"Imitri!"
Noch immer konnte Moira kaum glauben, dass er tatsächlich vor ihr stand - selbst dann nicht, als sie ihn schließlich eingeholt hatte.
"Moira!" Schwer atmend kam er vor ihr zum Stehen. Er wirkte erschöpft und der Schweiß rann ihm von der Stirn, als wäre er den ganzen Weg bis hierher gerannt. "Da bist du ja endlich! Ich habe dich überall gesucht."
"Ich habe gewartet, aber du warst nicht auf dem Marktplatz", berichtete sie, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen, "Ich habe mir Sorgen gemacht."
"Es tut mir leid, ich wollte zu dir kommen, aber ich wurde aufgehalten. Ich-" Er unterbrach sich mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Für ausführliche Reden haben wir jetzt keine Zeit."
Moiras Augen weiteten sich. So energisch hatte sie ihn noch nie erlebt.
"Ich habe mich in der Festung umgehört", erklärte er schnell. "Sie haben bei dem Brand des Kanalspeichers einen Bluthund gefunden und ihn in den Festungskerkern verwahrt. Moira, ich glaube, sie wollen ihn auf die Stadt loslassen!"
"Was?" Völlig entsetzt starrte sie ihn an. Konnte es wirklich der Bluthund sein, der sie angefallen hatte?
"Ich hatte solche Angst um dich", fuhr er hastig fort und zerwühlte mit einer Hand sein Haar. "Nachdem du mir von Meister Cykalis und dem Bluthund erzählt hast, da... da hatte ich Sorge, dass er es vielleicht gewesen sein könnte, der dich gewittert hat."
Wie hypnotisiert blickte er sie an, wartete darauf, dass sie verneinte... doch seine Hoffnung blieb unerhört. Die Antwort lag in Moiras Augen und mischte sich mit dem Entsetzen darin.
"Oh nein... es ist also wahr?" Seine Schultern sackten herunter. "Er hat dich verwundet?"
Unwillkürlich tastete sie nach der Narbe an ihrem Arm. Die Wunde war fast verheilt, die Haut darüber glatt und rosafarben. Im Schein der Straßenfackeln nickte sie schwach.
"Bei Rubans..." Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen, versuchte sich aber im nächsten Moment wieder zu fassen und atmete stattdessen schwer aus. "Dann musst du so schnell wie möglich von hier verschwinden! Ich hoffe... dass es noch nicht zu spät ist."
"Verschwinden?" Entgeistert sah sie ihn an. "Wie soll ich das anstellen?"
"Ich weiß es nicht, ich..."
Unfähig die Ruhe zu bewahren, lief er vor ihr auf und ab. Im nächsten Moment hielt er inne, und Moira konnte erkennen, wie seine Gesichtszüge entschlossener wurden.
"Ich bringe dich zu den Stadttoren", sagte er plötzlich. „Als Magielose kannst du die Stadt allein nicht verlassen, aber wenn ich dich begleite, dann schon. Ich komme mit dir."
Ohne zu zögern, griff er ihren Arm und zog sie mit sich. Unfreiwillig, aber widerstandslos stolperte sie ihm hinterher.
"Was, jetzt sofort?", hauchte sie, noch immer fassungslos über seine Aussage. "Wo sollen wir hingehen? Und was wird aus Eliza?"
"Du darfst auf gar keinen Fall zu ihr gehen!", donnerte er. Die Worte waren ihm mit einer solchen Eindringlichkeit über die Lippen gegangen, dass sie durch die leeren Straßen hallten und umso lauter auf ihre Ohren trafen. "Moira, hör mir jetzt zu. Das ist deine einzige Hoffnung, zu überleben. Wenn du nicht sofort die Stadt verlässt, wird er dich so lange jagen, bis er dich und jeden in deiner Nähe umgebracht hat!"
Was soll ich jetzt bloß tun? Hals über Kopf die Stadt verlassen? Liz und meine Freunde zurücklassen? Das kam für sie nicht in Frage. Dennoch ließ sie über sich ergehen, dass er durch die Gassen hetzte und sie weiter mit sich schleifte.
Aber wenn es die einzige Möglichkeit ist, meine Schwester zu beschützen? Wenn ich alle Menschen in Gefahr bringe, die sich in meiner Nähe befinden, welche Wahl habe ich dann?
"Ich könnte es nicht ertragen", flüsterte Imitri kaum hörbar in die Nacht, „wenn dir etwas... wenn er dich..."
Sein Griff lockerte sich, auch wenn er noch immer ihren Arm berührte. Er wollte sie fortbringen, daran gab es keinen Zweifel, aber nicht um jeden Preis; als wüsste er ebenso wie sie, dass er sie, wenn sie sich weigerte, mit ihm zu kommen, nicht würde aufhalten können.
Sie war es gewohnt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und allein bei dem Gedanken, dieses Recht zu verlieren, schaltete sie auf Widerstand. Er hatte es schon einmal erfahren müssen, an dem Tag, als er ihr vorgeschlagen hatte, gemeinsam fortzugehen.
Doch Moira riss sich nicht los und widersprach auch nicht. Zu groß waren die Verwirrung und die Sorge, die ihre Sinne beherrschten. Stattdessen musterte sie ihn aus traurigen Augen.
"Imitri..."
Sie lief nun neben ihm her, während sie weiter auf die Stadttore zuhielten. Es gab mehrere Zugänge, die allesamt gut bewacht waren, auch zur Sperrstunde. Aber sie zweifelte nicht daran, dass er eine Ausrede finden würde, damit sie passieren konnten. Er war immerhin ein Hämomant und die Rote Garde sein Fußvolk.
Imitri wusste von dem Bluthund, noch dazu war ihm als Gelehrter wahrscheinlich weit mehr über diese Bestien bekannt als ihr. Trotzdem blieb er an ihrer Seite. Indem er versuchte, ihr Leben zu schützen, riskierte er seines ebenso. Dabei hatte sie ihm bei ihrem letzten Treffen Vorwürfe gemacht und ihn von sich gestoßen.
Schlagartig bereute sie, wie sie ihn behandelt hatte. Er hatte von Anfang an nur helfen wollen - und sie war zu blind gewesen, es zu erkennen.
Vielleicht hatte das Treffen mit Mama Mona wenigstens etwas Gutes an sich gehabt; es hatte sie zum Nachdenken bewegt und ihr die Augen geöffnet - für Dinge, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatte.
Tatsächlich hatte sie nicht so heftig reagiert, weil sie Angst hatte, er könnte sie als Magielose schlecht behandeln. Sondern, weil sie sich insgeheim davor gefürchtet hatte, dass Eliza richtig lag – dass er in sie verliebt war und ihre Freundschaft ein jähes Ende finden würde, wenn sie seine Liebe nicht eines Tages erwiderte.
Aber wenn Moira eines gelernt hatte, dann, dass sie mutig sein konnte, obwohl die Angst sie zu lähmen versuchte.
"Ich habe nachgedacht, Imitri", sagte sie mit einem Mal.
Überrascht und irritiert zugleich suchte sein Blick den ihren. „Und worüber?"
"Über deinen Vorschlag, zusammen fortzugehen."
Für den Bruchteil eines Wimpernschlags konnte sie die Angst in seinen Augen aufblitzen sehen. Das Herz blieb ihr fast stehen. Sie fürchtete sich vor der Antwort und den Konsequenzen, die diese mit sich ziehen würde – aber konnte es sein, dass es ihm ganz genauso erging?
"Es tut mir leid, wie ich reagiert habe", flüsterte sie. "Wenn das alles hier vorbei ist... mit den Schnittern und dem Bluthund... wenn ich es überlebe, dann will ich, dass Liz in Sicherheit leben kann. Wenn ich dafür mein Leben als Diebin beenden und ein neues beginnen muss, dann bin ich bereit, den Schritt zu gehen."
Über sein Gesicht huschte Erleichterung – und unsagbare Freude. Fast schien es, als wollte er sie in die Arme nehmen. Und für einen Moment wünschte sie es sich auch.
"Heißt das, du nimmst an?"
Moira kam nicht dazu, zu antworten, als das Jaulen eines Hundes die Nacht zerriss.
Das Geräusch ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Unwillkürlich blieb sie stehen und lauschte in die Nacht. Hunde bellten und jaulten - nichts Ungewöhnliches für eine Großstadt wie Klippenzunge.
Zumindest war es das, was sie sich einzureden versuchte.
Dann ertönte es wieder. Das animalische Geheul schien innerhalb kürzester Zeit nähergekommen zu sein, wie eine unüberhörbare Lawine, die den Hang hinabrollte.
"Lauf!"
Sie brauchte Imitris Worte nicht abzuwarten, da hatte ihr Instinkt schon die Oberhand gewonnen und die Kontrolle über ihre Beine erlangt.
In Windeseile setzte sie sich in Bewegung, sprang über einen Straßengraben und hechtete in die nächstgelegene Gasse, in den Schutz der Dunkelheit, der ihr so vertraut war, und fort von den breiten, öffentlichen Gehwegen, die so viel preisgaben.
Sei nicht die Beute, sei der Schatten!, spornte sie sich innerlich an. Die Angst verlieh ihr Flügel, trieb sie unaufhaltsam an. Ihre Füße trugen sie so schnell, wie sie es nicht für möglich gehalten hatte. Gleichzeitig legte sich die Dunkelheit um sie wie ein schützender Mantel und trug sie davon, gleich einem Kind, das behutsam umarmt wurde. Es verlieh ihren Flügeln den nötigen Aufwind, sodass sie phantomgleich durch die Nacht schoss, rasant und unhaltbar.
Für einen Augenblick war die Welt ein Ozean, und sie war die Flut. Das Beben zu der Erde unter sich, ein Schatten ihrer selbst. Alles und nichts.
Unnatürlich, wisperte der Instinkt. Übernatürlich. Ein Fluch für jeden anderen.
Aber ein Segen für mich.
Wieder hörte sie das Heulen der Kreatur. Ein kalter Schauer lief ihren Nacken hinunter, als sie entsetzt feststellte, dass es so viel lauter – und näher - klang als noch einen Moment zuvor.
Welcher Magie auch immer sie ihren Elan zu verdanken hatte, die des Bluthundes musste ebenso mächtig sein. Sie fühlte sich in jene Nacht zurückversetzt, in der sie schon einmal versucht hatte, ihm zu entkommen.
Von da an musste er sich seine Kräfte für diesen einen Tag aufgespart haben, an dem er sie verfolgen und sich an ihr rächen konnte. Dafür, dass sie ihn überlistet und verwundet hatte.
Also stürmte sie weiter, bis ihre Lunge brannte und der Atem in weißen, nebligen Stößen aus ihrer Kehle schoss. Es konnte noch nicht viel Zeit vergangen sein, seit sie vor ihm floh – vermutlich nur Minuten -, doch es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Wie eine nicht enden wollende Tortur.
Denn endlos – und ausweglos – erschien ihr die Situation allemal.
Moira bog ab und hechtete in die nächstgelegene Seitengasse, nur um dort in die Richtung zurückzurennen, aus der sie gerade erst gekommen war. Es erkaufte ihr etwas Zeit, aber es brachte sie nicht außer Reichweite.
Denn wohin sollte sie fliehen? Und bis sie die Antwort fand, wie lange sollte sie rennen? Bis ihre Beine sie nicht mehr trugen? Bis die Bestie sie eingeholt hatte?
Sie wollte ihn abschütteln, doch umso mehr sie darüber nachdachte, desto weniger fiel ihr ein Ort ein, an dem sie sich verstecken konnte.
Was nützte ihr all' die Schnelligkeit, wenn es kein Entkommen gab? Wohin ging man, wenn man auf ewig verfolgt werden konnte, allein auf Grund seines Blutes?
Dem eigenen Blut entgeht niemand. So sehr das Adrenalin auch durch ihre Venen gepumpt wurde, es gab kein Entkommen für sie.
Und jeder Mensch, der sich in ihrer Nähe aufhielt, würde mit ihr untergehen.
Hierfür gibt es nur ein Ende, dachte sie bitter. Er oder ich.
Er würde nicht aufgeben, bis einer von ihnen beiden nicht mehr existierte. Dessen war sie sich vollkommen sicher.
Als Moira die nächste Abzweigung nahm, konnte sie bereits das Knurren des Untieres hinter sich hören, und wie es sich kurz darauf zu einem bösartigen Fauchen erhob.
Er ist schnell. Zu schnell!", realisierte sie. Panisch stürzte sie in die nächste Gasse bis zu einer Kreuzung, an der sie auf einmal stockte. In der Straße gegenüber von ihr hob sich eine schwarze Kontur vor dem Hintergrund der Nacht ab, das Haar dunkel wie das Gefieder eines Raben. Nur die silberne Wölfin unterschied sich wie der Mond von der Finsternis, die ihn umgab. Mit einem Wink seiner Hand setzte sich das Raubtier in Bewegung.
Und hechtete direkt auf Moira zu.
Schlagartig machte die Diebin kehrt und rannte in die Querstraße – den einzigen Weg, der ihr geblieben war. Von einem Moment auf den anderen hatte sie die Kontrolle über ihre Flucht verloren, während andere begannen, ihr den Weg abzuschneiden und sie so in die Enge zu treiben. Wenn sie nicht schnellstens eine Möglichkeit fand, das zu ändern, dann würde sie in ihr Verderben laufen.
Ich muss nachdenken, keuchte sie, gleichzeitig unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich muss aufhören, mich in die Enge treiben zu lassen! Denk nach, denk nach...
Aber mit einem Bluthund und einem schwarzen Schnitter im Nacken blieb ihr keine andere Wahl. Also rannte sie blind vor Angst um ihr Leben.
Sie hatte der Schatten sein wollen, die stille Jägerin, der niemand entging.
Und nun war sie die Beute.
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