Tage im Licht
Am nächsten Morgen wachte Merandil erfrischt auf und fühlte sich wie neu geboren. Was wohl auch daran lag, dass das Erste was er erblickte, die strahlenden Augen Anais' waren.
„Guten Morgen. Wie fühlst du dich?", fragte sie mit ihrer süßen Stimme.
„Ganz wunderbar", sagte er und räkelte sich genüsslich.
Er überlegte, ob er sie zu sich ziehen sollte und...
„Gut, dann zeige ich dir jetzt mein Buffet von Mutter Natur und nachdem du dich gestärkt hast, schlage ich vor, fangen wir mit der Arbeit an", sagte sie beschwingt und war mit einem Satz draußen.
Merandil seufzte. Na gut, dann vielleicht später. Er folgte ihr ins Freie und sie schlugen einen kleinen Pfad nach Süden ein, der gesäumt war von Glockenblumen und Lilien, wie Merandil sie noch nie gesehen hatte. Alles hier war irgendwie farbenfroher, lebendiger und urwüchsiger als er es von zu Hause kannte.
„Du sahst sehr friedlich aus heute Nacht", erzählte Anais.
„So habe ich mich auch gefühlt. Hast du irgendeinen Zauber angewandt, um mich erst einmal zur Ruhe kommen zu lassen?", fragte Merandil sie neugierig.
„Nein. Ich habe lediglich an deiner Seite gewacht und dich beobachtet."
„Nun, vielleicht ist das schon genug Zauber, um meine dunklen Träume zu vertreiben", erwiderte er breit grinsend.
Anais stupste ihn leicht an und warf ihm einen gespielt tadelnden Blick zu.
„Selbst wenn, wir müssen trotzdem tiefer gehen und ergründen woher sie rühren", sagte Anais.
Sie waren einige Minuten gelaufen, da mündete der Pfad auf eine Lichtung, die einem Paradiesgarten glich. Alle nur erdenklichen Obstbäume, Beerensträucher, Kolonien von aromatisch duftenden Pilzen und eine sprudelnde Quelle luden zum Speisen ein.
„Hast du eine Vorliebe?", fragte Anais, die diesen Anblick bereits gewöhnt war.
Merandil jedoch schaute sich überfordert um. Sie stürzte ihn von einer Überraschung in die nächste.
„Wie hast du es nur geschafft, dass so viele verschiedene Obstbäume auf einer Lichtung zusammen gedeihen und gleichzeitig Früchte tragen?", fragte er erstaunt.
„Das war ich nicht. Seit ich zurückdenken kann, kenne ich die Lichtung so. Ich sagte doch, wir gehen zu Mutter Naturs Buffet."
Sie zuckte die Achseln und kniete sich unter einen schattigen Birnenbaum. Dann begann sie zu graben und beförderte eine blass rötliche Wurzel ans Tageslicht.
„Probiere die mal, eine Royáwurzel! Die ist süß und würzig zugleich und macht richtig satt."
Sie brach die Wurzel in zwei Hälften und gab ihm eine davon. Er schnupperte daran und biss mit Appetit hinein.
„Die ist wirklich gut", sagte er, genüsslich kauend.
Anais lächelte ihm zu.
„Nicht wahr?"
Danach pflückten sie noch ein paar vollreife Beeren und schöpften Wasser aus der Quelle. Merandil argwöhnte mit dem ersten Schluck, in Erinnerung an den vorherigen Morgen, aber das Wasser war frisch und köstlich.
Nach dem Mahl klatschte Anais in die Hände und verkündete:
„Jetzt lass uns damit beginnen, nach den Ursprüngen deiner Träume zu suchen! Eine ruhige Nacht wird dich sicher nicht geheilt haben."
Merandil nickte und schaute sie erwartungsvoll an, als ob sie mit irgendeinem Zauber seinen Kopf öffnen würde und das böse Gedankengut daraus extrahieren könnte. Doch nichts dergleichen geschah.
„Erzähl mir von deinem Leben, deiner Familie, Unfällen, Fehden oder Schicksalsschlägen, die du erleiden musstest! Und lass nichts aus", forderte sie ihn auf.
Er schaute sie verdutzt an. Sein Leben war verhältnismäßig langweilig oder zumindest gleichförmig verlaufen, ohne nennenswerte Höhen oder Tiefen, bis eben zu diesem Moment, da die Alpträume einsetzten.
Sie nahm seinen unschlüssigen Blick wahr und fügte hinzu:
„Auch wenn dir Dinge unwichtig erscheinen, erzähle sie mir. Manchmal werden Blockaden erst dann klar, wenn man sie formuliert."
Er lächelte. Anais strahlte diese unzerstörbare Ruhe aus, die nur mit großer Weisheit kam. Er fühlte sich geborgen in ihrer Nähe. Sie ließen sich mitten auf der Lichtung unter einem Mangobaum einander gegenüber nieder und Merandil hätte sie am liebsten in seine Arme gezogen, aber ihr konzentrierter Blick verriet ihm, dass jetzt nicht der Moment dafür war.
„Ich stamme aus Obleth, einer kleinen Elfensiedlung nahe der Hauptstadt. Bis auf ein paar Ausflüge ins nahe Umland und meine beruflichen Verpflichtungen in Shanduril, bin ich auch noch nicht von dort weggekommen. Na ja, bis auf jetzt gerade", schmunzelte er.
Sie nickte ihm nur stumm zu, was er als Aufforderung verstand weiterzureden.
„Ich arbeite in der fürstlichen Schreinerwerkstatt, zusammen mit meinem Freund Elomir und zwei weiteren Elfen, Thrandir und Velmin, die uns jedoch zumeist meiden. Du musst wissen, dass mein Freund eine etwas untypische Art für einen Elf hat. Derb und voller Emotionen, die sich derweil in Flüchen ergehen. Aber er ist herzensgut und eine treue Seele."
Merandil musste lächeln, als er an Elomir dachte.
„Wie kamst du zur Schreinerei?", fragte Anais.
„Durch meinen Ziehvater, dem die Werkstatt gehört. Schon als kleiner Knirps, dessen Kopf kaum über die Kante der Werkbank reichte, wollte ich an allem herumschnitzen, was mir in die Hände fiel. Nicht immer zur Freude meines Ziehvaters, denn wenn er nicht aufpasste, schnappte ich mir auch Arbeiten von ihm und versuchte, sie so kunstvoll zu beenden wie er sie begonnen hatte. Mit dem Ergebnis, dass er sich danach ein neues Stück Holz besorgen und sein Werk von vorne beginnen musste. Er war mir aber nie lange böse, sondern lernte daraus und versorgte mich mit eigenem Material. Nach etwa fünfzig Jahren war ich so gut geworden, dass er mich an den Fürstenhof mitnahm und mich als neuen Meister seiner Werkstatt vorstellte. Er sagte kopfschüttelnd, dass er noch nie einen Lehrling gehabt hatte, der so schnell zu solcher Perfektion gereift wäre und dabei hätte er mich noch nicht einmal richtig ausgebildet. Das stimmte zwar nicht ganz, denn ich hatte ihm wissbegierig zugesehen und so viel aufgeschnappt wie möglich, aber ich hatte auch den Drang zu experimentieren und eigene Techniken zu erschaffen, was seinen richtigen Lehrlingen nicht in den Sinn kam."
Schwärmerisch blickte er auf seine Hände und erzählte:
„Das ist ein unglaublich erhabenes Gefühl, wenn du dir mit Bedacht ein Stück Holz auswählst, die Maserungen begreifst und in völliger Harmonie mit ihnen etwas erschaffst, das eine Seele hat."
Sie lauschte ihm fasziniert. Die Art wie er von seiner Kunst sprach, war nicht überheblich, sondern voller Leidenschaft.
„Bald fertigte ich Möbel und Statuen für den Fürstenhof und die Edelelfen und hatte so viel damit zu tun, dass kaum Zeit für etwas Anderes blieb. Doch das störte mich nicht im Geringsten, denn ich liebe meine Arbeit."
„Du sagtest, deinem Ziehvater gehört die Werkstatt. Was war mit deinem richtigen Vater? Und was ist mit deiner Mutter?", wollte Anais wissen.
„Die habe ich nie kennengelernt. Mein Ziehvater erzählte mir, dass er mich als Baby auf der Schwelle seiner Werkstatt gefunden hätte und mich zu sich nahm."
Anais horchte auf. Elfen, die ihr Kind weggaben? Kinder waren selten unter ihnen und ein großer Segen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass dies eine leichte Entscheidung gewesen war. Irgendetwas musste sie herbei gezwungen haben. Doch sie sagte nichts, weil sie ihn vorerst nicht verunsichern wollte.
„Ich lebe für städtische Verhältnisse eher bescheiden, in einem kleinen Haus nahe der Werkstatt. Na ja, eigentlich lebe ich in der Werkstatt und besuche mein Häuschen ab und an", schmunzelte er. „Mein Freund Elomir hat ein ums andere Mal versucht, mich 'da raus und rein ins Leben' zu holen, wie er zu sagen pflegt. Aber seine Art von Leben außerhalb der Arbeit ist nicht die meine."
„Warum nicht?", begehrte Anais zu erfahren.
„Weil er dazu tendiert, sein Bett nicht verwaisen zu lassen und das äußerst abwechslungsreich", sagte Merandil leise errötend. „Ich finde, man sollte seine Zuneigung nicht wahllos streuen, sondern sie nur dann zeigen, wenn man wirklich etwas für jemanden empfindet", setzte er so leise nach, dass er sich nicht sicher war, ob sie ihn verstanden hatte.
Dem Blick nach zu urteilen, den sie ihm zuwarf, hatte sie es. Unendlich sanft ruhte er auf ihm. Einen Moment lang konnte keiner von beiden etwas sagen. Anais fing sich zuerst wieder.
„Gab es irgendwelche großen Verluste in deinem Leben?", fragte sie nun wieder unbeirrt weiter.
Merandil überlegte.
„Ich hatte ein Pferd gehabt, Paleon, an dem ich sehr hing. Bei einem Ausritt in die Berge, die sich um Obleth erstrecken, ging eine Steinlawine über uns ab. Paleon wurde so schwer verletzt, dass er an Ort und Stelle verblutete. Ich kam mit ein paar Quetschungen und Schürfwunden davon, da er aus Panik gestiegen war und mich abgeworfen hatte. Er brach über mir zusammen und rettete mir dadurch wahrscheinlich das Leben. Danach wollte ich kein anderes Pferd mehr."
Sie überlegte. Sicher war es traurig und Merandil eine erstaunlich empfindsame Seele, aber war es ein derart einschneidendes Erlebnis gewesen, dass er im Nachhinein solche Schuldgefühle bekommen hatte, dass diese selbstzerstörerisch wurden?
„Gab es irgendwelche enttäuschten Gefühle oder zerbrochenen Liebesbeziehungen?", hakte sie weiter nach.
„Nein, nicht direkt", antwortete Merandil. „Es gab da mal ein Mädchen aus dem Hause der Edlen vom Geschlecht Merlingas. Ich lernte sie kennen, als ich einen Kleiderschrank für ihr Gemach lieferte. Sie war so angetan von meiner Arbeit und mir, dass sie mir Avancen machte. Gleich am nächsten Tag orderte sie ein Tischset mit vier Stühlen, wohl wissend, dass mich die Arbeit für eine ganze Weile an sie binden würde. Täglich kam sie in die Werkstatt, um die Fortschritte zu begutachten. Das fiel allmählich auf und Elomir eröffnete mir, dass sie wohl eher kam, um mich zu begutachten und dass ich ziemlich grausam wäre, sie meinerseits nicht auch einmal näher in Augenschein zu nehmen. Woraufhin alle in der Werkstatt in Gelächter verfielen.
Nach ein paar Wochen ließ ich mich überreden, ihr eine Chance zu geben. Sie war hübsch und angesehen und ihr Vater schien ihr nichts abschlagen zu können. Noch nicht einmal, mit einem Handwerker auszugehen, obwohl das klar unter ihrem Stand und eigentlich ein Skandal war. Wir trafen uns ein paar Mal, gingen spazieren und unterhielten uns über Kunst und Musik. Eines Tages lud sie sich, mehr selbst als ich sie, in mein Haus ein und sagte mir, wie sehr sie mich begehrte. Jung und unerfahren, wusste ich nicht wie ich damit umgehen sollte. Sie aber schon. Danach fragte ich mich, ob das die Erfüllung sein sollte, die mein Freund ständig suchte. Ich fühlte mich leer und benutzt und war mir auf einen Schlag im Klaren darüber, dass ich sie wohl einfach nicht liebte. Sie musste das auch gespürt haben, denn nach diesem Tag habe ich nichts mehr von ihr gehört und bin ehrlich gesagt auch froh darüber", schloss er seine Erzählung.
Anais musste schlucken. Sie hatte es sich nicht so unangenehm vorgestellt, von seinem Liebesleben zu hören. Schließlich hatte sie schon öfter solche Gespräche geführt. Wenigstens hatte er sie nicht geliebt, beruhigte sie sich und fragte sich im gleichen Atemzug, warum ihr das so wichtig war.
„Der Verlust deiner Eltern, obwohl du sie nicht kanntest, oder der deines Pferdes, könnten schon Spätfolgen haben und dich in eine Glaubenskrise stürzen, die sich auch in Alpträumen ergehen könnte. Aber das erklärt noch nicht die Tagschatten", resümierte Anais das Gehörte. „Ist irgendetwas kurz davor geschehen, das ungewöhnlich war?"
Merandil schüttelte den Kopf.
„Da war nichts."
Anais schaute ihn durchdringend an. Versuchte er etwas zu verheimlichen, oder unterdrückte er etwas? Sie konnte beim besten Willen nicht sagen, dass er nicht aufrichtig wirkte.
„Also gut, dann lass uns für heute schlussmachen", sagte sie. „Vielleicht fällt dir ja in den nächsten Tagen noch etwas ein, das uns weiterhilft. Man kann es nicht erzwingen."
Sie erhob sich und fragte:
„Soll ich dich noch ein bisschen in meiner kleinen Welt herumführen?"
„Auf jeden Fall", erwiderte er überschwänglich. „Es würde mich nicht wundern, wenn es hier noch Einhörner, kleine Feen und sprechende Bäume geben würde", fügte Merandil feierlich hinzu.
„Nein, Einhörner gibt es hier schon lange nicht mehr und falls die Bäume eine Sprache sprächen, derer ich mächtig bin, so hatten sie noch nie das Bedürfnis mit mir zu reden", gab Anais zurück. „Was für Märchen erzählt man euch eigentlich in den Städten?"
Sie schüttelte belustigt ihren hübschen Kopf, sodass ihre dunkle Lockenpracht um sie herumwogte.
Sie streiften kreuz und quer durch den Wald und beobachteten eine Gruppe Rehe, die mit ihren Kitzen ruhig am Rande einer Lichtung äste. Anais zeigte ihm hier und da eine Pflanze, die er noch nicht kannte und erklärte ihm, welch heilende Wirkung in ihr läge. Sie waren unbeschwert und frei und jagten sich zu weil, wie Kinder beim Fangen spielen.
Als Merandil Anais, die flink wie ein Wiesel war, nach einer Weile des Nachjagens gefangen hatte und sie beide dabei zu Boden gingen und über eine Wiese voll duftender Blumen rollten, geschah es.
Nach Atem ringend und lachend lagen sie sich in den Armen. Merandil kam über ihr zum Liegen und auf einmal verstummte das Lachen.
„Anais, du machst mich so glücklich", sagte er leise und strich über ihr Gesicht.
Dann glitt seine Hand an ihren Hals und tiefer auf ihre sich hebende und senkende Brust. Sie blickte ihn mit einer Mischung aus Erwartung und Angst an.
„I...ich...habe noch...nie", stammelte sie unbeholfen. „So schön es hier auch ist, ist es doch auch sehr einsam", fügte sie gefasster hinzu.
Merandil legte einen Finger auf ihre Lippen und bedeutete ihr, ganz ruhig zu sein.
„Ich werde nichts tun, was dir Schaden zufügt, oder was du nicht willst", flüsterte er und senkte seinen Kopf ihrem entgegen, um ihre Lippen mit einem Kuss zu versiegeln.
Als sie sich aus dem Kuss lösten, blickte er sie liebevoll an:
„Das verspreche ich dir."
Ihre großen blauen Augen hielten den Kontakt zu ihm, als sie mit brüchiger Stimme sagte:
„Ich weiß."
Dann schloss sie die Augen und gab sich dem hin, was da kommen würde. Ganz sanft und langsam ließ er seine Lippen ihren Hals erkunden. Sie erzitterte unter ihm und schmiegte sich dichter an. Ihre Hände streichelten seinen Kopf und tasteten sich dann langsam seinen Rücken hinunter, bis zu seinem Hosenbund. Vorsichtig löste sie sein Hemd daraus und schob es nach oben. Die Haut seines Rückens fühlte sich warm und geschmeidig an.
Er entfernte sich gerade so weit von ihr, dass sie das Hemd über seinen Kopf streifen konnte. Dann zog er sie sacht zu sich und schob ihr Kleid abwärts über die Schultern, bis hin zu ihren zarten Füßen, wo er es neben ihr zu Boden gleiten ließ.
Seine Hände glitten über ihre Beine, die sich ihm wie von Zauberhand öffneten. Doch er wollte sich Zeit lassen. Es würde für sie beide das erste Mal werden. Das seine mit der Edlen zählte für ihn nicht. Und er wollte es unvergesslich machen. Deshalb rollte er Anais sacht auf die Seite und kam ihr gegenüber zum Liegen.
Sie öffnete die Augen und schaute ihn fragend, ja, fast erschreckt an:
„Habe ich etwas falsch gemacht?"
„Nein, überhaupt nicht", sagte Merandil und sah sie verträumt an. „Aber ich will dich nicht im Sturm nehmen. Lass es uns ganz langsam angehen und den Weg genießen", flüsterte er liebevoll und küsste sie innig.
Er konnte spüren, wie die Anspannung von ihr abfiel und sie sich fallen ließ. Es würde keinen Millimeter ihres Körpers geben, dem er nicht angemessen gehuldigt hatte, bevor er sich mit ihr vereinigen würde. Und auch Anais dachte so.
Stundenlang trieben sie sich wohlige Schauer durch den Körper und sogen den Duft des Anderen ein, bevor er ihre Einladung annahm und vollends mit ihr verschmolz. Nichts erinnerte an den Abend in Obleth. Gefühle so intensiv, dass sie ihn nach Atem ringen ließen, brandeten in ihm auf.
Anais schien es nicht anders zu gehen. Sie klammerte sich an ihm fest und presste sich so dicht an ihn, wie es der Rhythmus ihrer Leidenschaft erlaubte. Es war dunkel geworden, als sie erschöpft, aber überglücklich nebeneinander ins Gras sanken. Sie rollte sich zu ihm und er nahm sie in den Arm. Den Kopf auf seine Brust gebettet, küsste sie ihn zart wie ein Hauch und flüsterte:
„Verlass mich nie wieder!"
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Sie sprachen morgens über Merandils Leben und auch er fragte nach Details aus Anais' Leben. Sie wurden sich immer vertrauter. Nachmittags streiften sie durch die Wälder, badeten in dem großen See, besuchten die Quelle Aranils, um sich von ihrer Magie durchdringen zu lassen und Energie aus ihr zu schöpfen und liebten sich, wo auch immer sie die Lust dazu überkam.
Sie waren glücklich miteinander und doch plagte Anais die Frage, was so dunkle Träume in einer derart hellen Seele auslösen mochte. Deshalb bat sie Merandil eines Abends, seine Instinkte zu ignorieren, all die positiven Schwingungen, die an diesem Ort herrschten, beiseite zu schieben und sich ganz auf die dunklen Erinnerungen zu konzentrieren, die ihn geplagt hatten, bevor er zu ihr gekommen war.
Merandil willigte zögernd ein, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie nicht zu nahe bei ihm weilen dürfte, aus Angst er könnte sie im Traum angreifen. Sie hielt das zwar für übertrieben, fand es aber rührend, wie er sich um sie sorgte. So entschieden sie sich, ihr Nachtlager auf einer Lichtung aufzuschlagen, da es in Anais' Haus keine Möglichkeit gab, ihm nicht nah zu sein.
Merandil ließ sich auf den mit Moos überwucherten freiliegenden Wurzeln einer alten Eiche nieder, die ihm als Kopfkissen diente und Anais breitete eine weiche Decke über ihm aus, die sie eigens mitgenommen hatte.
„Ist das denn wirklich nötig?", fragte Merandil noch einmal voller Zweifel und Anais merkte, wie sehr er vor dem zurückschreckte, was sie von ihm verlangte.
„Ja. Wenn du es versuchst und nichts geschieht, wissen wir, dass was immer dich heimgesucht hat verschwunden ist. Und wenn du auf die dunklen Erinnerungen anspringst und erneut deinen Alpträumen gegenüberstehst, vermag ich vielleicht aus der Art wie du dich dabei gibst, zu erkennen welcher Natur sie sind. In beiden Fällen bringt es dich weiter", sagte sie sanft, aber bestimmt.
Sie küsste ihn auf die Stirn und setzte sich dann auf einen Baumstumpf in etwa fünf Metern Entfernung.
„Komm nicht näher!", schärfte er ihr nochmals ein.
Sie nickte. Bald darauf schlief Merandil ein und anfangs sah es so aus, als ob er völlig ruhig wäre. Dann jedoch vollzog sich eine Änderung an ihm.
Es begann damit, dass er stark zitterte, obwohl die Nacht mild war. Dann bildeten sich riesige Schweißperlen auf seiner Stirn, die sein Gesicht hinunterrannen und klatschend auf den Boden schlugen. Beunruhigt schaute Anais zu ihrem Geliebten. Sie hatte noch nie einen Elfen derart schwitzen sehen.
Sein Atem ging stoßweise und keuchend und er warf sich unruhig hin und her. Plötzlich bäumte er sich, krampfhaft beide Hände auf sein Herz pressend, auf und schrie wie ein verletztes Tier.
Anais hielt es nicht länger aus und eilte zu ihm. Sie legte ihre Hände an seine Schultern und sagte laut:
„Wach auf, Merandil!"
Aber er wand sich weiter in seinem Wahn. Sein Körper war so angespannt, dass die Muskelstränge unter der Kleidung hervortraten.
Anais wurde panisch und schrie jetzt:
„Wach doch auf!"
Da schnellten seine Hände an ihre Handgelenke und packten sie. Entsetzt versuchte sie, den Griff zu lockern, doch er hielt sie umklammert, wie in stählernen Fesseln. Dann öffneten sich seine Augen und starrten blicklos ins Leere. Sie hatten nichts mehr von ihrer kristallblauen Farbe, sondern wirkten schleierhaft wie grauer Nebel.
Er zog sie dicht zu sich heran und keuchte:
„Rette dich, die Schatten kommen über uns!"
Dann stieß er sie weit von sich. Benommen blieb Anais in sich zusammengekauert am Boden liegen, ließ ihn jedoch nicht aus den Augen. Das war nicht er. Etwas war in ihn gefahren und nutzte ihn wie ein Medium.
Sie begann leise zu weinen und verfluchte sich dafür, dass sie ihn dazu überredet hatte, sich auf die Dunkelheit einzulassen. Aber hätte sie es nicht mit eigenen Augen gesehen, so hätte sie es nicht geglaubt. Er hatte nicht übertrieben und er kämpfte dagegen an, nur leider auch gegen sich selber.
Seine Hände fuhren an seinen Hals und er begann, sich zu würgen. Anais stieß einen spitzen Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund. Panisch überlegte sie, wie sie ihn wecken könnte, bis ihr Blick auf einen dicken Ast fiel, der am Rande der Lichtung lag.
„Verzeih mir, Merandil", murmelte sie und lief darauf zu.
Sie zerrte den Ast zu dem röchelnden Merandil hinüber, dessen Gesicht schon ganz grau angelaufen war. Wenn sie nicht schnell handelte, würde er sich ersticken. Mit aller Kraft hob sie den Ast über ihren Kopf und ließ ihn auf Merandil niedergehen. Der erstarrte mitten in der Bewegung und sank in sich zusammen.
Anais kniete sich hastig zu ihm nieder und legte ein Ohr auf seine Brust. Das Herz schlug noch und jetzt vernahm sie auch seinen dünnen Atem. Sie setzte sich hinter ihn, lehnte seinen Kopf an ihre Brust, damit ihm das Atmen leichter fiel und schlang ihre Arme um ihn.
Aus seiner Stirn sickerte ein Rinnsal von Blut, dort wo sie ihn getroffen haben musste. Anais riss ein Stück ihres Rockes ab und presste es auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Dann saß sie ganz still und lautlose Tränen rannen ihre Wangen hinab.
Es war schon gegen Mittag des nächsten Tages, als Merandil stöhnend seine Augen aufschlug.
„Was...Anais, du solltest doch von mir wegbleiben", sagte er besorgt, als er bemerkte, dass er zwischen ihren Beinen gebettet, an ihren Oberkörper gelehnt ruhte.
„Merandil, du bist wach!"
Anais überging seine Bemerkung und bedeckte ihn mit Küssen.
„Was ist passiert?", fragte er beunruhigt.
Sie erzählte ihm alles und als sie zu der Stelle kam, an der er sie grob an den Handgelenken gepackt und von sich gestoßen hatte, schreckte er auf und nahm, nun ganz behutsam, ihre Hände und drehte sie so, dass er sie von allen Seiten betrachten konnte. Violette Striemen zogen sich rund um die zarten Gelenke.
„Ich habe dir weh getan", sagte er verzweifelt und küsste ihre Hände. „Das wollte ich nicht. Deswegen solltest du dich fernhalten."
„Das ist nichts", sagte sie abwertend. „Du hast mich mit den Worten 'Rette dich, die Schatten kommen über uns' von dir gestoßen. Also wolltest du mich vor irgendetwas bewahren, aber mir sicher nicht wehtun...außerdem habe ich dir auch ganz schön zugesetzt", fügte sie kleinlaut hinzu. „Du wolltest dich selber erwürgen, oder besser gesagt, etwas das in dir war. Ich konnte dich nicht wecken, also musste ich dich niederschlagen."
Sie schaute betreten zu Boden.
Erst jetzt bemerkte Merandil den Verband an seinem Kopf und den schweren Ast neben ihnen. Er rappelte sich hoch und kniete sich vor sie.
„Danke", flüsterte er.
Sie fielen sich in die Arme und hielten sich so fest, als wäre dies die letzte Umarmung. Nach einer Ewigkeit löste sich Anais von ihm und sah ihm fest in die Augen.
„Was auch immer das letzte Nacht war, du warst es nicht. Es war etwas, das dich als Medium nutzte. Ich werde dich nie wieder bitten, dunkle Erinnerungen zuzulassen, denn sie rühren nicht von dir. Aber sollte das eine ernstzunehmende Warnung gewesen sein, dann sind wir zumindest vorbereitet", sagte sie.
„Willst du wissen was ich gesehen habe?", fragte Merandil voll Unbehagen, aber bereit, sich seinen Dämonen noch einmal zu stellen.
„Nein, was ich gesehen habe war mehr als genug. Lass es nicht wieder lebendig werden. Vergiss es und konzentriere dich wieder auf das Licht in dir. Das ist stärker als jeder Schatten", sagte sie mit einer Überzeugung, die auch ihn für diesen Augenblick nicht mehr zweifeln ließ.
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