Die Gesandten
Elomir trieb sein Pferd unerbittlich voran. Dem stolzen braunen Tier stand der Schaum vorm Maul und es triefte vor Schweiß, aber Elomir gönnte sich und ihm keine Pause. In den letzten vier Tagen hatten sie insgesamt nicht länger als fünf Stunden gerastet. Seine Nerven waren bis zum Platzen gespannt und er biss knirschend die Zähne zusammen.
Den größten Teil der Strecke hatte er seinem Instinkt folgend zurückgelegt und sich nur selten durch rasche Nachfragen in Siedlungen vergewissert, dass er auf dem richtigen Weg war.
Die weite Grasebene, über die er fast zwei Tage geritten war, ging nun am Horizont in einen dichten Wald über. Elomir atmete auf. Jetzt musste er nur noch den kleinen Bach finden, der angeblich an der Grenze zwischen Gras- und Waldland scheinbar im Boden versickern sollte. Dann würde er ihm in den Wald folgen und hoffentlich bald auf Merandil stoßen.
Er erhöhte den Schenkeldruck noch ein wenig und der Braune sprengte dem Waldsaum entgegen.
Anais saß am Ufer des kleinen Waldsees, den sie zu ihrer neuen Heimstatt auserkoren hatten und schaute Merandil dabei zu, wie er das Gerüst für ihr Haus errichtete. Schlanke weiße Fensterbögen, die nach oben hin spitz zuliefen, bildeten die Vorderfront. Trotzdem erst wenige Streben und Rahmen standen, hatte Anais bereits eine Vision vom fertigen Haus und dem, was sich darin abspielen würde. Sie beobachtete ihren frisch angetrauten Gemahl und verliebte sich mit jedem Augenblick mehr in ihn.
Die Blicke, die er ihr zuwarf, während er sich den Schweiß redlicher Arbeit von der Stirn wischte, waren voller Zuneigung und Verlangen. Auch er wollte so schnell wie möglich Leben in sein Bauwerk bringen, doch das sollte nicht auf Kosten der Handwerkskunst gehen. Er wollte für Anais und ihre zukünftige Familie ein kleines Kunstwerk erschaffen, in dem sie der Natur nah waren. Und er hatte tatsächlich das Gefühl, dass ein wenig Magie in seine Arbeit einfloss.
Das Prickeln, welches er verspürte, wenn er mit Anais an der Quelle Aranils weilte und seine Hände durch deren Wasser gleiten ließ, gab er nun in kleinen Prisen an das Holz weiter, aus welchem er ihr Heim erschuf. Das Material strahlte eine besondere Wärme und Behaglichkeit aus und Merandil spürte den Austausch magischer Strahlung zwischen ihm und dem Holz, wenn er darüber strich.
„Ich liebe es, dir zuzuschauen und die Fortschritte zu sehen, aber ich wünschte du wärst schon fertig. Du hast Ungeduld in mir gesät", rief Anais scherzhaft tadelnd zu ihm hinüber.
„Ein wenig musst du dich schon noch gedulden, Liebste", entgegnete Merandil lächelnd. „Ich arbeite erst seit zwei Wochen daran und es werden noch Monate vergehen bis es fertig ist."
„Vergib mir, aber du hast Begierden in mir erweckt, von deren Existenz ich vorher nichts wusste. Ein Teil von mir wünscht sich, dass du Tag und Nacht durcharbeiten würdest, damit wir schnell einziehen können. Ein anderer Teil jedoch möchte dich die ganze Zeit davon abhalten und lieber daran arbeiten, das Leben zu erschaffen, welches sich in unserem Haus entfalten soll."
Merandil ließ sein Werkzeug sinken und ging zu ihr. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie leidenschaftlich.
„Ich bin süchtig nach dir", hauchte Anais als sie sich atemlos voneinander trennten.
„Dann füge ich dies deinen vielen Tugenden hinzu", sagte Merandil und ließ seine Hände ihren Hals hinabgleiten. „Lass mich noch die Seitenstrebe stabilisieren und dann kümmern wir uns um die Erschaffung neuen Lebens", flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie seufzte und schmiegte sich noch einmal an ihn.
„Das klingt nach einem guten Kompromiss. Ich gehe zur Quelle und schaue dort nach dem Rechten bis du soweit bist", sagte sie und löste sich von ihm.
Im Gehen warf sie ihm einen sinnlichen Blick über die Schulter zu, der ihn anspornte, sich mit der Arbeit zu beeilen. Anais schmunzelte. Sie fand Gefallen an dem Spiel und der Macht, die ihre Blicke und Worte auf Merandil ausübten. Im Gegenzug war sie ihm gleichermaßen verfallen und eine Geste von ihm genügte, um sie willenlos zu machen. Es war ein süßes Geben und Nehmen, sich Vertrauen und sich in die Hände des Anderen Begebens.
Sie genoss den Spaziergang zur Quelle und lauschte den vertrauten Geräuschen. Doch dann stutzte sie. Da war noch ein anderes Geräusch, das so gar nicht hierher passte und sich zwischen das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter mischte. Sie fühlte eine gehetzte Seele, die völlig erschöpft war. Und sie spürte Angst.
Mit jedem Schritt, den sie der Quelle näher kam, schwoll das Gefühl an. Anais wurde unruhig. Es ging keine Gefahr von der Aura aus, aber trotzdem fühlte sie sich in den Strudel hineingezogen, als wäre die Angst auch ein Teil von ihr.
Sie suchte die Umgegend mit Blicken ab und erkannte in der Ferne eine reitende Gestalt, die ihr Pferd zu größter Eile antrieb. Bereits nach kurzer Zeit konnte sie einen jungen Elf mit langem blondem Haar erkennen, der verbissen auf sie zuhielt.
„Haltet ein", rief sie ihm entgegen. „Was führt euch hierher?"
Der Reiter verlangsamte sein Tempo und trabte nun weiter auf sie zu. Nur eine Armlänge von ihr entfernt, brachte er sein erschöpftes Reittier zum Stehen.
„Ist dies die Quelle Aranils?", stieß der Elf keuchend hervor.
„Ja. Was ist euer Begehr?", fragte Anais beunruhigt.
„Kam ein Merandil hierher?", erkundigte sich der Reiter voller Hoffnung.
„Ja. Warum wollt ihr das wissen?"
„Ist er noch hier?"
Anais musterte den Elf eingehend und überlegte, ob doch irgendetwas Bedrohliches von ihm ausging. Doch sein Geist schien Merandil wohlgesonnen zu sein. Er schien ihn sogar beschützen zu wollen.
„Er ist hier. Ich..."
„Bringt mich zu ihm!", unterbrach der Fremde Anais ungeduldig.
Er sprang von seinem Pferd, tätschelte diesem den Hals, nahm es am Zügel und schaute Anais auffordernd und bittend an.
„Folgt mir", sagte sie knapp.
Ein ungutes Gefühl beschlich sie und schnürte ihr die Kehle zu. So eilte sie ihm nur stumm voraus und er folgte ihr auf den Fersen. Als sie am See ankamen, wischte sich Merandil gerade die Hände an seiner Hose ab. Er stand mit dem Rücken zu den Ankömmlingen und drehte sich verwundert um, als er die Schritte Mehrerer und das Schnauben eines Pferdes vernahm. Sein Gesicht erstarrte kurzzeitig zu einer Maske aus Erstaunen und Freude.
„Elomir! Was machst du hier?", rief Merandil und beeilte sich, den See zu umrunden, um zu seinem Freund zu gelangen und diesen in die Arme zu schließen.
„Elomir?", fragte Anais überrascht. „Dein Freund aus der Werkstatt?"
Merandil nickte und sagte an diesen gewandt:
„Das ist meine Frau, Anais."
Er nahm ihre Hand und küsste sie. Seine ganze Haltung drückte den Stolz aus, der in diesen Worten mitschwang.
Elomirs Augen weiteten sich und er taumelte rückwärts.
„Anais?"
Er blickte gehetzt zwischen den beiden hin und her. Merandil und Anais, die sich immer noch an den Händen hielten, schauten sich verwirrt an. Was war nur in seinen Freund gefahren, fragte sich der junge Schreinermeister besorgt.
„Nein, das darf nicht sein! Deine Frau? Du hast...?", stotterte Elomir.
„Was ist los mit dir?", ließ sich Merandil vernehmen. „Ich weiß, das kommt überraschend für dich, aber freust du dich nicht für mich?"
„Doch. Verzeih mir. Es ist nur...etwas Schreckliches und Mysteriöses ist geschehen. Merandil, ich habe Velmin tot in der Werkstatt aufgefunden und eine Nachricht aus Blut war neben ihm", berichtete Elomir.
„Was für eine Nachricht?", fragte Anais mit wachsender Besorgnis.
Und als Elomir vortrug, welche Forderung dort gestanden hatte, wurde sie ganz bleich.
„Merandil, deine Träume...", presste sie ängstlich hervor.
„...waren Visionen", beendete er ihren Satz. „Aber wieso tauchst du jetzt in ihnen auf?"
Die Drei schauten sich ratlos an.
„Wer weiß alles davon?", fragte Merandil schließlich.
„Keiner, wenn Thrandir seinen Mund gehalten hat, wie ich es ihm eingeschärft habe."
„Und was nun?", warf Anais die Frage in die Runde, die sich alle stellten.
„Bei allem, was ich in den Träumen...Visionen durchlebt habe, kann ich kaum davor davonlaufen. Und wenn andere dafür sterben müssen, kann ich mich dem nicht entziehen. Aber ich werde dich nicht in Gefahr bringen", sagte er an Anais gewandt.
„Ich werde dich nicht alleine gehen lassen. Hast du schon vergessen, was ich dir gelobt habe?"
Sie sah ihn trotzig an und ballte ihre Hände zu Fäusten.
„Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt und werde an deiner Seite sein, egal was auch passiert."
Merandil zog sie dicht an sich und flüsterte:
„Das kann ich nicht zulassen. Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe. Ich werde dich nicht durch die Hölle gehen lassen."
Elomir, dem das Bild der beiden noch fremd war und der die sich überschlagenden Ereignisse erst einmal verarbeiten musste, sagte nur:
„Können wir das später klären? Es geht hier um das verdammte Leben meines besten Freundes und ich bin nicht den ganzen weiten Weg hierher geritten, um einem Ehezwist beizuwohnen. Ich bin hier, um zu helfen deinen Hintern zu retten!"
Trotz all der Verwirrung und Angst, die Anais verspürte, musste sie lächeln.
„Ich erkenne den Freund aus deinen Erzählungen."
„Ja, ganz der Alte", stimmte Merandil ihr grinsend zu.
Sie redeten die ganze Nacht hindurch und versuchten zu ergründen, was die Nachricht zu bedeuten hatte und wie sie weiter vorgehen sollten.
„Wir sollten nichts überstürzen und uns nicht unnötig in Gefahr begeben", sagte Anais schließlich. „Vielleicht war das auch nur ein makabrer Scherz und hat gar nichts weiter zu bedeuten."
Merandil und Elomir warfen sich vielsagende Blicke zu. Sie glaubten nicht daran. Anais auch nicht wirklich, doch sie wollte es nicht wahrhaben und schob den Gedanken an eine dunkle Macht, die sie einforderte, weit von sich.
„Hast du je von einem Berg Inrith gehört?", fragte Merandil seine Liebste.
„Ich erinnere mich bruchstückhaft daran, dass meine Mutter, bevor sie diesem Leben entschwand, etwas von einer Grenze sagte, die am Inrith verläuft. Ich sollte mich von ihr fernhalten, da jenseits davon Dunkelheit herrsche. Es hörte sich für mich damals wie ein Märchen an und ich habe nie weiter darüber nachgedacht."
Merandils Miene verfinsterte sich. Alles passte zu gut zusammen. Das konnte kein Zufall sein.
Aber warum er und Anais? Was hatten sie damit zu tun? Wieso hatte Anais keine Vorahnungen gehabt, wo ihr Geist doch so viel sensibler war als der seine?
Da durchfuhr ihn ein schrecklicher Gedanke. Die Visionen hatten ihn direkt zu ihr geführt. Hatte er sie damit auf den Plan gebracht, oder war dies Teil von etwas, das seine Vorstellungskraft überstieg?
Urplötzlich fühlte er sich wie eine Marionette in den Händen eines skrupellosen Puppenspielers. Hatte dieser sie zusammengeführt, um irgendeinen perfiden Plan zu verfolgen?
Er erschauderte und verfluchte sich dafür, hierhergekommen zu sein. Wenn Anais etwas zustoßen sollte, würde er sich das nie verzeihen können.
‚Ich werde mich vor dich stellen, wie ein Wall, an dem alles Übel abprallt', echote es in seinen Gedanken.
Er würde Wort halten. Nur noch ein paar Tage mit ihr...er wollte sie nicht loslassen, wollte sie noch für eine Weile nah bei sich spüren und allmählich Abschied nehmen. Das Herz wurde ihm schwer wie Blei. Morgen würde er Elomir einweihen. Sein Freund würde ihm die Kraft geben, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen, da war er sich sicher.
Kurz vor Sonnenaufgang sagte Merandil an Elomir gewandt:
„Du musst unglaublich müde sein."
Elomir nickte. Er konnte sich tatsächlich kaum noch wach halten.
Anais erhob sich und bot ihm an, ihn zu den selten genutzten Gasträumen zu führen, so dass er sich ausruhen könne, was dieser dankend annahm.
Nachdem Anais und Merandil ihn dorthin begleitet und sich vergewissert hatten, dass es Elomir an nichts fehlte, ließen sie ihn alleine. Elomir schlief auf der Stelle ein. Die Liebenden schauten sich traurig an. Obwohl Merandil zum Weinen zumute war, rang er sich ein Lächeln ab und drückte Anais fest an sich.
„Eigentlich hatten wir etwas anderes vor, nicht wahr?", erinnerte er sie und küsste zärtlich ihren Hals.
Diesmal lag keine erotische Spannung in der Luft, sondern Verzweiflung, die das Verlangen nach Nähe schürte. Sie wollten nur ihre Sinne betäuben und sich einen Moment Glückseligkeit stehlen.
Elomir schlief ganze drei Tage und drei Nächte. Der Gewaltritt hatte ihn völlig entkräftet.
Als er endlich erwachte, wusste er zuerst nicht wo er war. Doch langsam kam die Erinnerung und mit ihr das beklemmende Gefühl von unausweichlichem Schicksal.
Er schlug die Decke zurück und schwang sich aus dem schmalen Bett aus Wurzelwerk, das direkt der Erde zu entwachsen schien. Verwundert ließ er den Blick durch den kleinen Raum schweifen. Bei seiner Ankunft war er viel zu müde gewesen und hatte sich nur noch ins Bett fallen lassen. Jetzt aber gewahrte er die Wände aus Baumrinde und die runden Fenster, die wie große Astlöcher aussahen. Durch kleine Ritzen in der Rinde schlängelten sich grüne und rötliche Ranken in den Raum. Anstelle von Stühlen oder Bänken, erhoben sich kleine bemooste Hügel an einer Seite des Zimmers. Elomir fühlte sich, als sei er im Inneren eines Baumes.
Es war fremd, aber merkwürdig beruhigend und harmonisch. Er trat durch eine kleine Tür ins Freie und blinzelte in die Sonne. Suchend sah er sich um und fand die Richtung, aus der er mit Anais und Merandil hierhergekommen war.
Er fand die beiden an dem kleinen See, zu welchem Anais ihn am ersten Tag geführt hatte. Sie sahen so vertraut und verliebt aus, dass es ihm einen Stich ins Herz versetzte. Endlich hatte sein Freund Liebe gefunden und nun stand diese unter einem so schlechten Stern.
„Elomir, wie geht es dir?", rief Merandil aus, als er seinen treuen Freund erblickte.
„Es geht mir gut. Habe ich lange geschlafen?"
„Drei Tage", lachte Anais.
Elomir starrte sie verdutzt an und blickte dann zu Merandil, der nur bestätigend nickte.
„Verzeiht", sagte er beschämt.
„Nicht doch. Du hast es anscheinend gebraucht", wehrte Merandil ab.
Da ließ sich aus Elomirs Magen ein durchdringendes Knurren vernehmen.
„Auf zu Mutter Naturs Buffet", sagten Anais und Merandil wie aus einem Munde.
Elomir lächelte und folgte den Beiden. Sie waren wahrhaft füreinander geschaffen.
Anais klebte förmlich an Merandil und obwohl er dies genoss, suchte er nach einer Möglichkeit, mit Elomir unter vier Augen zu reden. Er warf ihm bittende Blicke zu und ließ seinen Kopf unauffällig zur Seite zucken. Elomir begriff schließlich, dass Merandil ihn alleine sprechen wollte und sagte zu Anais:
„Lässt du uns ein paar Minuten, um von Mann zu Mann zu reden? Es gibt da Einiges, was ich loswerden möchte, das nicht für ein zartes Frauengemüt wie deines bestimmt ist."
Anais schaute unsicher zu Merandil und dieser nickte ihr aufmunternd zu.
„Ich bin gleich wieder da", versicherte er ihr.
Die Freunde entfernten sich schnell außer Hörweite und Merandil dankte Elomir.
„Ich kann Anais nicht zum Inrith mitnehmen, aber ich muss herausfinden, was es mit dieser Forderung und meinen Visionen auf sich hat. Lass uns heute Nacht aufbrechen, wenn Anais schläft!"
„Du wirst ihr das Herz brechen", sagte Elomir.
„Ich weiß, aber ich werde ihr auch das Leben retten", antwortete Merandil schluckend.
Elomir umarmte seinen Freund. Er konnte fühlen wie schwer es ihm fiel, Anais zu verlassen.
„Ich bin für dich da", versprach er ihm leise.
Merandil klopfte ihm auf die Schulter, straffte sich und setzte eine unbekümmerte Miene auf.
‚Wie viel Kraft muss ihn das wohl kosten? ', fragte sich Elomir stumm.
Sie kehrten zu Anais zurück und taten so, als wäre alles in bester Ordnung. Den Rest des Tages verbrachten sie auf einer Lichtung im hohen Gras und Anais fragte Elomir über Merandil aus. Sie war neugierig darauf, was es aus der Sicht seines Freundes alles über ihren Liebsten zu berichten gab. Dieser erzählte Geschichten von einer Zeit, in der sie beide noch Kinder gewesen waren, von jugendlichen Eskapaden und über seinen Weg zum Meister. Er sprach von Tagen voller Glück, die sie gemeinsam reitend und jagend verbracht hatten.
Anais lauschte ihm und beobachtete jede Regung Merandils. Sie sah sein Strahlen, wie er einige Male errötete und wie er verträumt in Erinnerungen schwelgte, spürte die tiefe Verbundenheit der beiden, eigentlich so ungleichen Elfen und es erwärmte ihr Herz.
Als es dunkel wurde, sagte Elomir:
„Geht ruhig schlafen. Ich bleibe noch wach. Die zurückliegenden drei Tage haben meinen Schlafbedarf erst einmal gedeckt."
Anais verabschiedete sich und nahm Merandil bei der Hand. Dieser drehte sich im Gehen zu Elomir um und warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. Elomir nickte stumm.
In ihrem kleinen Heim unterm Grasdach angekommen, presste Merandil sich an Anais und flüsterte ihr ins Ohr:
„Ich will dich glücklicher machen als jemals zuvor."
Anais vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er küsste sie sanft auf den Kopf und ließ seine Hände über ihren Körper wandern, wollte sich jede Stelle ihrer perfekten Gestalt einprägen, sie erfühlen und tief in sich aufnehmen. Vielleicht würde dies das letzte Mal sein, dass er sie in seinen Armen hielt.
„Du machst mich immer glücklich", hauchte sie und ließ sich fallen.
Sie wollte ihn spüren, begierig darauf, wieder etwas Neues an und in ihm zu entdecken, denn jedes Mal war anders und vertiefte ihre Liebe zu ihm, obwohl sie schon viele Male angenommen hatte, dass dies gar nicht mehr möglich wäre.
Als Anais erschöpft lächelnd in Merandils Armen eingeschlafen war, atmete er innerlich tief ein. Er musste stark sein und einen Ausweg finden. Was immer ihn am Inrith erwarten würde, er musste dem widerstehen, es besiegen und zu Anais zurückkehren. Aber jetzt blieb ihm nichts Anderes übrig, als sie erst einmal zu verlassen.
Er zog vorsichtig den Arm unter ihr weg und widerstand dem Drang, sie zum Abschied zu küssen. Stattdessen erhob er sich leise.
‚Blick nicht zurück', ermahnte er sich und schritt entschlossen hinaus ins Freie.
Wo war sein Freund? Er schlug den Weg in Richtung der Lichtung ein, auf der sie den Tag verbracht hatten.
„Elomir?", rief er leise.
Rechts neben ihm knackte etwas im Unterholz und er hörte eine gedämpfte Stimme.
„Elomir, bist du es?", fragte er in die Dunkelheit hinein.
Als Antwort sprangen acht schattenhafte Gestalten vor ihm auf den Weg und zielten mit Pfeil und Bogen auf ihn. Im fahlen Licht des Mondes erkannte Merandil Elfenkrieger der Palastgarde in den Gestalten. Von hinten wurde er unsanft an den Schultern gepackt, seine Arme wurden ihm grob auf den Rücken gedreht und dort fest mit dicken Lederriemen zusammengebunden.
„Merandil, ihr steht unter Arrest", tönte eine Stimme in seinem Rücken.
Er keuchte auf. Einige Schritt vor ihm wurde Elomir, ebenfalls gefesselt und zusätzlich geknebelt, von vier weiteren Kriegern aus dem Unterholz auf den Weg gestoßen.
Seine Augen sprachen Bände. Sie sagten ‚es tut mir so leid'. Das Einzige, woran Merandil im Augenblick denken konnte war jedoch Anais. Sie durften sie nicht finden und er musste weit weg von hier.
Als hätte der Anführer des Trupps seine Gedanken gelesen, fragte dieser kalt:
„Wo ist die Hüterin der Quelle?"
Merandil schwieg stoisch, woraufhin er einen heftigen Hieb in die Seite erhielt, der ihn taumeln ließ.
„Wo ist Anais?", zischte der Anführer drohend.
Merandil hätte sich lieber zusammenschlagen lassen, als ihnen auch nur ein Wort zu sagen. Er hoffte inständig, dass die Krieger das winzige Haus, welches unter Bäumen stehend in der Nacht eher wie ein Gebüsch, denn wie ein Gebäude anmutete, nicht sehen und somit seine Liebste nicht finden würden.
‚Bitte schlaf und sei ruhig', flehte er in Gedanken.
Gerade als einer der Krieger wieder zu einem Schlag ausholte und Merandil sich mental dagegen wappnete, gellte ein Schrei durch die Nacht. Er hätte die Stimme unter Millionen erkannt und brach innerlich zusammen.
„Es scheint, meine Männer haben sie gefunden", sagte der Kommandant spöttisch und stieß ihn in die Richtung, aus welcher der Schrei ertönt war.
Elomir durchfuhr nur ein Gedanke.
'Thrandir, du mieser Verräter!'
Insgesamt fünfzehn Krieger eskortierten die Beiden zur Hütte Anais'. Merandil verspürte Wut und Trauer, als er seine Geliebte vor dem Gelass knien sah. Auch ihr waren die Hände gebunden und fünf Schützen richteten ihre Bögen auf sie. Sie zitterte und Tränen rannen ihr über die Wangen. Verzweiflung lag in ihrem Blick.
„Merandil und Anais, Schatten drangen in unsere Welt ein und bedrohen diese. In allen Teilen des Reiches mordeten sie und hinterließen eine unmissverständliche Botschaft, in der sie euch forderten. Fürst Mandelion befiehlt euch zu sich, um über die Forderung zu entscheiden. Bis zu unserer Ankunft am Hofe in Shanduril, werdet ihr in unserem Gewahrsam bleiben", verkündete der Anführer gebieterisch. „Und Elomir... auch euch wird die Ehre, uns zu begleiten, zuteil werden, da ihr schon einmal in unserer Gesellschaft weilt. Ich verachte euch aus tiefstem Herzen. Wie konntet ihr nur glauben, vertuschen zu können, was sich in eurer Werkstatt ereignete?", spuckte er hasserfüllt aus.
Merandil war entsetzt. In allen Teilen des Reiches? Hieß das, dass nicht nur Velmin getötet worden war? Er blickte verzweifelt zwischen Anais und Elomir hin und her. Was würde Elomir erwarten? Und Anais...er hatte versagt, sie zu beschützen. Aber er würde einen Weg finden, sie bei Hofe aus der Sache herauszuhalten.
‚Bleib ruhig', ermahnte er sich.
Mandelion war ein weiser Mann und er kannte Merandil. Er würde ihn schon irgendwie davon überzeugen können, dass er den Schatten alleine gegenübertreten sollte. Und Elomir würde er auch verteidigen, schließlich hatte dieser nur aus Freundschaft zu ihm geschwiegen und den Vorfall zu vertuschen versucht. Jetzt würde er sich erst einmal fügen.
Er konzentrierte seinen Geist auf Anais und sendete ihr beruhigende Gedanken. Sie hob ihren Kopf und schaute ihn hilfesuchend an. Merandil lächelte ihr zu und formte stumm die Worte ‚Ich liebe dich...alles wird gut...vertrau mir'.
Anais atmete tief ein und entspannte sich dann ein wenig. Merandil nickte ihr zu und spendete ihr Hoffnung.
„Setzt euch da drüben hin", wies der Truppführer sie, auf die Mitte der Lichtung zeigend, an.
Die Bogenschützen trieben sie forsch zusammen und postierten sich um sie herum.
„Helrun, Magolil, Bedoran, Eslandil, Kirian und Isaia. Ihr übernehmt die Wache über die Drei. Ihr Anderen ruht euch noch ein wenig aus. Wir brechen im Morgengrauen auf", ordnete der Oberste mit befehlsgewöhnter Stimme an.
Er selbst setzte sich so hin, dass auch er die Gefangenen im Auge behalten konnte. Was war so besonders an den beiden Elfen, dass Schatten einer vergangenen Ära, die längst vergessen gewesen waren, sich über angeblich unüberwindbare Grenzen bewegten, um sie in ihre Gewalt zu bekommen? Ein Tischler und eine Quellhüterin, die wohl niederer Magie fähig war. Oder war die kleine Lichtelfenabkömmlingin mehr als sie schien? Es blieb ihm vorerst ein Rätsel, aber mit jeder Minute, die er auf die Gefangenen blickte, verrauchte sein Hass und Zorn auf sie etwas mehr. Ja, sie taten ihm sogar leid, wie sie dort so in sich zusammengesunken schutzsuchend aneinander lehnten. Schnell schüttelte er den Kopf und rief sich ins Gedächtnis, was Fürst Mandelion ihm aufgetragen hatte.
„Bring sie zu mir, um jeden Preis! Wenn zwei Opfer vielleicht ein ganzes Volk zu retten vermögen, dann bin ich bereit, diese zu erbringen."
Und das war alles, was er als Untergebener seines Fürsten augenblicklich wissen musste.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top