Seelenqualen
Merandil fiel unaufhörlich in einem Strudel aus Finsternis, die nach ihm griff und durch jede Pore seines Körpers drang. Er versuchte, sich davor zu verschließen, indem er an das Gefühl dachte, welches ihn durchflutete, wenn er seine Lichtmagie entsandte. Er dachte an Anais' Lächeln und ihre warmen Hände, die Art, wie sie ihn angesehen hatte, so liebevoll und in tiefer Verbundenheit.
Die Finsternis zerrte an seinen Erinnerungen und versuchte, sie auszulöschen, aber Merandil schirmte sie ab und focht einen stummen Kampf mit der Dunkelheit. Er würde sich nicht ergeben.
Plötzlich endete sein langer Fall. Er schlug hart auf einen steinernen Boden auf und krümmte sich vor Schmerzen. Um ihn herum war nichts als undurchdringbare Schwärze, aus der ächzende und stöhnende Laute aus allen Richtungen an sein Ohr drangen. Etwas streifte seine Schulter, ein eisiger Hauch, der ihn erzittern ließ. Dann schälten sich Umrisse, die dunklen Nebelschwaden glichen, aus der Finsternis heraus. Sie jagten ihm entgegen und umklammerten ihn fest. Er wand sich in den stofflosen Fängen der Schattenwesen, konnte ihnen jedoch nicht entkommen. Mit ungeheurer Macht drückten sie ihn gegen eine Wand, die er in seinem Rücken spüren, aber die er nicht sehen konnte. Und sie hielten ihn in ihrem kalten Griff gefangen.
„Wie schön, dass du dich zu mir gesellt hast, Merandil", ertönte die Stimme, die er nur zu gut aus seinen dunkelsten Träumen kannte.
„Ist das die Art, wie du Gäste empfängst? In Dunkelheit und in Gewahrsam?", fragte Merandil sarkastisch.
„Am Anfang ist es immer dunkel. Und was den Gewahrsam angeht, aus dem werde ich dich entlassen, sobald wir uns besser kennengelernt haben", erwiderte die Stimme so ruhig, als sprächen sie über Belanglosigkeiten.
„Zeig dich! Wo bist du?", rief Merandil in die düsteren Weiten, die ihn umgaben.
Er spürte einen Atemhauch an seinem Gesicht vorbeistreifen und dann packten ihn kräftige Hände an den Schultern und pressten ihn noch fester gegen die Wand. Merandil konnte fühlen, dass diese, anders als die Fänge der Schatten, aus Fleisch und Blut waren.
„Ich bin überall, in Allem, das dich umgibt. Ich bin in deinen Gedanken und in deiner Seele und gerade jetzt...bin ich hier!"
Ein kaltes Licht flammte auf, welches den Blick auf ein hämisch grinsendes Gesicht freigab. Merandil hatte einen blutrünstigen Dämon erwartet oder irgendeine Kreatur, jenseits seiner Vorstellungskraft, aber was er erblickte, schreckte ihn mehr als jedes bizarre Monster es je getan hätte. Das Gesicht war hart und erbarmungslos, doch es war das eines Elfen und die Augen, die ihm daraus entgegenstarrten, waren kristallblau und ihm wohlbekannt. Merandil rang nach Luft.
„Wer bist du?", fragte er, obwohl er sich nicht sicher war, ob er die Antwort tatsächlich hören wollte.
Der dunkle Elf verharrte dicht vor ihm und blickte ihn durchdringend an.
„Ich habe viele Namen. Sie nennen mich den dunklen Herrn, den Herrn der Schatten, den Herrscher über Morlith, den Finsteren, aber mein richtiger Name ist Dimion. Obwohl ich sagen muss, dass alle anderen Titel mir schmeicheln", antwortete er. „Ich schätze, du wirst dich erst einmal ausruhen wollen. Wir plaudern später weiter. Schlaf und träume süß", flüsterte der Finstere ihm schmeichelnd ins Ohr, während er eine Hand an Merandils Halsschlagader legte und so fest zudrückte, dass dieser in eine bodenlose Ohnmacht glitt.
Jegliches Zeitgefühl war aus Anais gewichen. Der Strom ihrer Tränen wollte nicht versiegen. Und ihre Gedanken kreisten immer wieder um die eine schmerzliche Erkenntnis.
Sie war benutzt worden. Der Herr über Morlith hatte sein Spiel mit ihnen getrieben und Merandil in seine Welt gezwungen, indem er sie durch Baradirs Hand stark verletzt und durch seinen Geist bis an den Rand des Todes gebracht hatte.
Sie hatte genau gehört, zu welchen Bedingungen Merandil auf den Handel eingegangen war. Es trennten sie vielleicht nur wenige Schritte voneinander, doch diese waren ein unüberwindbares Hindernis, wenn ihnen das Leben des anderen am Herzen lag. Anais zweifelte nicht daran, dass der Dunkle über die Macht verfügte, seine Drohungen wahr zu machen. Die lange Liste der Toten, die ihren Weg hierher bereits gepflastert hatten, ließ kaum einen Raum für Hoffnung. Aber sie würde trotzdem einen Weg finden, Merandil zu befreien.
Jetzt jedoch musste sie beenden, was sie mit ihm begonnen hatte, die Schattengrenze wieder undurchdringbar machen. Merandil hätte es sicher so gewollt. Sie raffte sich auf und ließ all die Wut und Trauer, die ihr Herz umklammert hielten, in ihre Magie mit einfließen.
Der Lichtstrahl, der aus ihren Händen brach, war heller und leuchtender denn je und stob einer Explosion gleich auseinander, um die letzten Risse in der magischen Barriere zu schließen. Als die Magie wieder in sie zurückfloss, sackte sie zusammen und starrte die Bergwand hinauf. Es war vollbracht.
Der Regen hatte aufgehört und war einer beklemmenden Stille gewichen. Anais schlang ihre Arme um sich und fragte sich, wie es Merandil jetzt gerade erging. Sie spürte ihn nicht mehr. Vielleicht lag das aber auch nur an der magischen Grenze, die sie trennte. Sie betete, dass er einen Weg finden möge, dem Dunklen zu widerstehen und seine Hoffnung nicht zu verlieren.
Was würde dieser ihm antun, damit er das Portal wieder öffnete und ihn aus seinem Jahrtausende währenden Gefängnis entließe?
Die Vernunft sagte ihr, dass sie zu Fürst Mandelion zurückkehren müsse, um von allem zu berichten, doch ihr Herz hielt sie an diesem Ort fest. Anais dachte an die Ungewissheit, mit der die Angehörigen all derer leben müssten, die gefallen waren und nicht zurückkehren würden. Sie musste die Nachricht irgendwie überbringen. Das war sie den Hinterbliebenen schuldig.
Da streifte sie der Gedanke an den Lindenzweig, den sie bei sich trug, seit Idhril ihn ihr geschenkt hatte. Er war nicht gewelkt und strahlte Wärme aus, wie ein lebendiger Körper. War die Magie des Ahnenbaumes in der Lage, ihre Botschaft zu Idhril zu senden? Sie schloss die Augen und ließ ihren Geist in den Zweig strömen, der in einem silbrigen Licht erstrahlte.
'Idhril, ich bringe schlechte Kunde. Dein Sohn ist gefallen und mit ihm alle, die uns zum Inrith begleiteten. Ihre Seelen mögen in Frieden ruhen. Ich trauere um sie. Merandil ist ins Reich der Schatten entschwunden und ich blieb alleine zurück. Die Grenze ist gesichert, doch ich fürchte um die Dauer dessen und bange um meinen Liebsten. Ich vermag es nicht, mich vom Berge zu entfernen und werde hier verweilen, bis ich einen Weg gefunden habe, ihn zurück nach Melith zu holen. Idhril, in deinem Schmerz und deiner Klage um Baradir, bin ich in Gedanken bei dir, denn auch mir war er ein treuer Freund und Beschützer. Bitte, entsende jemanden an Fürst Mandelions Hof und lass ihn wissen, was geschah.'
Anais wollte Idhril nicht wissen lassen, dass Baradir sie schwer verwundet hatte, denn sie lastete es ihm nicht an. Er hatte den Einflüsterungen des dunklen Herrn länger als jeder andere widerstanden und ihn traf keine Schuld. Er würde in ihrer Erinnerung als derjenige verbleiben, der sie vor dem Tod gerettet hatte.
Wieder stiegen Tränen in ihr auf. Gerettet vor wem? Vor einem weiteren Freund und Beschützer! Auch Daeron konnte sie nicht zürnen.
Der Herrscher über Morlith und seine Heerscharen von Schatten setzten alles daran, Misstrauen und Zweifel in jedem zu sähen und alle zum Werkzeug ihres Feldzuges gegen das Licht zu machen. Aber sie würde das letzte Licht sein, das so hell erstrahlte, dass es die Schatten verschlingen würde. Und sie würde alle, die auf dem Weg hierher ihr Leben gelassen hatten, unter die Erde bringen und sie ehren, wie es ihnen gebührte.
Da war kein Groll in ihr, gegen keinen ihrer Gefährten, nur Trauer und Schuldgefühle. Der dunkle Herr sollte sehen, dass selbst der heimtückischste Eingriff in den Geist, das Band, welches die Elfenstämme von Melith zusammenhielt, nicht zu zertrennen vermochte.
Die Zweige des Ahnenbaumes wisperten eine Klage. Sie trauerten um Baradir, der, wie alle seiner Sippe, ein Teil des Baumes und mit dessen Geist verbunden war. Sie hatten bereits gespürt, dass ihm etwas zugestoßen war. Als nun die Stimme Anais' auf dem Wind zu ihnen drang, lüftete sich der letzte Schleier und sie fühlten all das, was Baradir in seinen letzten Augenblicken durchlebt hatte.
Idhril saß wie versteinert da und lauschte der Kunde. Ihre Vorahnungen hatten sie nicht getäuscht. Nur den Tod ihres geliebten Sohnes hatte sie nicht vorhergesehen. Doch wunderte es sie?
Nein, musste sie bitter zugeben.
Ein heftiger Kopfschmerz durchfuhr Merandil, als dieser die Augen aufschlug. Wo war er und wie war er hierhergekommen? Das Letzte woran er sich erinnern konnte, war undurchdringliche Finsternis und das Gesicht eines Elfen, das kalt und hämisch war und ihm doch so schmerzlich bekannt vorkam.
Nun war es zwar düster um ihn herum, aber eher wie eine Art dunkles Zwielicht. Er konnte einen Kerkerraum erkennen, in dem er als einziger Gefangener weilte. Das Ende des Raumes war nicht auszumachen, so weit erstreckte er sich. Und er war an Händen und Füssen an die Wand gekettet.
'Genau wie in meinen Träumen', durchfuhr es Merandil schaudernd.
In der Ferne bewegte sich etwas. Merandil strengte seine Augen an, um zu erkennen, was es war. Ganz langsam strebte eine dunkle hochgewachsene Gestalt auf ihn zu und schon bald wusste Merandil, um wen es sich handelte.
Der Herr von Morlith ließ sich Zeit. Er musterte seinen Gefangenen mit kühlem Interesse und als er endlich vor ihm stand, zischte er:
„Merandil, wie gefällt es dir bei mir? Fühlst du dich angemessen untergebracht für die Ewigkeit?"
Er blickte auf ihn hinab, wie auf ein lästiges Insekt, das er sogleich mit einem einzigen Tritt zerquetschen würde. Merandils Ketten klirrten und kreischten, als er den Kopf hob, um dem dunklen Herrn ins Antlitz zu blicken.
„Die Gastfreundschaft entspricht ganz meinen Erwartungen", sagte er kühl und reckte stolz sein Kinn.
„Nun denn, wenn dir deine Gemächer gefallen", der Dunkle beschrieb eine Geste durch den endlos scheinenden Kerker, „dann könnten wir es ja vorerst dabei belassen. Ich möchte dir jedoch Einiges erzählen, das deine Zeit sicher amüsant verkürzen wird. Ich bin kein Unhold, Merandil. Ich will nicht, dass du dich bei mir langweilst."
Er lachte schallend und hob Merandils Kinn mit seinen mächtigen Fingern grob noch höher, sodass sein Nacken vor Schmerzen fast barst. Drohend stand der Dunkle über ihm und brachte sein grässlich verzerrtes Gesicht so dicht vor das seine, dass er dessen fauligen Atem in Mund und Nase dringen spürte.
„Was weißt du über deine Eltern?", fragte der dunkle Elf scharf.
„Sie sind beide tot. Mit ihnen kannst du mir nicht mehr drohen. Verzeih, dass ich dir kein weiteres Druckmittel liefern kann", presste Merandil zwischen seinen Zähnen hervor.
„Wer spricht denn hier von Druckmitteln? Du kränkst mich", sagte der Dunkle mit gespielter Enttäuschung. „Aber deine Informationen sind nicht ganz richtig. Deine Mutter ist tot."
„Was weißt du von meiner Mutter?", spie Merandil ihm entgegen.
„Oh, sie war schön, sinnlich, begehrenswert. Eine ganz bemerkenswerte Elfe mit...sagen wir...ungewöhnlichen Überzeugungen. Sie glaubte tatsächlich, dass ein Bündnis zwischen Licht und Schatten beides soweit neutralisieren könnte, dass es kein Ringen mehr geben und beide Seiten in Frieden nebeneinander bestehen würden."
Der dunkle Herr machte eine kurze Pause und schaute Merandil durchdringend an.
„Sie glaubte, dass eine Verbindung zweier mächtiger Wesen beider Seiten, dies erreichen könnte."
„Eine Verbindung welcher Art?", fragte Merandil mit einem flauen Gefühl im Magen.
„Nun, eine, die fleischliche Lust verlangt und einen Samen pflanzt", entgegnete der Dunkle und fügte hinzu, „und ich muss zugeben, dass sie nicht ganz falsch lag. Die Verbindung war fruchtbar und von Nutzen. Nur nicht so, wie sie es sich ausgemalt hatte."
Dimion war jetzt so nah über Merandil, dass dieser sich auf den Boden drücken musste und unter dem Gewicht des dämonischen Elfen ächzte.
Dieser leckte sich anzüglich über die Lippen und sagte:
„Ich hatte viel Spaß mit ihr. Doch nach der Geburt des ‚Samens' gab es keine Verwendung mehr für sie. Der Einfluss ihres unausstehlichen Positivismus und ihrer Güte hätten dem Spross nur geschadet. Ich habe das Licht aus ihr herausgequetscht, wie aus einem Glühwürmchen...aus einer Lichtelfe! Welche Ironie, findest du nicht?"
Merandil schaute ihn entsetzt an und keuchte auf, als er zu verstehen begann, was ihm der Herr über Morlith gerade eröffnet hatte. Die Augen, in die er geblickt hatte, waren seine gewesen. Auch ihre Gesichtszüge ähnelten sich. Nur dass Merandils weich und herzlich waren, während Dimions hart und unbarmherzig anmuteten. Trotzdem wollte er es nicht wahrhaben.
„Nein, ich glaube dir kein Wort", schrie er.
„Warum, denkst du, bist du hier? Was könnte dich für mich so wertvoll machen?"
Der Dunkle grinste hämisch, packte Merandils Haare und zog derb an ihnen, sodass sein Kopf in den Nacken fuhr und er gezwungen war, ihn anzusehen.
„Es gibt nur einen einzigen Grund. Du bist mein Fleisch und Blut und wirst meine Macht mehren, sobald sich unser Geist vereint hat."
Die Worte hallten in Merandil nach, wie das Echo in einer bodenlosen Schlucht. Seine Gedanken rasten wie wild...seine Alpträume, all die Zweifel an seiner Reinheit, seine schmerzende Seele...alles ergab mit einem Mal Sinn.
„Willkommen daheim, Sohn", sagte der dunkle Herr voller Verachtung und Kälte und stieß ihn hart zu Boden. „Wir unterhalten uns morgen weiter."
Er ließ Merandil zitternd liegen, wandte sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Merandil war übel, er fror und brannte zur gleichen Zeit. Wut und Trauer, Abscheu und Verzweiflung, rangen in ihm, bis sein Kopf zu zerspringen drohte.
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