte diese Vision am Tag meiner Krönung und tatsächlich gab es drei Tage später eine Sonnenfinsternis. Ich habe sofort alle Geburtsurkunden für diesen Tag durchforstet; es waren erstaunlich wenige. Nur ein Mädchen kam an diesem Tag zur Welt. Du."

„Und ... was bedeutet das jetzt?" Meine Stimme klingt unsicher und verängstigt, genauso wie ich mich fühle.
„Das ist der Grund, warum du heute hier bist. Ich kenne meine Schwester nur zu gut. Sie ist kein Mensch, der verzeiht. Ich kenne den genauen Plan der Gestaltenwandler nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie versuchen wird, die anderen Gestaltenwandler aufzustacheln. Sie werden sich an uns allen rächen. Sie werden Duniya ins Verderben stürzen."
Mein Herz rast in meiner Brust und meine Stimme ist so zittrig wie Charis' Hände, als ich spreche: „Sie sind weggesperrt. Niemals können sie zurück nach Duniya. Wir sind sicher."
Charis lacht leise, aber es klingt so bitter wie der Hustensaft, den meine Mutter mir immer gibt, wenn ich krank bin.
„Die einzige Möglichkeit, sich an uns zu rächen, ist aus dem Schattenwald auszubrechen.
Glaub mir, Clarice, wer wirklich etwas will, findet einen Weg."
„Und was habe ich damit zu tun?", frage ich und sehe zu wie sich die letzten Schimmer des bläulichen Lichts in Luft auflösen.
„Das weiß ich nicht", gibt Charis zu, „Aber was ich weiß, ist, dass du eine Rolle spielst. Eine überaus bedeutsame Rolle und es ist von höchster Wichtigkeit, dass du einmal davon erfahren hast. Bald werden wir deine Gabe erfahren und ich möchte, dass du die bestmöglichste Ausbildung erhältst."
Doch es soll auch Hoffnung geben.

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