Die weiße Magierin
Der Blick über die sanften Hügel und den stillen See in der Talsenke, erfüllte Anais mit innerer Ruhe und ließ einen Teil ihrer Last von ihr abfallen. Sie stieg auf einen Felsvorsprung, der sich über dem See erhob und breitete ihre Arme aus. Der Wind blies ihr entgegen. Er fuhr durch ihre Haare und unter die Ärmel ihres mittlerweile verschlissenen Gewandes. Sie schloss ihre Augen und ließ sich in Gedanken weit forttragen.
Trotz aller gebotenen Eile war dieser Moment ein Geschenk, welches sie dankend annahm. Anais hatte sich schon lange nicht mehr so frei und sorglos gefühlt. Sie atmete tief ein und nahm die Eindrücke gierig in sich auf. Es war wie ein erlösender Atemzug, ein Aufbäumen der Lungen gegen das drohende Ersticken. Nun erst merkte sie, wie sehr der Schatten des Inrith sie geknechtet hatte.
Die Sonne war schon hinter dem Horizont versunken und die Dunkelheit der Nacht legte sich langsam über die Hügellandschaft. Heute würde sie im Schutz der Felsen am Ufer des Sees ruhen, um im Morgengrauen weiter gen Shanduril zu ziehen. Den größten Teil des Weges hatte sie bereits zurückgelegt. Mit jedem Schritt, den sie sich weiter von der Grenze zu Morlith entfernte, wurde ihr Herz auf einer Seite leichter, doch auf der anderen schwer wie Blei, denn es hieß auch, dass sie sich von Merandil entfernte.
'Das tue ich nur, um ihm am Ende näher zu kommen. Es muss einen Weg geben, ihn zu retten', sagte sie sich immer wieder.
Sie stieg von ihrem Aussichtsposten herunter und suchte einen Lagerplatz für die Nacht. Nicht weit entfernt von dem Felsvorsprung hatten Wind und Wetter den Stein ausgehöhlt und eine perfekte Schlafmulde geschaffen.
Anais bettete ihren Kopf auf ihre Arme und flüsterte:
„Wir sehen uns in unseren Träumen, mein Liebster."
Die Schritte Mandelions hallten durch die Flure des Palastes, als er von seinem Gemach in die Bibliothek eilte. Den Boten Idhrils hatte er am Vorabend mit einer Nachricht zu ihr zurückgesendet. Gleichsam hatte er Reiter zu allen größeren Städten geschickt, um die Botschaft zu verbreiten. Die drohenden Sturmwolken, die über die Stadt hinwegzogen, waren ihm wie ein Omen erschienen, dass ein Krieg heraufzog...ein Krieg, der Gegner brachte, welche keiner einzuschätzen wusste.
Doch Mandelion hatte schon vor über einhundert Jahren dafür gesorgt, dass sie bestmöglich auf einen Angriff vorbereitet wären. Er hatte der Ruhe nicht getraut und trotzdem er um Anais' Stärke wusste, war er sich darüber im Klaren gewesen, dass sie nicht ewig alleine gegen das dunkle Reich bestehen konnte.
Im ganzen Reich war die Suche nach begabten Magiern gestartet worden und auch seine Waffenstreitkräfte waren durch die weise Vorhersicht des Fürsten um ein Vielfaches verstärkt worden.
Nun rief er alle zusammen. Es würde sich bald zeigen, ob er genug getan hatte, um sein Reich auf die Invasion der Schattenkrieger vorzubereiten.
In der Bibliothek angekommen, erwartete ihn Landorielle bereits. Sie war mittlerweile ein fester Bestandteil seines Gefolges geworden, da ihr Wissen schier unerschöpflich war und sie Zusammenhänge erkannte, wo andere ratlos blieben.
Sie blickte ihm düster entgegen und Mandelions Hoffnung erlosch, wie eine Kerzenflamme im Wind.
„Majestät, ich habe keinen Verweis auf irgendeine vergleichbare Macht in den Chroniken gefunden. Ich weiß nicht wie, oder ob man sie bezwingen kann. Das wird sich erst zeigen, wenn wir ihnen gegenüberstehen", sagte Landorielle bedauernd und senkte ihren Blick.
„Ich danke euch. Ich weiß, ihr habt alles getan, was in eurer Macht stand", erwiderte der Fürst und nickte ihr dankbar zu.
Mit dem Morgen kam ein feiner Regen, der in alle Poren drang. Doch Anais hatte weit Schlimmeres ertragen. Sie strebte den Lamara-Bergen entgegen und als sie die weißen Gipfel in der Ferne zwischen den tiefziehenden Wolken aufragen sah, beschleunigte sie ihre Schritte.
Erinnerungen strömten auf sie ein. Sie war nur kurz dort gewesen, aber der Aufenthalt in den weißen Höhlen hatte ihre Sicht auf die Welt für immer verändert. In dieser Nacht waren alle Zweifel, ob sie gegen die Schatten und deren Herrn ins Feld ziehen sollte oder nicht, von ihr abgefallen.
Das Zusammentreffen mit der kleinen Nimiel war wie der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Anais fragte sich, was aus der kleinen Elfe geworden war.
Um die vierte Stunde des Nachmittags herum, erreichte sie die Ausläufer der Berge und begann den Anstieg auf einem schmalen gewundenen Pfad. Sie wusste, dass Shanduril nun nicht mehr fern war, doch vor Einbruch der Nacht würde sie die Stadt nicht mehr erreichen. Vielleicht würde sie wie damals Zuflucht bei den Orodben unter dem Berg finden? Das würde einen kleinen Umweg bedeuten, doch das Gebirge bei Nacht zu durchwandern war gefährlich.
Anais entschied sich dazu, bei Tilion um ein Nachtlager zu bitten und schlug den Pfad nach Westen ein, der sie ein paar Meilen weiter von Shanduril entfernen würde.
Vor dem Eingang zum Berg stand eine Wache, die mit einer jungen Elfe sprach, die einen edlen Schimmel am Zügel hielt. Als Anais sich räusperte, drehten sie sich zu ihr um und die Elfe, die Anais merkwürdig bekannt vorkam, erstarrte mitten in der Bewegung.
Dann wurden ihre Augen feucht und sie brachte unter Schluchzen hervor:
„Anais, ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehen würde."
Die blassblauen Augen schimmerten, als sie sich die Tränen daraus wegwischte und ihr Mund verzog sich zu einem schmalen Lächeln.
„Nimiel?", fragte Anais fassungslos.
„Du kennst meinen Namen noch?"
„Wie hätte ich dich je vergessen können?", fragte Anais tonlos und schloss die blasse Gestalt, ihren Gefühlen folgend, gerührt in die Arme.
„Lass dich anschauen! Aus dem kleinen Mädchen ist eine entschlossene Frau geworden, wie ich sehe", sagte Anais lächelnd.
„Ja, entschlossen trifft es wohl", erwiderte Nimiel. „Du hast uns vierhundert Jahre vor den Schatten bewahrt, doch der Fürst war sich dessen bewusst, dass du nicht ewig die Grenze bewachen könntest. Er hat Magier ausbilden lassen, um einer Flut der Schatten die Stirn bieten zu können, wenn es soweit wäre. Und ich bin eine von ihnen geworden. Ich bin bereit, mich der Brut entgegenzustellen, die meine Mutter auf dem Gewissen hat."
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
Anais blickte sie fassungslos an. Vierhundert Jahre? Dass sie lange an der Schattengrenze geweilt hatte, war ihr klar gewesen, aber vierhundert Jahre?
Mandelion war weise gewesen. Magier konnten wahrscheinlich mehr gegen die Schattenkrieger von Morlith ausrichten, als es Schwerter und Pfeile vermochten.
„Ich reite heute noch an den Fürstenhof", sagte Nimiel.
„Auch ich bin auf dem Weg dorthin. Kann ich dich begleiten?", fragte Anais.
Nimiel schwang sich auf ihr Pferd und reichte Anais die Hand.
„Es ist mir eine Ehre, dich dorthin zu bringen", erwiderte sie lächelnd und zog Anais hinter sich auf den Rücken des Tieres.
Sie nickte dem Wachposten zu und setzte ihren Schimmel in Bewegung.
„Halte dich gut an mir fest. Faenor fliegt wie der Wind, wenn ich ihn loslaufen lasse", riet sie ihrer Mitreiterin.
Und Nimiel hatte nicht zu viel versprochen. Ihr Pferd flog förmlich dahin und die Landschaft verschwamm vor Anais' Augen. Das Weiß der Berge wurde zu Nebelschleiern und das Rot der langsam untergehenden Sonne gerann zu Blut, das sich immer dunkler färbte, je tiefer die Abendsonne sank. Mit dem letzten dunkelroten Schein erreichten sie die Brücke, die vom Gebirge direkt in die Stadt führte.
Im Thronsaal hatte sich bereits eine beachtliche Menge an Heerführern und Magiern eingefunden, die alle angespannt tuschelnd auf das Eintreffen Mandelions warteten. Als Nimiel mit Anais an ihrer Seite den Saal betrat, verstummten die Gespräche. Alle Augen waren auf Anais gerichtet und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Waren die Anwesenden geschockt, sie hier zu sehen? Sie glaubte an den Mienen einiger zu erkennen, dass diese sich fragten, wer die Grenze beschützte während sie hier war.
Nimiel spürte Anais' Unwohlsein und zog sie mit sich in eine abgelegenere Ecke des Raumes.
„Warte auf den Fürsten und sprich zuerst mit ihm", flüsterte sie ihr zu.
Anais nickte und machte sich so klein wie möglich. Sie fühlte sich schuldig.
Nach einer Weile, die Anais wie eine Ewigkeit vorkam, verkündete Elodion, der Hofzeremonienmeister, die Ankunft des Fürsten. Alle verbeugten sich tief, als er würdevoll den Saal betrat und ihn gemessenen Schrittes durchquerte. Er nahm auf seinem Thron Platz und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Da blieben seine Augen an der zerrissenen Gestalt neben seiner weißen Magierin hängen.
„Anais, du bist hier?", entfuhr es ihm verwundert.
Und entgegen aller Etikette, erhob er sich und eilte auf sie zu. Er schloss sie in die Arme und flüsterte zitternd:
„Ich hatte nicht gehofft, dich noch einmal zu sehen. So lange ist es her, seit ich dich und Merandil mit Baradir und seinen Leuten gen Norden schickte, um Morlith in seine Grenzen zu verweisen. Und lange hast du standgehalten. Warum bist du jetzt hier?"
Anais, die verwirrt war von der plötzlichen Intimität des Fürsten vor all den hohen Anwesenden, antwortete leise:
„Ich suche Landorielle, weil ich ihr Wissen benötige. Vieles ist geschehen, dass ich hier und jetzt nicht zu erklären vermag, doch anscheinend gibt es einen Weg, auf dem ich zu Merandil gelangen und ihn befreien kann. Ohne ihn ist der dunkle Herr nicht in der Lage, sich über die Grenze seines Reiches zu bewegen. Rette ich Merandil, so schwäche ich auch die Kraft von Morlith. Ich werde lange, aber nicht ewig leben. Und ich bin die Letzte meiner Art. Wer wird die Grenze bewachen, wenn ich nicht mehr bin?"
Der Fürst starrte sie düster an. Die Logik war nicht von der Hand zu weisen. Doch was, wenn sie bei dem Versuch ihren Liebsten zu retten umkommen würde? Solange sie außerhalb der Grenzen weilte und ihre Magie auf die Schattengrenze konzentrierte, bestand wenigstens noch ein wenig Hoffnung, dass der dunkle Herr seine Heere nicht aussenden konnte und es bei der bloßen Drohung bleiben würde.
„Lass uns nicht hier darüber reden", sagte er und wandte sich dann den anderen Anwesenden zu. „Bitte verzeiht. Das Auftauchen dieser heldenhaften Elfe hat mich sehr überrascht und mich dazu getrieben, das Protokoll zu vergessen. Ich versichere euch, dass ich in Kürze wieder hier vor euch stehen und euch wissen lassen werde, wie wir weiter verfahren werden. Doch jetzt bedarf es einer kleinen Änderung des ursprünglichen Planes. Ich werde mich kurz mit Anais zurückziehen und in Erfahrung bringen, was es Neues von der Grenze zu Morlith zu berichten gibt."
Mit diesen Worten fasste er Anais bei den Schultern und geleitete sie hinaus. Er führte sie in seine Privatgemächer und verschloss die Tür hinter ihnen.
„Erzähle mir alles und lasse nicht die kleinste Begebenheit aus. Danach werde ich entscheiden, ob du einen Weg nach Morlith suchen solltest, oder ob ich dich zurück zum Inrith schicke, auf der Seite von Melith, versteht sich."
Anais schluckte. Sie hatte nicht um Erlaubnis fragen wollen, sondern lediglich darauf gehofft, dass Landorielle ihr den Weg zu Kalea weisen würde. Sie sah Mandelion betreten an und begann, von ihren Erscheinungen zu berichten.
Die Augen des Fürsten wurden immer größer und seine Miene verfinsterte sich zusehends. Es war etwas anderes, die Worte aus dem Munde derer zu vernehmen, deren Ohren sie vernommen hatten, als aus kurzen Meldungen von Botschaftern. Hatte der Geist Anduriels tatsächlich zu ihr gesprochen, oder war sie Wahnvorstellungen erlegen, aus lauter Sorge um Merandil?
Mandelion seufzte und dachte an die Worte, die er Baradir vor mehr als vierhundert Jahren genau an dieser Stelle gesagt hatte.
‚Die Geschicke dieser Welt fordern Tribute, die ich nicht bereit bin zu entrichten. Und doch wird es so geschehen, wie es vorgesehen ward.'
Diesmal würde er zugunsten der Liebenden entscheiden und darauf hoffen, dass auch sein Volk davon profitieren würde. Sollte Landorielle Kenntnis von dieser Kalea haben und sich somit bestätigen, dass Anais nicht fantasiert hatte, so würde er sie ziehen lassen.
Er wusste, dass wieder der Tag kommen würde, an dem die Grenze schutzlos wäre und er war so gut darauf vorbereitet, wie es eben möglich war. Sollten sie kommen! Seine Magier, allen voran die weiße Magierin der Orodben, würden ihnen einen angemessenen Empfang bereiten. Oder sie würden untergehen, wissend, dass sie alles getan hatten, was in ihrer Macht stand.
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