Die Lichtelfen
Die Reiter stürmten so schnell durch die Straßen von Shanduril, dass Anais die Häuser, Plätze, Treppenfluchten, Brücken und Bewohner der Stadt kaum wahrnahm. Sie war immer noch wie betäubt, als sie den Hof des Fürstenpalastes erreichten.
Baradir sprang von seinem Pferd, noch bevor es vollends zum Stehen kam und eilte in den Palast. Er hastete durch die Flure und Säle auf der Suche nach dem Zeremonienmeister und fand ihn schließlich im Vorsaal der Bibliothek.
„Elodion, meldet mich beim Fürsten an", rief er schon von Weitem völlig außer Atem.
Der Zeremonienmeister legte die Stirn in Falten und kam gemachen Schrittes auf ihn zu.
„Ihr seid zurück, Baradir. Habt Ihr die Beiden mitgebracht?"
„Ja, ja...bitte stellt jetzt keine Fragen! Sagt dem Fürsten nur schnellstmöglich, dass ich da bin und ihn dringend sprechen muss!"
Elodion musterte ihn missbilligend. Dem Hauptmann der Palastgarde war jegliche Etikette abhanden gekommen, aber da er wusste, dass der Fürst bereits mit Ungeduld, was sonst gar nicht seiner Art entsprach, auf Baradir und die beiden Gefangenen wartete, drehte er sich nur würdevoll um und machte sich auf den Weg zu ihm.
Baradir schaute ihm wütend nach, da man keineswegs von einer schnellen Meldung sprechen konnte, gemessen an seinem gemächlich schreitenden Gang. Manchmal verfluchte er all die gesellschaftlichen Etiketten bei Hofe. Am liebsten wäre er sofort in den Thronsaal gestürmt und hätte Mandelion berichtet. Er zwang sich jedoch zur Ruhe und wartete.
Nach etwa einer halben Stunde eilte ein Bediensteter auf ihn zu, verbeugte sich und sagte:
„Fürst Mandelion erwartet Euch in seinen Gemächern."
Dann zog er sich wieder zurück.
Baradir stutzte. Normalerweise wurden offizielle, das Reich betreffende Geschäftsangelegenheiten im Thronsaal besprochen, aber ihm sollte es egal sein. Also machte er sich schnell in Richtung der Privaträume des Fürsten auf. Vor der schweren Eichentür mit Saphirintarsien hielt er kurz inne, um sich zu sammeln. Dann klopfte er und nahm Haltung an.
„Herein", klang es von der anderen Seite der Tür und Baradir öffnete sie beherzt.
Fürst Mandelion saß in einem breiten Lehnstuhl am Fenster und schaute auf den Innenhof.
„Ich sehe, du hast deine Aufgabe erfüllt", sagte er mit einem Anflug von Müdigkeit in seiner Stimme.
Baradir kannte diese Stimme nur zu gut. Mandelion sprach mit ihr, wenn er lange mit sich um eine Entscheidung gerungen und diese letztendlich zum Wohle des Volkes, aber gegen seine eigene Überzeugung getroffen hatte.
Der Fürst wandte seinen Blick Baradir zu. Wehmut lag darin und noch etwas Anderes, das Baradir nicht zu deuten wusste.
„Du wirst mir sicher sagen wollen, dass es aller Vernunft entbehrt, die Beiden wie verlangt auszuliefern", fuhr er fort.
Baradir war erstaunt, aber er bejahte die Vermutung.
„Und du hast unbestreitbar Recht damit."
Der Fürst stützte sein Kinn auf seine rechte Hand und sein Blick wanderte weit fort. Er war ganz in sich gekehrt. Baradir traute sich nicht, ihn anzusprechen und wartete auf eine Regung seines Herrn.
Nach einer Weile sagte dieser leise:
„Die Geschicke dieser Welt fordern Tribute, die ich nicht bereit bin zu entrichten. Und doch wird es so geschehen, wie es vorgesehen ward."
Er lächelte traurig und fügte hinzu:
„Lass uns das Beste daraus machen! Ich erwarte dich, Anais, Merandil und Elomir in einer Stunde im Thronsaal."
Damit entließ er Baradir, welcher sich auf den Weg in den Hof machte, um die Nachricht zu überbringen.
Nervös lief Anais an Merandils Hand durch die prunkvollen Gänge des Palastes. Der Glanz und die Weite der Räume schüchterten sie genauso ein, wie die tuschelnden Höflinge, die ihre Köpfe zusammensteckten, als sie an ihnen vorbei liefen.
„Entspann dich", flüsterte Merandil, der den Palast nicht mehr als so groß und erhaben empfand wie sie, da er schon unzählige Male hier gewesen war.
Vor einer riesigen Flügeltür aus Silber, die über und über mit Edelsteinen in allen nur erdenklichen Farbschattierungen besetzt war, welche in sich verschlungene Muster bildeten, blieb die kleine Gruppe stehen. Der Zeremonienmeister rief laut die Namen der Ankömmlinge aus, während sich die Türen von innen öffneten.
Anais starrte wie gebannt auf den silbernen Thron am Ende des Saals, auf dem Fürst Mandelion in erhabener Haltung saß und ihnen würdevoll, aber irgendwie betrübt entgegenblickte. Auf seinem Haupt ruhte ein prächtiger Silberreif, verziert mit unzähligen funkelnden Saphiren. Sein tiefschwarzes glattes Haar fiel ihm bis zur Mitte seines Rückens über die Schultern und der Blick seiner blassblauen Augen war unergründlich. Seine Finger und Handgelenke zierten Schmuckstücke, die zu seinem Kopfreif passten. Im Gegensatz dazu war seine schwarze weite Seidenrobe schlicht.
Anais spürte keinen Zorn in ihm. Sie fühlte keine Angst, wie sie es befürchtet hatte und entspannte sich deshalb ein wenig.
„Lasst uns alleine", sagte er an Elodion und die zwei Elfen gewandt, die rechts und links der Tür postiert waren.
Diese verließen, sich stumm verbeugend, den Saal.
„Ich heiße euch willkommen", hob Mandelion an, zu Anais, Merandil und Elomir zu sprechen. „Ihr seid sicher nicht ganz aus freien Stücken hier und ich entschuldige mich bei euch für alle Unannehmlichkeiten, die euch widerfahren sein mögen. Doch eure Anwesenheit hier war unabdingbar."
Er machte eine Pause und erhob sich zu voller Größe von seinem Thron.
„Seit den blutigen Vorkommnissen, von denen ihr sicher bereits wisst, haben wir einige Nachforschungen angestellt und sind auf interessante Fakten gestoßen, die ein völlig neues Licht auf die dreisten Forderungen der Schattenwesen werfen. Ich hatte das Glück, eine mehr als fundierte Chronistin an meiner Seite zu haben, die, nun ja, Licht in das Dunkel brachte. Doch das kann sie euch besser erklären, als ich es vermag. Landorielle, komm bitte zu uns und berichte von deinen Entdeckungen", sagte der Fürst.
Aus einer kleinen Nische, welche keiner der Vier vorher beachtet hatte, schritt eine zierliche Elfe in einem grünen Gewand. Sie verbeugte sich vor dem Fürsten und grüßte dann Baradir, Merandil, Anais und Elomir mit einem ergebenen Nicken.
„Was ich herausfand, erklärt die Forderungen der Schatten, die mit Sicherheit ihren Ursprung in Morlith haben. Sagt euch dieser Name etwas?", fragte sie in die Runde.
Alle schüttelten ihre Köpfe.
„Nun ja, zugegeben, dieses Land geriet in Vergessenheit, da es lange Zeit unsichtbar durch die Schattengrenze von unserem getrennt war."
Anais zuckte zusammen und Landorielle musterte sie eingehend.
„Du weißt etwas davon, nicht wahr?"
Und auch Merandil und Elomir erinnerten sich an die Geschichte Anais' Mutter, in der sie diese vor der Grenze warnte.
„Diese Grenze wurde einst von den mächtigsten unter uns Elfen geschaffen, den Lichtelfen. Nur sie vermögen es, die Grenze aufrecht und intakt zu halten und das Übel einzuschließen, welches sie dorthin verbannten. Doch es kostete sie einen hohen Preis. Die Magie, die dafür nötig war, zehrte ihre Kräfte auf und nach und nach kamen alle dadurch um. Am Ende gab es nur noch zwei Lichtelfen, zwei Frauen mit ungeheuer starker Magie. Doch sie wussten, dass auch diese irgendwann erloschen sein würde. Eine von ihnen gebar eine Tochter, kurz nachdem ihr Gemahl an der Aufrechterhaltung der Schattengrenze zu Grunde ging. Die Andere galt lange Zeit als verschollen und wurde erst vor einhundertzwanzig Jahren das letzte Mal wiedergesehen. Danach verschwand sie erneut spurlos und wurde bis heute nicht mehr gefunden. Aber sie hinterließ ihr Erbe einem Sohn, von dem niemand weiß, wer sein Vater ist. Nur durch die Magie der Lichtelfen kann Melith von Morlith getrennt und in Sicherheit sein und so brauchen wir die letzten Beiden derer", schloss Landorielle ihren Abriss der Geschehnisse.
„Und wer sind diese Beiden?", fragte Merandil, den ein ungutes Gefühl beschlich.
„Sie stehen direkt vor mir", sagte Landorielle und wies auf Anais und Merandil.
Anais schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte nicht sein. Warum wusste sie nichts davon?
„Meine Mutter war die Hüterin der Quelle, bevor sie aus diesem Leben schied, so wie ich nun", beteuerte sie verzweifelt.
„Ja, das war sie, weil sie eine Lichtelfe war. Die Quelle wird seit jeher von den Lichtelfen bewacht, da diese über die stärksten magischen Kräfte verfügen und die Quelle allein durch ihre bloße Anwesenheit reinhalten können", erklärte die Chronistin.
Merandil sah sie verwirrt an.
„Anais' Herkunft erschließt sich mir, jetzt wo du es erklärst. Aber du musst dich irren, was mich angeht", beharrte er.
„Nein, Merandil", mischte sich nun der Fürst ein, der bisher alles still verfolgt hatte. „Aber das kann dir jemand anderes besser erklären. Adahidh, geselle dich doch zu uns", rief er.
Eine weitere Seitentür öffnete sich und heraus trat, zu Merandils größter Verwunderung, sein Ziehvater und Lehrmeister.
„Meister, was hat das zu bedeuten?", fragte Merandil atemlos und mit pochendem Herzen.
„Mein Sohn", sagte dieser mild, „es ist an der Zeit, dir die Wahrheit zu sagen. Ja, du kamst als Baby zu mir, so winzig klein und hilflos. Aber ich fand dich nicht auf meiner Türschwelle, sondern empfing dich von deiner Mutter, die gehetzt an meine Tür klopfte und mich bat, dich bei mir aufzunehmen und niemandem von deiner Verbindung zu ihr zu erzählen. Anduriel war in Sorge um dein Leben, sagte mir aber nicht warum genau. Doch in ihren Augen konnte ich sehen, wie sehr sie um dich fürchtete und stellte daher keine Fragen, sondern gab ihr nur mein Versprechen, dich zu behüten und dein Erbe vor der Welt geheim zu halten. Das geht nun nicht mehr", erklärte er betrübt.
Merandil wurde schwindlig. Er wusste nicht mehr, was er denken oder glauben sollte. Er und Anais waren Lichtelfen, die Träger stärkster Elfenmagie? Warum hatte er davon nie etwas gespürt? Oder musste man diese erst erlernen?
Elomir, der bisher stumm geblieben war, schaltete sich nun ins Gespräch mit ein.
„Jetzt sehe ich alles klar! Die Schattengrenze wurde schon lange nicht mehr magisch erneuert und wird wahrscheinlich langsam brüchig. Deswegen dringen die Schatten zu uns. Was auch immer auf der anderen Seite lauert, weiß aus irgendeinem Grund von Merandil und Anais und will sie unschädlich machen, bevor sie die Grenze wieder stärken können und Kinder in die Welt setzen, die ihr Erbe antreten werden."
Anais wurde rot und auch Merandil warf seinem Freund einen missbilligenden Blick zu, der ihn darum bat, seine Frau nicht vor allen Anwesenden in Verlegenheit zu bringen.
„Was denn? Sowas passiert nun mal früher oder später, wenn man die Hände nicht voneinander lassen kann", rechtfertigte sich Elomir augenrollend.
Adahidh sah seinen Ziehsohn fragend an, da er diesen kaum in Verbindung mit dem weiblichen Geschlecht kannte.
„Meister, Anais ist meine Frau", erklärte dieser an seinen Ziehvater gewandt.
„Junge, welch eine Freude", rief dieser aus und umarmte Merandil stürmisch. Dann ergriff er Anais' Hände und strahlte sie an. „Ich hätte nie geglaubt, jemals eine so entzückende Schwiegertochter zu bekommen."
Anais' Röte verstärkte sich noch, soweit dies überhaupt möglich war.
„Das ist wirklich überaus erfreulich und ich gratuliere dem jungen Paar", ließ sich Mandelion nun vernehmen. „Aber wir sollten nicht aus den Augen verlieren, was nun auf uns zukommt, oder besser gesagt auf euch Beide", sagte er auf Anais und Merandil weisend. „Die Forderung ist zweifellos eine Falle. Jedoch ist die Aufrechterhaltung der Schattengrenze von größter Wichtigkeit und in Ermangelung weiterer Alternativen, sehe ich nur die Möglichkeit, dass ihr dieses Erbe antretet."
„Aber ich habe keine Ahnung wie man das tut", warf Anais verstört ein. „Ich spüre Magie in mir, aber ich kann sie nicht lenken, kann nicht beeinflussen, was sie bewirken soll. Sie fließt einfach."
Merandil war noch ratloser. Er spürte die Magie nicht einmal, außer...plötzlich erinnerte er sich an das Gefühl von magischen Wellen, die ihn durchliefen, während er an ihrem Haus gearbeitet hatte. Er hatte auch immer ein undefinierbares Kribbeln verspürt, wenn er das Wasser der Quelle berührte.
„Kann es sein, dass sich die Magie der Lichtelfen aus der Quelle Aranils speist?", fragte er vorsichtig.
Landorielle machte eine ausholende Geste und sagte:
„Die Magie ist ein Fluss, der alles durchdringt und in Bewegung hält, doch durch die Quelle fließt sie am stärksten, da alle Magie dort entspringt. Sie speist sie nicht wirklich, doch sie erweckt, was sowieso schon in dir schlummert."
Fürst Mandelion schritt langsam durch den Saal. Er maß alle Anwesenden mit Blicken.
„Seid ihr bereit zu erlernen, was eure Magie beherrschen soll?", fragte er die Lichtelfenabkömmlinge.
Anais dachte an Nimiel, die durch die Schatten zur Mörderin ihrer Mutter geworden war und nun mit der schrecklichen Schuld leben musste. Sie dachte an alle anderen Opfer und wagte es nicht einmal, sich vorzustellen, welche Qualen diese erlitten hatten. Und so sagte sie mit fester Stimme:
„Ja, ich bin bereit dazu."
Merandil war stolz auf seine Liebste und wusste, dass es richtig war, aber er wollte sie trotzdem nicht in Gefahr bringen. Er würde sie mit seinem Leben schützen.
Und so sagte auch er:
„Ja, ich werde dabei an Anais' Seite sein."
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