Kapitel 1

Ein nächster Morgen. Die Dörfer in der Provinz Musashi erwachten und langsam kam Leben in das Land. Jeder ging seinen Pflichten oder Tätigkeiten nach. Die Bauern gingen auf das Feld. Die Reisernte stand an. Die Samurai badeten, nahem ihr Frühstück ein oder meditierten im Schein der aufgehenden Sonne. Ihre Strahlen blinzelten hinter dem Horizont hervor und wärmten die herbstliche Landschaft. Die Blätter der Ahornbäume in den Gärten der Samurai und Teehausbesitzer leuchteten rötlich und bildeten einen starken, aber schönen Kontrast zu den weißen Kieseln und dem Grün der Nadelbäume. Das Wasser der Flüsse und Seen funkelte in dem morgendlichen Licht.

Zwei Jungs, nicht älter als sechzehn, schlenderten durch das Dorf. Die Farbe ihrer Augen war in einem tiefen schwarz, sodass die Iriden kaum von der Pupille zu unterscheiden war. Dem Einen standen die kurz geschnittenen schwarzen Haare in alle Richtungen ab, während der Andere seine Haare lang und zu einem Zopf gebunden trug. Ihre Kimonos trugen die Farbe der Erde - braun, nicht auffällig. Sie schienen fast mit der immer größer und größer werdenden Menschenmenge zu verschmelzen. Ronin liefen an ihnen vorbei. Kinder spielten auf der Straße. Händler priesen ihre Ware an. Es herrschte geschäftiges Treiben.

Schweigend liefen sie nebeneinander durch die Straßen, immer Ausschau haltend nach potenziellen Gefahren. Ihre Schritte waren auf dem gepflasterten Weg kaum zu hören. Ihr Ziel war der Hafen. Bei dem Markt, welcher dort jeden Tag veranstaltet wurde, konnte man perfekt untertauchen und Gespräche belauschen konnte, welche manchmal mehr, manchmal weniger nützlich waren. So konnten sie immer erfahren, was sich in der Provinz gerade so abspielte.

Plötzlich blieb der Langhaarige abrupt stehen. Verwirrt drehte der Andere sich zu ihm um. "Senshi, was...," begann er leise, doch als der Junge eine Hand hob, stockte er mitten im Satz. "Still Yancha," murmelte Senshi und ließ die Hand sinken. Yancha beobachtete seinen Freund aufmerksam. Er stand aufrecht und hatte seine Augen leicht zusammengekniffen, die Lippen fest aufeinander gepresst schaute er sich konzentriert um. Er schien irgendetwas zu spüren. Yancha lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Er spürte jetzt ebenfalls eine schwache unbekannte Präsenz. Er legte den Kopf schief, als plötzlich ein Mädchen bei ihnen stand. Sie musste ebenfalls ungefähr in ihrem Alter sein, hatte schwarze Haare und ebenso schwarze Augen wie sie es hatten. Erstaunt bedachten die Beiden das Mädchen mit einem verwirrten Blick. Diese lächelte die beiden Freunde fröhlich an, machte aber keine Anstalten wegzugehen. Es dauerte vielleicht fünf Sekunden, in der sich die drei anstarrten, ohne auch nur ein Finger zu bewegen. Senshi musterte sie leicht misstrauisch, Yancha hob jetzt seinen Kopf, den er bis eben noch schief gelegt hatte, und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Ein teuflisches Grinsen bildete sich langsam auf dem Gesicht des Mädchens. Senshi und Yancha begannen gerade, sich darüber zu wundern, wieso sie sie nicht kommen gehört hatten, als sie sich plötzlich ohne Vorwarnung den Beutel mit den wenigen Ersparnissen der jungen Freunde von Senshis Gürtel schnappte und die beiden Jungs mit erstaunlicher Kraft zur Seite schubste. Blitzschnell sprintete zwischen ihnen hindurch die Straße hinunter in Richtung Markt. Sofort erwachten die Beiden aus ihrer Starre und stürzten dem Mädchen hinterher.

Senshi, welcher für sein Alter sehr groß war, konnte hin und wieder ihren schwarzen Haarschopf vor sich ausmachen. Und obwohl die Bestohlenen verdammt schnell waren - die Diebin war schneller. Gekonnt schlängelte sie sich zwischen den umher stehenden Leuten hindurch, sprang über eine Kiste, welche wohl von dem Kistenstapel am Stand nebenan gefallen war und rutschte unter einem Heuwagen durch. Die Jungs hetzten ihr hinterher. Ihre Beine trugen sie wie von selbst über die Hindernisse. Als sie am Heuwagen ankamen, trennten sie sich. Yancha machte es dem Mädchen nach, ließ sich auf die Seite fallen, rutschte unter dem Wagen hindurch, stand in einer fließenden Bewegung wieder auf und setzte ihr nach.

Senshi hingegen wurde schneller, holte tief Luft, spannte sich an und sprang. Er bekam einen Holzbalken am Heuwagen zu fassen, zog sich hoch und stand schließlich auf dem Balken. Kurz hielt er inne, um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, ging dann aber nochmal in die Hocke und stieß sich ab. Er landete auf dem niederen Dach vom Haus nebenan und rannte weiter. Von hier oben konnte er fast bis zum Markt sehen. Senshi ließ seinen Blick schweifen und entdeckte nur Sekunden später einen schwarzen Haarschopf, der sich in höherer Geschwindigkeit durch die Menge schob. Jetzt bog er nach rechts ab und hielt auf eine Gasse in Richtung Osten zu.

Senshi begann zu rennen, sprang über eine kleine Lücke zwischen zwei Häusern und rannte weiter. Hier oben kam er schneller voran als wenn er unten bei jedem Schritt befürchten musste, gegen ein Hindernis zu knallen. Er überwindete abermals eine Lücke zwischen zwei Häusern und bog dann nach rechts ab. Jetzt war er gleich auf mit der Diebin. Die Gasse war etwas leerer, nicht so überfüllt an wandernden Personen.

An der nächsten Hauswand sah er einen weiteren Kistenstapel. Dort angekommen sprang er auf die oberste Kiste, welche unter seinem Gewicht und dem Schwung des Sprunges zur Seite kippte. Senshi stieß sich ab und kam federnd auf dem Boden auf, während sich die Kisten hinter ihm krachend auf dem steinernen Grund in alle Einzelteile zerlegten. Er sah auf und blickte in das erschrockene Gesicht des Mädchens. Der Ausdruck verschwand allerdings schnell und machte einer verwegenen Miene Platz. Sie lächelte ihn teuflisch an und Senshi war gegen seinen Willen fasziniert. Fasziniert von diesem Kampfgeist und dieser Intelligenz, die ihre Augen ausdrückten. Dann switchte sie plötzlich weg und jemand konnte grade noch so verhindern, dass er in Senshi hinein rannte. Nur eine handbreit kam Yancha vor ihm zum Stehen. Keuchend sah er ihn an und mit einem unausgesprochenen Zeichen setzten sich beide zur gleichen Zeit wieder in Bewegung.

Als sie am Hafen ankamen, konnte Senshi gerade noch sehen, wie sie vor ihnen in die dichte Menschenmasse eintauchte und er verlor sie aus den Augen. Er wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Beim Markt war es zu dicht, um das Mädchen zu sehen, geschweige denn, sie zu verfolgen. Gerade stoppte sein Freund hinter ihm. "Wir haben sie verloren," keuchte er und stieß frustriert die Luft aus. "Ja, das sehe ich, Yancha," zischte Senshi wütend, "ich bin ja nicht blind." Knurrend kickte er gegen einen Stein am Boden und setzte sich wieder in Bewegung. "Das war ja nur eine Feststellung." Yancha hob beschwichtigend die Hände, während er seinem Freund folgte. Senshi brummte und suchte mit zusammengekniffenen Augen die Dörfler ab, obwohl er wusste, dass dies keinen Sinn mehr hatte. Doch dafür bemerkte er etwas anderes. Geistesabwesend nickte er Yancha hinter sich zu, noch immer das Gesicht zur Menschenmenge gedreht.

Dieser trat neben ihm und wendete seinen Blick neugierig von Senshi zu den hin und her wandernden Leuten. Er konnte beobachten, wie eine Frau gerade einen Korb mit Fischen entgegennahm. Und ein anderer verließ gerade einen Obststand. Er ließ seinen Blick auf den Menschen ruhen, betrachtete sie als Ganzes. Da fiel es ihm plötzlich auf. Alle, die auf den Markt kamen, strömten in eine Richtung. Mittlerweile waren sie näher gekommen und Yancha konnte erkennen, wohin sie liefen. Jeder einzelne ging zu einem großen Podest, welches am Rande des Marktplatzes aufgebaut worden war. Sie stießen zu der großen Menschenmenge, die sie verschluckte, wie ein großer Hai seine Beute. Sie ließen sich von der Strömung mitziehen, als Teil eines Ganzen, neugierig darauf zu erfahren, was wohl passiert war.

Yancha sah, dass, umso tiefer sie in den Menschenstrudel eingezogen wurden, umso trauriger ihre Gesichter wurden. Der Verdacht, dass es sich um etwas größeres handeln musste, nahm von Minute um Minute mehr zu. Schließlich kamen sie zum Stehen. "Hier stimmt etwas nicht." Senshi schien eher mit sich selbst zu reden, als mit seinem Freund, doch als er kurz zu Yancha blickte, nickte dieser. "Sehe ich genau so," murmelte Yancha im gleichen Tonfall zurück. Er streckte den Kopf hoch. "Kannst du was erkennen?" Senshi schielte über die Köpfe der Menschen. "Dort vorne steht jemand auf dem Podest und liest etwas vor," seufzte er. "Doch wir sind zu weit weg. Ich kann nichts verstehen." Er warf Yancha wieder einen Blick zu. Dieser nickte in Gedanken und mit einem "bin gleich wieder da" war er auf und davon. Kopfschüttelnd sah Senshi ihm nach.

Sein ganzer Körper kribbelte unangenehm und er zuckte kurz mit dem Arm, als wolle er es somit vertreiben. Er schnaubte und sah sich verstohlen um - und erstarrte. Das Adrenalin kam wie ein Stromschlag - Schnell und plötzlich. Es brachte sein Herz dazu, einen Schlag auszusetzen. Dennoch blieb er ruhig stehen und fixierte sie nur mit einem scharfen Blick. Sie starrte zurück. Jeweils der Andere musterte seinen Gegenüber prüfend, versuchte ihn einzuschätzen, seine Stärken, seine Schwächen. Menschen zogen an ihnen vorbei, sie standen da, wie zwei Felsen in der Brandung, unbewegt und starr. Zum ersten Mal konnte Senshi sie wirklich betrachten.

Ihre schwarzen Haare, er vermutete, dass sie ihr bis zu den Schultern reichten, waren zu einem hohen Zopf gebunden. Ihre Haut war blass, allerdings konnte man sehen, dass das Wetter sie abgehärtet hatte. Senshi ließ seinen Blick über ihre Kleidung schweifen. Über ihrem athletischen, schlanken Körper trug sie einen schlichten, kurzen, braunen Kimono, der mit Erde und Schlamm beschmutzt war - als hätte sie mehrere Tage unter freiem Himmel geschlafen. Er wurde von einem Gürtel gehalten, an welchem er einen nur allzu bekannten Beutel ausmachen konnte. Darunter trug sie eine weite Hakama, welche kurz über ihrem Knöchel endete und ziemlich zerrissen war. Ihre Füße steckten in Geta. Sein Blick wanderte nach oben. Die Augen, die ihn vorher schon so fasziniert hatten, waren tiefschwarz und strahlten eine Ruhe und Gelassenheit aus. Allerdings konnte man darin auch ihren Kampfgeist erkennen und die stumme Warnung, sich besser nicht mit ihr anzulegen. In Anbetracht auf den Bo blieb er auch vorsichtig. Selbst wenn es nur ein Stab war, war nicht damit zu spaßen, wenn jemand damit umgehen konnte. Und so wie sie aussah, waren höchstwahrscheinlich auch noch weitere Waffen in ihrer Kleidung. Er begann sich zu fragen, ob sie nicht doch mehr war, als eine einfache Taschendiebin. Ja, er bezweifelte es sogar. Was ihn jedoch ein wenig verwirrte war, dass sie kein trauerndes Gesicht machte, so wie die umher strömenden Menschen um sie herum. Lediglich ein kurzer Anflug von Schuldgefühlen blitzte auf.

Sie blickten sich in die Augen. Senshi schätzte, dass sie ihn ebenfalls beurteilt hatte. Dann nickte sie ihm knapp zu, drehte sich um und verschwand in der Menschenmenge. Senshi sah ihr nach. Auf ihn machte sie einen selbstsicheren Eindruck. Ihr respektvolles Zunicken zeigte ihm jedoch, dass sie ihre Gegner niemals unterschätzte.

Ein zögerliches Antippen riss ihn aus seinen Überlegungen. Verwirrt sah er den Störenfried an. "Setz mal eine freundliche Miene auf, sonst kriegst du noch Falten," brummte Yancha, machte allerdings nicht den Eindruck, als würde er es ernst meinen. Erstaunt zog der Angesprochene die Augenbrauen hoch. Sein Freund schien plötzlich müde und aufgeregt zugleich zu sein. Dieser machte eine vage Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. "Lass uns zurückgehen. Hier können wir nicht reden," murmelte Yancha leise. Der sonst so aufgedrehte, belustigte Yancha hatte einem Ernsten Platz gemacht. Senshi nickte und gemeinsam kämpften sie sich durch den Strom der ihnen Entgegenkommenden.

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