Zerbrochene Bande
Am Ausgang des Felsengewölbes wartete Dimion mit Ungeduld auf seinen Sohn. Waren seine Erinnerungen zu ihm durchgedrungen und hatte er geglaubt, was er gesehen hatte?
Dimion selbst war Jahrtausende lang der Konfrontation mit seinem frühesten Ich aus dem Wege gegangen. Er war nun stark und bedurfte der Liebe seiner Familie und seines einstigen Volkes nicht mehr. Die Schatten waren sein Volk und hätte er eine Familie haben wollen, so wäre er den Bund mit Anduriel eingegangen, so wie sie es ihm angeboten hatte.
Anfangs war er versucht gewesen, ihren Bemühungen um sein Seelenheil nachzugeben und hatte tatsächlich kurz daran gedacht, wie es wohl wäre eine richtige Familie zu haben. Eine wunderschöne Frau, ein Kind oder vielleicht auch mehrere...er als Vater, der sein eigen Fleisch und Blut nicht verleumden würde. Es war verlockend gewesen, doch er hatte schon zu lange fern von allen seiner Art gelebt, um sich wieder darauf einzulassen.
Nach und nach war er zu jedem gelangt, der ihn in seiner Jugend zutiefst verletzt und gedemütigt hatte und war es nicht müde geworden, alle in den Tod zu reden. Nicht ein einziges Mal war er direkt gegen sie vorgegangen, hatte sie geschlagen oder auch nur beschimpft. Nein, er war kalt und erbarmungslos gewesen, doch den Tod hatten sie alle durch ihr eigenes Zutun gefunden.
Wäre einer von ihnen stark genug gewesen, sich seinen Einflüsterungen zu widersetzen, Dimion hätte ihn leben lassen. Aber keiner hatte diese Stärke besessen, wie auch schon damals, als er darum kämpfte, als der gesehen zu werden, der er wirklich war...ein einsames Kind mit Träumen und Wünschen auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit.
Als Anduriel vor ihm gekniet und eingeräumt hatte, dass ihm großes Unrecht widerfahren war, waren alte Wunden wieder aufgebrochen und als sie später in seinen Armen gelegen und ihn zärtlich berührt hatte, war ihm zum ersten Mal bewusst geworden, was es heißen mochte, geliebt zu werden. Und er hatte seinen Vater nur noch umso mehr dafür gehasst, dass er ihm dieses Glück vorenthalten hatte.
Für einige Zeit war er der gewesen, der er immer sein wollte und hatte es genossen. Dann aber kamen die Zweifel. War Anduriel aufrichtig? Und wenn ja, würden auch andere so empfinden, oder würde jeder außer ihr, ihm weiterhin mit Abscheu begegnen?
Diese Fragen nährten die Dunkelheit in ihm, die in Jahrtausenden gewachsen und ein Teil seiner selbst geworden war. Und sie nagten so lange an ihm bis er sich dazu entschied, das Kind, welches aus ihren Liebesnächten erwachsen würde, alleine an sich zu nehmen und es zu seinem einzigen Vertrauten zu machen. Anduriel würde sterben müssen, um das Kind nicht beeinflussen zu können. Und Dimion würde sich der Erziehung des kleinen Wesens annehmen und es zu einem mächtigen dunklen Magier machen, mit dessen Hilfe er aus seinem Gefängnis ausbrechen und seine letzte Rache verüben könnte, um letztendlich nicht nur über die dunklen Lande, sondern auch über das Lichtreich zu herrschen.
So hatte Dimion gedacht und die Liebe, die tatsächlich in Anduriel erwacht war, seinen hasserfüllten Zielen geopfert. Dass sie es gespürt haben musste und Merandil kurz nach der Geburt unbemerkt aus Morlith gebracht hatte, war wie eine Bestätigung seines Verratverdachts gewesen.
Dimion war weich geworden, als er das winzige Elflein mit seinen Augen in den Armen der lieblichen Anduriel erblickt hatte. Er hatte gezögert, sie zu töten und sie hatte die Verzögerung genutzt und seinen Sohn fortgebracht. Seine Rache war schrecklich gewesen.
Anduriel war zu ihm zurückgekehrt, um zu versuchen, ihn umzustimmen und ihm das Vertrauen in eine bessere Zukunft ohne Hass und Angst zu geben. Aber all ihre Worte waren vergebens gewesen. Dimions Wut hatte sie förmlich hinweggefegt. Nachdem er sie mit magischen Schlägen durch den Raum geschleudert hatte, war er mit kaltem Hass in den Augen auf sie zugegangen, um sie eigenhändig zu erwürgen.
Er hatte sein einstiges Versprechen, nie zu töten, an ihr gebrochen. Und nun war genau das geschehen, was Dimion mit aller Macht zu verhindern versuchte...Merandil hasste ihn.
Noch ganz benommen von der Begegnung mit Merandils Geist, schwebte Anais auf einer Wolke aus Glück und Hoffnung. Sie spürte den flüchtigen Berührungen nach, die ihr für einen Moment das Gefühl gegeben hatten, dass sie wieder vereint waren. Und sie rief sich seine Worte immer wieder ins Gedächtnis.
Er hatte von einer gewaltigen Armee von Schattenkriegern gesprochen. Keine körperlosen Wesen, sondern Krieger. Wäre diesen beizukommen? Oder war die Gefahr, welche von ihnen ausging, ungleich größer als die der flüsternden Schatten? Wie auch immer die Antwort lautete, sie musste die Elfen wissen lassen, was Merandil ihr offenbart hatte.
Kurz nachdem Anais ihre erste Botschaft an Idhril gesendet hatte, war ihr der Gedanke gekommen, den Zweig des Ahnenbaumes einzupflanzen, auf dass ein neuer Baum aus ihm erwüchse, dessen Kraft größer war. Außerdem fürchtete sie, dass der Zweig doch mit der Zeit verwelken würde, wenn er zu lange von der nährenden Erde getrennt wäre.
Sie hatte lange warten müssen bis er endlich wurzelte. Doch dann gedieh ein kleiner Lindenbaum, der zusehends wuchs und nun schon doppelt so hoch war wie sie.
Zu diesem schritt sie nun und strich sanft über die seidigen Blätter, deren sattes Grün ihr Trost spendeten, wenn der Blick auf die grauen Hänge des Inrith sie zu sehr deprimierte. Manchmal sah sie dann die Lichtung von Bardhorn vor sich und träumte für einen Moment von dichten Wäldern und plätschernden Bächen. Doch diese währten nur kurz, dann hatte die düstere Aura des Ortes sie wieder fest im Griff.
Nun jedoch kam sie in der Absicht, wieder eine Nachricht an Idhril zu senden. Sie lehnte sich gegen den Stamm der Linde und flüsterte ihr zu, was Merandil ihr erzählt hatte.
„Du musst sie warnen. Ich hoffe, dass es nie dazu kommen wird, doch sollten die Schattenkrieger nach Melith gelangen, so müsst ihr vorbereitet sein", schloss Anais ihre Botschaft an die Herrin des Lichtwaldreiches.
Sie hoffte, dass der Baum ihre Worte bis zu den Galadhrim tragen würde. Und sie war sich ihrer Verantwortung als Wächterin über die Schattengrenze bewusster denn je.
Merandil irrte durch das Felsengewölbe. Es erstreckte sich so weit sein Auge reichte. Einen Moment lang kam ihm der Gedanke, dass er einfach hier unten bleiben und darauf warten könnte, dass er verhungerte oder erfror. So sehr fürchtete er sich vor der erneuten Begegnung mit Dimion.
Es war Merandil leicht gefallen, sich ihm zu widersetzen solange er nichts weiter als ein gewissenloser dunkler Tyrann für ihn war. Die Bilder der Vergangenheit hatten etwas in ihm ausgelöst, dass er nun zu verdrängen versuchte.
Durfte er tatsächlich Mitleid mit diesem Monster haben? Änderte die traurige Wahrheit seiner frühen Jahre irgendetwas an der Ungeheuerlichkeit seiner jetzigen Absichten? Und was war er für Dimion? Der verlorene Sohn, ein Privileg, welches er nun einforderte, oder einfach nur ein Mittel zum Zweck, dass von Anfang an als solches geplant war?
So groß die Versuchung auch war, einfach aufzugeben und langsam ins Jenseits zu entgleiten, Anais wäre damit nicht geholfen. Ganz im Gegenteil. Er würde sie dadurch in Gefahr bringen. Also raffte er sich auf und suchte weiter nach einem Ausgang. Nach einer Weile schlug ihm ein leichter Luftzug entgegen, der ihm den Weg wies. Er straffte sich und schritt tapfer voran.
Erleichtert nahm Dimion die ferne Gestalt wahr, die sich stetig auf ihn zu bewegte. Merandil kam zu ihm. Dimion durchfuhr ein Schauer, was er verwundert zur Kenntnis nahm. Die Wut auf seinen Sohn war beinahe verpufft und nun hegte er die Hoffnung, dass Merandil sich wirklich auf seine Seite stellen würde.
Er versuchte, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, setzte eine undefinierbare Miene auf und empfing seinen Sohn mit den Worten:
„Hat die Vergangenheit dich etwas gelehrt?"
Merandil sah ihn durchdringend an und antwortete:
„Ja. Sie hat mich gelehrt, dass ein Unrecht kein anderes rechtfertigt."
Dimions Miene verdüsterte sich. Er baute sich drohend vor Merandil auf.
Dieser wich keinen Schritt zurück und sagte ganz ruhig:
„Wenn du geliebt werden willst, musst du lieben. Aus dem Hass, den du jetzt fühlst, kann nichts Gutes erwachsen. Und ja, ich hatte Mitleid mit dem jungen Ich deiner selbst. Aber trotzdem kann ich nicht gut heißen, was du rachsüchtig planst. Willst du letzten Endes so sein wie dein Vater? Verblendet und verbittert, nur die eine Wahrheit sehend, die du dir erschaffen hast? Was wirst du tun, wenn ich dir meine Lichtmagie zuspiele? Ganz Melith dem Erdboden gleich machen? Und dann...würde es irgendetwas daran ändern, wie es damals gewesen ist?"
Dimion verkrampfte sich. Merandil sprach genau wie seine Mutter. Und wieder merkte er, wie etwas in seinem Inneren zu schmelzen begann.
„Schluss damit!", schrie er. „Ich bin der dunkle Herr, Herrscher über Morlith, Gebieter über die Schatten und der Schrecken der Völker des Lichtreiches. Und ich werde nicht eher ruhen, als bis der letzte Elf sich mir beugt, oder tot zu meinen Füßen liegt."
Er packte Merandil und schleuderte ihn gegen die Felswand in seinem Rücken. Dieser sank benommen zu Boden. Sogleich war Dimion über ihm und krallte seine Finger in Merandils Schläfen. Mit ungeheurer Wut sandte er einen Stoß seiner Magie in dessen Kopf und griff nach den magischen Anlagen seines Sohnes.
Die Benommenheit hatte ihn kurz geschwächt und so kämpfte Merandil zwar gegen seinen Vater an, dieser hatte jedoch ein regelrechtes Loch in ihn gerissen, aus welchem er die Lichtkräfte nun herauszerrte. Verzweifelt versuchte der junge Elf sich vorzustellen, wie er dieses Loch zu zwang. Als wolle er eine Blutung stoppen, presste er gedanklich seine Hände dagegen und versperrte Dimion den Weg in sein Innerstes.
Als dieser merkte, dass er keine Magie mehr aus seinem Sohn ziehen konnte, ließ er einen markerschütternden Schrei ertönen.
„Das war erst der Anfang. Ich werde dich aussaugen, wenn es sein muss. Bete, dass ich genug von deiner Magie in mir aufgenommen habe, um meine Krieger nach Melith zu entsenden", fauchte er.
Dimion klatschte in die Hände und wie aus dem Nichts erschienen zwei wuchtige Schattenkrieger, die Merandil unsanft hochzerrten und die Befehle ihres Herrn erwarteten.
„Bringt ihn zurück in den Kerker! Ich kann seinen Anblick nicht mehr ertragen", schrie dieser in blindwütiger Rage.
„Du bist Halron heute ähnlicher als du denkst", sagte Merandil matt, als die Krieger ihn mit sich schleiften.
Dimion eilte der Bergkette entgegen, die sein Reich von Melith trennte. Das Blut in seinen Adern kochte und seine Gedanken rasten von einer Erinnerung zur nächsten. Er hatte schon einmal versucht, die Grenze mit Lichtmagie zu durchbrechen. Nachdem er Anduriels Kräfte in sich aufgenommen hatte, war er zum Inrith gegangen und hatte sich mit aller Macht gegen das Gefüge gestemmt, doch so lange er sich auch mühte, er konnte der Barriere keinen einzigen Riss zufügen.
Damals war ihm der Gedanke gekommen, dass es vielleicht einer Magie bedurfte, die von Geburt an beide Seiten in sich verband. Das würde er jetzt herausfinden.
Er war so wütend und voller neu entflammtem Hass, dass seine Hände brannten und knisterten und seine Gestalt wuchs, bis sie wie ein Riese vor dem Horizont aufragte. Seine Augen füllten sich mit Schatten und seine Stimme donnerte.
„Ich bin die Schattenseele, die alles verdunkeln wird!"
Dann schleuderte er tiefschwarze Blitze, die auch den letzten Rest Licht in sich aufnahmen, aus seinen Händen. Diese prallten auf die magische Wand und ließen sie erzittern. Dimion sah die sonst unsichtbaren Mauern aufflackern und erkannte dahinter für einen kurzen Moment die kahle Ebene auf der Seite des Lichtreiches.
Er wollte schon triumphieren, da wurden seine Blitze von den Mauern zurückgeworfen und schlugen rund um ihn herum in den Boden. Der Blick in die andere Welt versperrte sich ihm wieder. Fassungslos sank Dimion in sich zusammen.
Welche Kraft sollte er noch aufbringen?
Da vernahm er eine sanfte Stimme, die ihn zu umgeben schien.
„Du hast nicht die Macht dazu, die Grenze aufzuheben. Ein Fluch lastet auf dir, der nur durch die Absolution einer der Unseren aufgehoben werden kann. Nur die, welche die Grenze schufen, können sie auch wieder niederreißen."
Dimion, der wieder zu normaler Größe geschrumpft war, blickte sich suchend um. Noch nie war ihm ein Geist erschienen.
Er spürte einen Hauch an seiner Wange und dann erklang die Stimme flüsternd an seinem Ohr:
„Ich hätte dich befreit, hättest du es nur zugelassen."
„Anduriel?", wisperte Dimion.
Sie antwortete nicht, doch der Wind trug die Melodie, welche sie ihm sanft vorgesummt hatte, um ihn in den Schlaf zu geleiten, an sein Ohr. Dann wurde es still um ihn herum, so still, dass er es kaum ertragen konnte.
Wer würde ihm jetzt noch eine Absolution erteilen?
Bild : Erinnerungen an Anduriel...ein Flüstern auf den Schwingen des Windes.
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