Eine andere Welt
Sie ritten seit fast zwei Tagen durch die Wälder Aranils und Anais, die vorher noch nie ein Pferd bestiegen hatte, war mittlerweile daran gewöhnt. Die gleichförmige schaukelnde Bewegung des Tieres machte sie ruhig. Und wären nicht die schwer bewaffneten Krieger gewesen, die vor und hinter ihr ritten und sie auch flankierten, so hätte Anais den Ritt durch ihren Wald genossen.
Ein Stück weit vor ihr ritt Merandil, ebenfalls umringt von Kriegern und hinter ihr Elomir, dem man auf Merandils Bitten wenigstens den Knebel abgenommen hatte.
Elomir hatte Merandil in den Stunden der Nacht, da sie gefesselt auf den Aufbruch gewartet hatten, versteckte Zeichen gegeben und ihn mit Blicken zur Flucht überreden wollen. Aber Merandil hatte kaum merklich den Kopf geschüttelt und seinem Freund signalisiert, dass es zwecklos wäre. Irgendwann war Elomir aufgegangen, dass er Recht hatte. Drei kampfunerprobte Gefesselte gegen zwanzig mit Pfeil und Bogen, Kurzschwertern und Dolchen bewaffneten, erfahrenen Krieger...das war Wahnsinn.
Auch jetzt ließen die Gardisten die Drei keinen Moment aus den Augen. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen, ging die Reise nur langsam voran und der Befehlshaber, den die Krieger mit Baradir ansprachen, fluchte leise darüber, dass sie so wohl Wochen brauchen würden, um nach Shanduril zu gelangen.
Merandil nutzte diese Gefühlsregung und sprach ihn untertänig an:
„Mein Herr Baradir, wir werden nicht fliehen, wenn Ihr uns die Fesseln abnehmt. Es zieht mich sogar zu Fürst Mandelion, denn ich trage die Bürde dunkler Vorahnungen schon seit einiger Zeit und will ergründen, was es damit auf sich hat. Auch für Anais und Elomir verbürge ich mich. Sie werden keine Fluchtversuche unternehmen und Euch zum Hofe des Fürsten folgen."
Baradir, der ein Stück vor Merandil an der Spitze des Zuges ritt, ließ sein Pferd zurückfallen bis er auf einer Höhe mit ihm war. Er musterte ihn misstrauisch.
„Wie kann ich mir da sicher sein?"
„Ihr seid zwanzig der besten Krieger, ausgestattet mit jedweden Waffen. Wir sind drei Unbewaffnete, die noch nie kämpfen mussten. Elomir und ich sind Handwerkskünstler, Anais ist eine spirituelle Seele, verwachsen mit dem Wald und friedliebender als irgendjemand sonst. Was sollten wir gegen euch ausrichten?", sagte Merandil entwaffnend.
Baradirs Gesichtsausdruck wurde milder und schließlich nickte er.
„Ich behalte euch im Auge. Wenn ich auch nur das kleinste Anzeichen von Widerstand sehe, lasse ich euch wieder fesseln", erwiderte er.
Dann rief er im Befehlston:
„Nehmt ihnen die Fesseln ab, damit wir schneller voran kommen! Aber lasst sie nicht aus den Augen!"
Zögernd lenkten die Reiter an den Flanken Anais' und Elomirs ihre Pferde dichter an sie heran und durchtrennten die Fesseln. Merandils Fesseln löste Baradir persönlich. Dabei sah er ihm tief in die Augen und ermahnte ihn:
„Keine Tricks, verstanden?"
Merandil nickte und massierte sich die schmerzenden Handgelenke, die tiefe Einschnitte aufwiesen, so eng hatte man die Lederriemen darum geschlungen.
„Ich danke Euch."
Er deutete eine Verbeugung an und nahm die Zügel seines Schimmels auf. Anais war stolz auf ihren Gatten. Er war ein hervorragender Diplomat.
Nun ging es schneller voran. Sie trabten los und sahen nach etwa zwei Stunden den Waldrand. Anais atmete tief durch. Widersprüchliche Gefühle kämpften in ihr. Sie hatte ihren Wald noch nie verlassen und spürte, wie sie sich immer weiter von der Quelle ihrer Magie entfernte. Das machte sie unruhig. Aber sie war auch gespannt auf die Welt, die jenseits der ihren lag. Da sie keine Wahl hatte, schob sie den Gedanken an Daheim weit von sich und öffnete ihren Geist für alles, was nun kommen würde.
Als sie aus dem Wald herausritten, erfasste ihr Blick die Ausläufer des Graslandes, mit seinen sanften Hügeln und weiten Ebenen, die sich bis an den Horizont erstreckten und dort mit dem Himmel verschmolzen. Die Grüntöne waren heller als die des Waldes, die Gerüche zarter und subtiler. Vereinzelt erhoben sich kleine Steingruppen aus der Grasfläche, die weiß-gräulich schimmerten und wie riesige Eier auf Anais wirkten.
'Was wohl aus ihnen schlüpfen mag?', fragte sie sich, sagte sich dann aber, dass dies Unsinn wäre. Es waren einfach nur große ovale Steine.
Anais wünschte sich, an Merandils Seite reiten und die ganzen neuen Eindrücke mit ihm teilen zu können. Doch sie wagte es nicht, diesen Wunsch zu äußern, ob ihrer gerade gewonnenen Freiheit ohne Fesseln.
„Zieht das Tempo an", rief Baradir, „wir haben heute noch eine weite Strecke bis zur nächsten Stadt zurückzulegen, oder wir müssen auf offener Fläche kampieren."
Er ließ sein Pferd angaloppieren und der Rest des Trupps folgte seinem Beispiel. Anais rutschte fast aus dem Sattel, als ihr Reittier den anderen nachsprengte. Aber der Krieger, der sie auf der linken Seite eskortierte, lenkte seinen Rappen schnell an sie heran und schob sie zurück.
„Press die Schenkel fest an den Bauch deines Pferdes und pass dich seinen Bewegungen an! Arbeite nicht dagegen!", instruierte er sie.
Anais schenkte ihm einen dankbaren Blick und versuchte, es so zu machen. Bald war sie im Rhythmus ihres Pferdes und fühlte sich völlig eins mit ihm. Die Angst war verflogen. Sie genoss den schnellen Ritt, den Wind, der durch ihr Haar fuhr und es wie ein Banner hinter ihr wehen ließ und die vorbeifliegende Landschaft.
Der Himmel verfärbte sich bereits rot, als sie die Umrisse einer kleinen Stadt sahen, die auf einer grasbewachsenen Anhöhe thronte. Auf den Mauern erspähte Anais Wachen mit braunen Lederrüstungen, die über die Ebene zu ihnen blickten.
Baradir rief ihnen bereits von Weitem zu:
„Wir sind Gesandte aus Shanduril. Lasst uns ein für die Nacht!"
Wenig später wurden die Tore geöffnet und die kleine Schar ritt auf den Hof.
„Willkommen in Sinaril. Seid unsere Gäste!", begrüßte sie ein hochgewachsener Elf mit weißblondem Haar, das ihm in seidigen Wellen bis auf die Hüfte fiel. Seine meergrünen Augen musterten die ungewöhnliche Gemeinschaft.
Baradir saß ab und verbeugte sich vor dem Gastgeber.
„Habt Dank, Argalon."
Er bedeute den anderen, auch abzusitzen. Sofort bildeten die Krieger einen Kreis um die Gefangenen, die aufeinander zueilten. Anais ließ sich in Merandils Arme fallen und dieser streichelte sie beruhigend. Unterdessen beäugte Elomir die Umstehenden argwöhnisch.
Mehrere Dutzend Elfen hatten sich auf dem Platz eingefunden, welche die Ankömmlinge mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis anschauten.
„Was führt euch hierher, soweit fort von Shanduril?", fragte Argalon.
Der Elf bekleidete den Posten des Stadthalters von Sinaril und unterstand somit direkt dem Fürstenhaus.
„Fürst Mandelion schickte uns auf eine Mission ins Waldland, zur Quelle Aranils. Wir haben sie ausgeführt und sind nun auf dem Weg nach Hause. Bitte gewährt uns Unterschlupf für
diese Nacht", antwortete Baradir mit gesenktem Haupt.
„Ihr sollt unsere Gastfreundschaft genießen. Doch sagt mir, was für eine Mission war das?"
Baradir trat näher an den Stadthalter heran und sagte gedämpft:
„Das würde ich Euch lieber unter vier Augen offenbaren."
Argalon nickte und wies in Richtung eines blütenweißen Baus, der sich in fünf hoch aufragenden Stockwerken aus Türmen und Erkern über den Rest der Stadt erhob.
„Folgt mir, meine Gäste."
Und an eine Gruppe von Elfen gewandt, die rotbraune Lederbeinkleider und weite weiße Leinenhemden trugen, fügte er hinzu:
„Bringt ihre Pferde in den Stall und versorgt sie!"
Anais ging staunend wie ein Kind an Merandils Hand. Sie hatte noch nie eine Stadt gesehen und die hohen Gebäude aus Stein wirkten mächtig auf sie. Sie waren von großer Schönheit, architektonischer Raffinesse und Harmonie und doch waren sie kalt, geradezu leblos bedrückend.
'Wunderschöner toter Stein', durchfuhr es Anais und sie sehnte sich zurück in ihr kleines Heim mitten im Wald, wo alles um sie herum lebendig war.
Im Inneren des Gebäudes, in das sie der hochgewachsene Elf mit der eleganten weißen Robe führte, gab es eine weite Halle, in deren Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Das Wasser ergoss sich aus einem edelsteinbesetzten Krug, den die Statue einer zeitlos schönen Elfe in einem zartfließenden Gewand hielt, in ein kleines rundes Becken, dessen Boden mit roten und blauen Edelsteinen übersät war. Diese bildeten ein Mosaik, welches ein Wesen halb Drache, halb Schlange zeigte. Um die Halle verlief eine Galerie auf halber Höhe des Raumes, von der mehrere Türen abgingen. Eine geschwungene Freitreppe aus spiegelndem weißem Stein mit goldenen Einsprengseln führte nach oben.
„Die Gasträume befinden sich dort."
Argalon deutete die Treppe hinauf.
„Gibt es vielleicht einen fensterlosen Raum, der nur durch die Tür betreten und verlassen werden kann?", raunte Baradir ihm fragend zu.
Der Stadthalter drehte sich kurz um und musterte Anais, Merandil und Elomir, die aus der Gruppe herausstachen, wie blühende Blumen aus einem schneebedeckten Feld.
„Ich könnte euch auch Zellen zur Verfügung stellen, was meine Gastfreundschaft jedoch in erster Linie nicht gebietet. Gibt es einen triftigen Grund dafür?"
„Ich befinde mich in Begleitung von Merandil und Anais", sagte Baradir leise.
Argalon verharrte mitten in der Bewegung und starrte ihn durchdringend an.
„Wenn das so ist, sollten wir diesen Pfand sicher verwahren", erwiderte er. „Weist die Wachen Eurer Wahl an. Die restlichen Eurer Männer können sich in die Gemächer auf der rechten Galerie begeben."
Baradir nickte ergeben und winkte vier seiner Krieger zu sich.
„Berion, Daeron, Faeldir und Herendir, ihr geht mit unseren ‚Gästen'. Ihr anderen bezieht euer Nachtlager auf der rechten Seite der Galerie."
Zu neunt gingen sie unter der Führung Argalons durch sich verzweigende lange Gänge, bis hin zu einer Tür aus dunklem Holz mit verschnörkelten Metallbeschlägen. Der Schein von Fackeln drang ihnen entgegen, als Argalon die Tür öffnete und sie eine schmale Treppe hinunter in einen großen Raum mit mehreren Zellen führte. Er schloss eine Zelle auf, woraufhin Berion und Herendir sich Merandils und Elomirs bemächtigten und diese an den Schultern gepackt hineinschoben. Dann wollte Argalon die Tür wieder schließen und eine weitere für Anais öffnen.
„Nein, bitte lasst mich bei Merandil sein", stieß diese flehend hervor.
Argalon tauschte einen Blick mit Baradir und dieser nickte. Also schob Daeron sie in die gleiche Zelle und ließ den Riegel vor der Tür zuschnappen.
'Warum sollte er sie zusätzlich peinigen? ', dachte Baradir. 'Sollten die Beiden sich doch haben. Solange er sie bei Fürst Mandelion ablieferte, spielte das keine Rolle.'
„Passt gut auf sie auf!", befahl er an seine Männer gewandt und verschwand dann mit Argalon.
Die Wachen postierten sich vor der Zelle und Elomir stieß ein leises Lachen aus.
„Ja, das ergibt Sinn. Bringt euch um euren wohlverdienten Schlaf, sonst spazieren wir einfach aus dieser verdammten Zelle, als wäre es nichts."
Merandil warf ihm einen tadelnden Blick zu, aber Elomir zuckte nur mit den Schultern:
„Was denn? Stimmt doch."
Anais war es egal wo sie war, ob sie beobachtet wurde oder nicht. Hauptsache sie konnte sich an Merandil kuscheln und seinen Atem, einem sanften Luftzug gleich, auf ihrer Haut spüren.
Merandil zog sie ganz nah zu sich und küsste ihre Stirn.
„Alles wird gut", flüsterte er immer und immer wieder und wiegte sie sanft in seinen Armen.
Die Wachen beschlich das gleiche Gefühl, welches auch Baradir gehabt hatte, als er sie in der Nacht vor dem Aufbruch beobachtet hatte.
'Was taten sie hier eigentlich? Welches Verbrechens hatten sich die Drei schuldig gemacht, um hier in einer Zelle eingesperrt, die Nacht zu verbringen?'
Sie alle verspürten Mitleid mit den Liebenden und ihrem Freund, dessen einzige Schuld darin bestand, dass er seinem Kameraden hatte helfen wollen.
In dieser Nacht saßen Argalon und Baradir lange zusammen am Kamin in den Räumlichkeiten des Stadthalters. Dieser berichtete, wie sein Neffe, der in der verhängnisvollen Nacht Wache am Tor gehalten hatte, am Morgen danach stocksteif und kalkweiß im Wasser treibend aufgefunden worden war.
Er glaubte nicht daran, dass Gelir sich freiwillig die Pulsadern aufgeschlitzt hatte und doch gab es keinerlei Hinweise auf einen Kampf, oder auch nur irgendwelche anderen Spuren. Keiner der Wachen auf der Mauer hatte jemanden außer ihm vor dem Tor gesehen. Einer hatte behauptet, einen dunklen Schleier in seiner Nähe gesehen zu haben, aber er konnte sich nicht erklären, was es gewesen war. Irgendetwas hatte sie alle auf ihren Posten gehalten. Sie berichteten, völlig bewegungsunfähig gewesen zu sein und lediglich von Weitem beobachtet zu haben, wie Gelir sich zum Flussufer bewegte und schließlich ins Wasser kippte. Erst am nächsten Morgen waren sie in der Lage gewesen, zum Flussufer zu gehen und die Leiche zu bergen.
Er erzählte auch von der geronnenen Blutschrift, die halb ans Ufer gespült, halb im Wasser treibend, die schreckliche Nachricht offenbarte. Und nun befanden sich Merandil und Anais hier bei ihm.
„Habt Ihr eine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat?", fragte er Baradir.
Dieser schüttelte missmutig den Kopf.
„Ich kann mir keinen Reim darauf machen, was so besonders an den Beiden ist. Er ist ein Schreinermeister und sie die Hüterin der Quelle Aranils. Vielleicht hat sie irgendwelche Kräfte, von denen ich nichts weiß, aber es scheint mir nicht so."
„Was ist mit dem Anderen?", begehrte Argalon zu wissen.
„Auch ein Schreinermeister, Elomir. Die Beiden arbeiten zusammen in der fürstlichen Werkstatt Shandurils. Er wollte seinen Freund warnen und vertuschte dafür den Tod eines weiteren Meisters der Werkstatt. Dieser war der Forderungsträger unserer Stadt. So erfuhren wir erst von den Vorfällen, als die Boten der nächstgelegenen Siedlungen und Städte bei uns eintrafen."
„Und Merandil und Anais sind ein Paar?", fragte Argalon weiter.
„Ja, es scheint so."
„Es erfüllt mich mit Schmerz, sie anzusehen", sagte der Stadthalter, den Blick in die Flammen des Kamins gerichtet. „Ich sollte froh sein, die 'Schuldigen' für das Blutopfer meines Neffen gefasst zu wissen und Hoffnung hegen, dass wir durch deren Auslieferung weiteres Unheil abwenden können. Aber, verzeiht mir, wenn ich das sage. Ich sehe sie an und erblicke unschuldige Seelen. Wie können wir sie mörderischen Schattenkreaturen zum Fraß vorwerfen und tatsächlich glauben, dass diese dann friedlich dahin zurückkehren, woher sie gekommen sind?"
Baradir senkte seinen Blick und antwortete leise:
„Das können wir nicht. Aber ich stehe unter Fürst Mandelions Befehl und meine Order lautet, sie zu ihm zu bringen."
Einen Tag später hatten sie das Grasland hinter sich gelassen und überquerten den Fluss Tuianar an einer seichten Stelle. Trotzdem hatten die Pferde Mühe, sich gegen den Strom zu stemmen und strauchelten einige Male gefährlich. Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich ein lichter Laubwald, der Anais an zu Hause erinnerte.
Die Bäume waren niedriger und ließen überall Licht durch ihre Kronen, sodass es aussah, als wäre die Luft von blassgrünen Strahlen durchdrungen, in denen Blütenstaub und Schmetterlinge tanzten. Die Flora war nicht so reich wie in ihrem Wald, aber die Aura dieses Ortes umarmte einen förmlich und hieß ihn warm willkommen.
Anais strahlte über das ganze Gesicht. Etwas rauschte in den Zweigen über ihr und sie hob den Blick, um zu sehen, was es war, konnte aber nur vorbeihuschende Schemen erkennen, die leichtfüßig von einem Ast zum nächsten sprangen.
„Was ist das?", fragte sie Daeron, der neben ihr ritt.
Sie hatte keine Angst mehr, Fragen zu stellen. Die Situation hatte sich im Laufe des Tages merklich verändert. Aus einer argwöhnischen Bewachung war eine behütende Begleitung und der Umgang miteinander deutlich wärmer geworden.
„Nicht was...wer", antwortete er ihr. „Das waren Galadhrim, Lichtwaldelfen des Baumvolkes. Sie leben hier und haben ihre Behausungen hoch in den Bäumen. Du wirst es heute Abend sehen. Da rasten wir in Bardhorn, der größten Siedlung des Volkes. Du wirst es mögen", zwinkerte er ihr zu.
Da war sie sich sicher. Sie fühlte sich schon jetzt mit ihnen verbunden. Nach einigen Stunden entdeckte sie Lichter in den Kronen der Bäume und bemerkte schmale Strickleitern, die an den Stämmen herunter hingen.
„Gehen wir da hoch?", fragte sie Daeron, dessen goldbraune Augen sie immer wieder verstohlen musterten.
„Nein, das sind die Randgebiete der Siedlung. Wir reiten bis ins Zentrum und bitten dort um ein Nachtlager beim Ahnenbaum."
Anais schaute ihn fragend an.
„Das ist das Heim der Obersten des Volkes, schon seit Anbeginn ihrer Zeit. Es wird von den Ahnen an die nächsten Generation weitervererbt", erklärte er ihr.
Anais war gespannt darauf. Sie rutschte unruhig im Sattel hin und her, was Daeron zum Schmunzeln brachte. Er konnte gut verstehen, was Merandil an ihr fand. Fast war er ein wenig eifersüchtig auf ihn, aber dann rief er sich wieder ins Gedächtnis, zu was die Beiden bestimmt waren und jeder Anflug von Eifersucht verschwand und wich Mitleid.
Die Dämmerung war soweit fortgeschritten, dass sich tausende Glühwürmchen aus ihren Tagesverstecken wagten und zwischen den Stämmen der Bäume schwebten. Selbst Elomir seufzte bei diesem Schauspiel verzückt auf.
„Da vorne", sagte Daeron und zeigte auf einen Lichtpunkt in der Mitte des Weges, der langsam größer wurde.
Anais stockte der Atem. Die Lichtung, auf die sie einritten, war umgeben von Buchen, Eichen und Platanen mit breitgefächerten Kronen und starken Ästen, welche Häuser trugen, die untereinander durch Hängebrücken und Stege verbunden waren. Jedes Haus umlief eine Galerie mit einer niedrigen Balustrade, sodass man in den Baumwipfeln rund um die Lichtung laufen konnte, ohne ein Haus betreten zu müssen.
In der Mitte der Lichtung stand eine Linde, so mächtig und ausladend, dass sie die umstehenden Bäume mit ihrem Blätterwerk fast berührte, obwohl die Lichtung gut dreihundert Schritt durchmaß. Diese Linde hinauf verlief eine Treppe aus Ästen und Wurzelwerk rund um den Stamm bis hinauf in die Baumkrone. Das Haus, welches sie trug, erstreckte sich über drei Ebenen und glich einer Kathedrale aus Holz und Licht.
„Das ist der Ahnenbaum", sagte Daeron feierlich und saß ab.
Anais nickte andächtig, ohne den Blick von der Linde abzuwenden. Sie ließ sich, wie alle anderen auch, aus dem Sattel gleiten und schaute gebannt zu den Stufen, die sich den Baum hinaufwanden.
„Baradir, sei mir willkommen", erschallte eine helle Frauenstimme aus der Höhe und Anais sah eine zarte Gestalt die Treppe förmlich hinunterfliegen.
Die Elfe umarmte den Anführer stürmisch. Anais runzelte verwundert die Stirn.
„Das ist Idhril, seine Mutter", flüsterte Daeron ihr zu. „Jedes Volk entsendet mindestens ein Mitglied der obersten Familie an den Hof des Fürsten, um so seine Verbundenheit auszudrücken", erklärte er ihr leise.
„Mutter, ich freue mich, dich zu sehen", sagte Baradir lächelnd. „Ich und meine Männer und Gäste brauchen ein Nachtlager. Ich nehme an, du hast nichts dagegen, wenn wir hier bis morgen früh rasten."
„Etwas dagegen? Junge, ich habe nur etwas dagegen, dass du mich morgen schon wieder verlassen willst", rief sie warmherzig und lachte. „Lasst eure Pferde auf der Lichtung und kommt alle herauf. Ich lasse uns etwas zu essen kommen."
So stiegen sie Einer nach dem Anderen die schmale Treppe hinauf und traten in den weiten Saal der untersten Etage des Ahnenhauses. Nie und nimmer hätte Anais gedacht, dass solche Raumdimensionen auf einen Baum passen könnten. Die Halle war mindestens hundertzwanzig Schritt lang und fast so breit und sie war ganz aus Holz.
Anais schloss zu Merandil auf, was die Krieger und allen voran Baradir, überhaupt nicht mehr störte. Hatten sie anfangs noch versucht, die Gefangenen strikt voneinander zu trennen, taten sie dies nun nur noch beim Reiten, da sie sie so besser umschließen konnten. Doch Baradir fasste den stummen Entschluss, dass sich auch dies ab morgen ändern würde. Er wollte Merandil und Anais so viel gemeinsame Zeit wie möglich schenken. Selbst Elomir, den er anfangs tatsächlich abgrundtief gehasst hatte, weil er durch die Vertuschung von Velmins Tod und der Geheimhaltung der Botschaft, Verrat begangen hatte, sah er nun mit anderen Augen. Er mochte die Drei.
Anais drückte Merandils Hand und flüsterte ihm zu:
„Ist das nicht einfach unglaublich?"
„Ja, fürwahr", sagte dieser ehrfürchtig und strich über eine der sechs Säulen, die die Decke stützten.
Sie wirkten von weitem wie natürliche Stämme, aber bei genauem Hinsehen erkannte man, dass sie so meisterlich bearbeitet worden waren, dass sie wie echt wirkten. Die Rinde war ganz glatt aus dem Holz herausgeschnitzt und wirkte doch knorrig und rau.
„Setzt euch und ruht euch aus. Ich kümmere mich derweil um die Speisen", wies Idhril die Besucher beschwingt an und rauschte durch eine Seitentür aus dem Raum.
Anais hätte nicht sagen können wie alt sie war. Sie war von schmaler Statur, nicht sonderlich groß, aber ehrfurchtgebietend auf eine Art, die nicht einschüchternd war. Man merkte ihr einfach an ihrer Haltung und der Autorität, die sie ausstrahlte, an, dass sie allseits Respekt genoss, diesen aber nicht ausnutzte. Sie besaß ganz eindeutig eine gütige, warme Seele.
Elomir, Anais und Merandil ließen sich nebeneinander an dem langen Tisch in der Mitte des Saals nieder und die Krieger folgten ihrem Beispiel. Bald wurden große Krüge mit Wasser, Wein, Blütensäften und Kräuteraufgüssen von zarten Elfenmädchen in grünen und blassgelben Seidengewändern aufgetragen. Dann folgten Salate, Hasenbraten, frisches Brot und gedämpftes Gemüse. Es roch so appetitlich, dass allen das Wasser im Mund zusammenlief. Doch sie warteten geduldig, bis die Herrin des Hauses sich zu ihnen gesellte.
Diese schaute verdutzt auf die noch sauberen, leeren Teller vor ihren Gästen.
„Habt ihr denn keinen Hunger?"
Anais lächelte ihr zu, nahm sich einen Löffel voll Wurzelgemüse und brach ein Stück dampfendes Brot.
„Doch und wie", sagte sie und sofort folgten alle ihrem Beispiel und langten herzhaft zu.
„Na also", ließ sich die Hausherrin zufrieden vernehmen und nahm am Kopfende des Tisches Platz. „Die Schar deines Gefolges erkenne ich. Wen aber hast du mir noch mitgebracht?", fragte sie Baradir, der sich neben seine Mutter gesetzt hatte.
Er schluckte und flüsterte ihr die Namen ins Ohr. Ihre Augen wurden groß und sie schaute ungläubig zu Merandil und Anais und dann zu Elomir, der genüsslich in eine Hasenkeule biss. Dann blickte sie ihren Sohn an und schüttelte den Kopf.
„Nicht diese Beiden", hauchte sie erstickt.
Baradir senkte den Kopf und sagte leise:
„Doch, Mutter. Bitte, mach es mir nicht noch schwerer als es ohnehin schon ist."
Wieder betrachtete sie Anais und senkte ihre Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern:
„Sie ist auch eine Tochter des Waldes. Das spüre ich."
„Mehr als das, Mutter. Sie ist die Hüterin der Quelle", erwiderte ihr Sohn mit einem gequälten Gesichtsausdruck.
Idhril schlug erschrocken die Hände vor den Mund.
„Die Schatten jenseits des Inrith fordern die Hüterin der Quelle? Das könnt ihr nicht machen! Sie ist die Brücke zwischen der Magie der Natur und all den Kräften, die uns durchfließen, diejenige, welche die Magie der Quelle rein hält und sie über das Wasser ins gesamte Reich entsendet."
Ihre Augen wanderten zu der nunmehr auch gelöst schmausenden Gestalt Merandils.
"Und was ist mit ihm?"
„Er ist mir ein Rätsel. Ein Schreinermeister der fürstlichen Werkstatt, der bisher durch nichts als seine exquisite Arbeit in Erscheinung getreten ist", entgegnete Baradir.
Lange starrte sie Anais und Merandil an und sagte dann leise:
„Das ist eine Falle. Der Fürst darf sie nicht alleine zum Inrith entsenden. Sag ihm das von mir!"
Nach dem ausgelassenen Essen bekamen alle ein Nachtlager zugewiesen und Merandil und Anais durften sogar ein Lager teilen, ohne dass eine Wache sie störte. Diese postierte sich halbherzig wachend, von außen an die Tür ihres Zimmers gelehnt, auf dem Boden sitzend.
Im Inneren der kleinen Kammer, hoch oben in den Wipfeln des Ahnenbaumes, sanken die beiden Liebenden auf das weiche Bett und lagen sich in den Armen.
„Siehst du, die Situation entspannt sich. Wir werden alles gut überstehen", sagte Merandil zu Anais, die ihren Kopf auf dessen Brust gelegt hatte und dem Schlagen seines Herzens lauschte.
„Ich hoffe du behältst Recht", entgegnete sie schläfrig und im nächsten Moment fielen ihr auch schon die Augen zu.
Merandil strich sanft über ihren Rücken und küsste sie auf den Scheitel. Dann schloss auch er die Augen. Elomir schlief tief und fest im Zimmer nebenan.
Am nächsten Morgen brachen sie nach einem herzhaften Frühstück auf. Idhril drückte Anais zum Abschied fest an sich und schenkte ihr einen kleinen Zweig ihres Ahnenbaumes, was Anais zu Tränen rührte.
„Fühle auch du dich als Teil unseres Volkes, Tochter der Wälder Aranils", sagte Idhril und küsste sie auf die Stirn.
Anais verbeugte sich vor ihr und sagte ergriffen:
„Das tue ich mit Freuden, Idhril."
Dann stieg sie auf ihr Pferd und wollte sich wie gewohnt zwischen ihren vier Bewachern einordnen, als Baradir an ihre Seite ritt und sie anwies:
„Reite neben Merandil. Ich vertraue euch."
Dann setzte er sich wieder an die Spitze des Trupps. Anais strahlte und schloss zu Merandil auf, der sie liebevoll anlächelte und Baradir einen dankenden Blick zuwarf, als dieser sich kurz umdrehte und ihnen zunickte.
„Elomir, was ist mit dir?", rief er fragend nach hinten.
„Ich schließe gerne etwas auf, aber ich glaube, die Beiden genießen ihre Zweisamkeit", antwortete er schelmisch grinsend.
So formierte sich der Trupp locker neu. Sie winkten Idhril und den auf der Lichtung versammelten Galadhrim noch einmal zu und setzten sich dann in Bewegung.
Nach zwei weiteren Tagen sahen sie die Lamara-Berge, die sich blendend weiß von einem wolkenlosen blauen Himmel abhoben. Sie waren schroff und wild, ungezähmt in ihrer äußeren Gestalt. Nur im Inneren waren sie von Höhlen durchzogen, die ihre Bewohner, die Orodben, in Jahrtausenden durch Gänge miteinander verbunden hatten.
Zauber und harte Arbeit hatten Hand in Hand ein Reich im Inneren der Berge geschaffen, das seinesgleichen suchte. Bergkristallmosaike zogen sich über die Wände der Gänge. Leuchtende Steine erhellten das Dunkel der Höhlen und schafften ein warmes goldenes Licht, das an einen Herbstnachmittag erinnerte und natürliche Tropfsteinhöhlen mit kristallklaren unterirdischen Seen, muteten wie Kathedralen an. Es gab keine Häuser, sondern nur Räume, die von den langen Labyrinthgängen zu beiden Seiten abgingen und direkt aus dem Felsen geschlagen worden waren.
Die hallenartigen Höhlen waren Gemeinschaftsorte, in denen bunter Trubel herrschte. Dort ein Marktplatz, hier ein Garten und andernorts ein Festplatz, erfüllt von Musik und Gesang. Die Bergelfen waren blasser als ihre überirdisch lebenden Verwandten, aber sie waren lebensfroh und herzlich.
„Hier rasten wir ein letztes Mal bevor wir Shanduril erreichen", verkündete Baradir, als sie vor dem Eingang ins Höhlenreich standen.
Ein Wachposten eilte ihm entgegen und sie begrüßten einander respektvoll. Die Wache wies ihnen den Weg zu einer kleinen Bergweide, wo sie ihre Pferde grasen lassen konnten. Dann begaben sie sich unter Tage.
Merandil, Anais und Elomir staunten über das Innere des Berges. Keiner von ihnen war je hier gewesen. Nur die Krieger Shandurils kannten die Höhlen anscheinend schon, denn sie bewegten sich zielstrebig durch die Gänge. Vor einer großen silbrig glänzenden Tür machten sie Halt und Baradir klopfte an.
„Herein", erklang eine angenehme Männerstimme von der anderen Seite der Tür.
Baradir öffnete sie und gab den Blick frei auf ein Gemach, das Wohn-, Schlaf- und Audienzzimmer in einem zu sein schien. Ein großes steinernes Bett und eine ebenfalls steinerne Truhe nahmen den linken Teil des Raumes ein. Auf der rechten Seite standen ein länglicher Tisch aus Silber und eine steinerne Bank mit großen seidenen Sitzkissen. In der Mitte stand ein thronartiger, massiver Stuhl aus Silber und Marmor auf einem kleinen Podest, auf welchem ein altersloser, blondhaariger Elf saß, dessen blasse Haut sich deutlich von den dunkelbraunen Augen abhob, die im Licht der Fackeln an den Wänden und den Leuchtsteinen in der Decke funkelten. Er trug einen scharlachroten Mantel und ein silbernes Gewand darunter und lächelte ihnen offen entgegen.
„Es ist schön, dich zu sehen, Baradir. Was führt dich her?", fragte er den Kommandanten.
„Seid gegrüßt, Tilion. Auch ich freue mich, Euch zu sehen", sagte er und verbeugte sich. „Ich bin mit meinen Männern und drei Schützlingen auf dem Weg nach Hause zu Fürst Mandelion. Wir werden den Rest des Weges heute nicht mehr zurücklegen können und bitten deshalb um eine Unterkunft für die Nacht."
„Die sei euch gewährt. Wie viele Gäste hast du mir mitgebracht?", fragte Tilion und erhob sich von seinem Thron.
„Wir sind insgesamt dreiundzwanzig, mein Herr", antwortete Baradir.
„Das sollte kein Problem darstellen", erwiderte der Herrscher der Orodben lächelnd.
Er legte Baradir einen Arm um die Schulter und schritt mit ihm aus seinem Gemach, um die kleine Schar in Augenschein zu nehmen.
„Folgt mir in die Gastquartiere", sagte er, allen freundlich zunickend.
So hatte Anais sich keinen Herrscher vorgestellt, aber sie war angenehm überrascht. Vielleicht würde es am Hofe Mandelions doch nicht so schlimm werden, wie sie anfangs befürchtet hatte.
Sie und Merandil folgten den anderen Hand in Hand. Elomir schritt an Merandils anderer Seite und fünf Krieger ihres Gefolges bildeten die Nachhut. Sie passierten den Marktplatz und einen steinernen Garten. Anais wunderte sich, wie es dazu kam, dass Blumen unter der Erde wachsen konnten. Ob sie durch Magie am Leben gehalten wurden? Vor einer langen Flucht mit Türen, die in die Wände eines golden erleuchteten Ganges eingelassen waren, stoppten sie.
„Diese hier stehen euch alle zur Verfügung", ließ sich Tilion gütig vernehmen und klopfte Baradir noch einmal auf die Schulter. „Besorgt euch alles, was ihr braucht auf dem Marktplatz und sagt es geht auf mich."
„Ich danke Euch untertänigst, mein Herr", erwiderte Baradir mit einer Verbeugung, woraufhin dieser sich würdevoll zurückzog und die kleine Schar sich selbst überließ.
„Wer hungrig ist, geht zum Markt. Wer nicht, kann sein Quartier beziehen", ordnete Baradir an.
An Elomir, Merandil und Anais gewandt, fragte er:
"Was ist mit euch? Steht euch der Sinn nach etwas zu Essen und einem kleinen Rundgang durch die unterirdischen Gefilde?"
„Ein kleines Abendbrot könnte wahrlich nicht schaden und einen Ausflug durch diese faszinierende Welt, werde ich mir auch auf keinen Fall entgehen lassen", meinte Elomir und auch die beiden Anderen nickten zustimmend.
„Gut, dann begleite ich euch", sagte Baradir.
Sie schlenderten gemeinsam zurück zum Markt und versanken in dem bunten Treiben. Interessiert betrachte Anais Stand um Stand und ließ den Überfluss an Eindrücken in sich strömen, bis ihr schwindlig wurde.
Bei einem Backwarenstand begrüßte sie ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Die Kleine hatte lange weiße Zöpfe, hellblaue Augen und eine Haut, so weiß wie Schnee.
„Du bist hübsch", sagte sie zu Anais und lächelte diese an.
Anais erwiderte das Lächeln und antwortete:
„Du aber auch. Wie heißt du?"
„Nimiel", flötete sie mit ihrer glockenhellen Stimme und fragte, „und du?"
„Mein Name ist Anais."
Das Mädchen bekam tellergroße Augen.
„Etwa die Anais, die uns vor den Schatten retten wird?"
Die Hüterin der Quelle legte verschwörerisch ihren Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihr, leise zu sein. Doch sie nickte, woraufhin Merandil besorgte Blicke mit Elomir austauschte.
„Dann bist du Merandil?", fragte sie nun leiser mit einem Blick auf die ineinander verschlungenen Hände der Beiden.
Sie schaute ihn hoffnungsvoll an. Er nickte und drückte Anais' Hand noch fester. Nimiel atmete erleichtert auf und bedeutete Anais, dass sie ihr etwas ins Ohr flüstern wolle, woraufhin diese sich tief zu dem Mädchen hinunterbeugte.
„Kommt meine Mama dann wieder, wenn du zu den Schatten gehst?", fragte sie flüsternd.
Anais zuckte zusammen. Sie ahnte, was die Kleine ihr gleich erzählen würde, doch sie wollte es nicht hören. Wollte nicht hören, dass ein geisterhafter Schatten die Mutter eines kleinen Mädchens getötet hatte, um seine Botschaft zu hinterlassen.
„Ich weiß es nicht", sagte sie deshalb nur knapp und richtete sich schnell wieder auf.
Nimiel begann zu beben.
„Bitte, mach dass sie wiederkommt! Es tut mir so leid. Der Schatten hat gesagt, ich solle sie erstechen und mit ihrem Blut schreiben. Ich wollte das nicht, aber mein Körper hat es einfach gemacht und Mama hat ganz still gehalten dabei. Warum? Warum habe ich das gemacht?"
Nimiel schluchzte so sehr, dass Anais sie über den Stand hinweg in ihre Arme zog und fest an sich drückte. Der Magen drehte sich ihr um, jedes Hungergefühl war verflogen.
Die Kleine hatte laut genug gesprochen, dass auch Baradir, Merandil und Elomir alles hatten hören können. Fast im gleichen Augenblick ballten sie ihre Hände zu Fäusten und schauten einander entschlossen an. Sie würden diese Schatten und alles, was dahinter steckte, zur Strecke bringen. Das Maß war voll!
Sie alle schliefen schlecht in dieser Nacht und brachen bereits im Morgengrauen auf. Als sie am Nachmittag die Silhouette von Shanduril in der Ferne erblickten, ließen sie ihre Pferde laufen, so schnell sie konnten. Es gab keine Zeit zu verlieren!
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