Der Pakt
Auch Merandil war sich sicher, dass sie dem Inrith nun ganz nah waren. Er spürte die Anwesenheit einer dunklen Seele, die die Aura des Ortes beherrschte. Der Regen war so heftig geworden, dass er wie eine Wand vor seinen Augen fiel. Vermischt mit dem Nebel, der aufgezogen war, war die Wand schier undurchdringbar für die Blicke Merandils und Anais'. Und so traf es sie völlig unerwartet, als sie plötzlich vor einer Steilwand standen. Merandil wäre beinahe dagegen gelaufen.
„Ich denke, wir sind am Ziel", sagte er laut, gegen das Geräusch des prasselnden Regens ankämpfend.
Anais war schwach. Sie hatte weiter Blut verloren auf dem Weg hierher. Merandil setzte sie vorsichtig ab und lehnte sie gegen die steinige Bergwand.
„Kannst du die Magie der Grenze spüren?", fragte sie matt.
Merandil schloss die Augen und richtete all seine Sinne auf magische Spannungsfelder aus. Er fühlte kleine Stromschläge durch seinen Körper jagen.
„Ja, da ist etwas", sagte er und hockte sich zu Anais. „Hast du genug Kraft, um die Risse mit mir zu schließen?"
Sie nickte.
„Dafür sind wir schließlich hergekommen."
Sie zog sich an der Felswand auf die Beine und schwankte. Merandil trat hinter sie und lehnte ihren Körper gegen seinen, den er fest in den Boden stemmte.
„Streck deine Hände ganz dicht neben meinen aus. Vielleicht verstärkt das unsere Magie", schlug er vor.
So standen sie da wie ein Wesen, verschmolzen miteinander und bereit, die Schattengrenze zu stärken. Gleißendes Licht floss aus ihren Händen und bahnte sich einen Weg den Berghang hinauf. Die Magie erspürte die Risse in der unsichtbaren Mauer und strebte ihnen entgegen. Anais wurde ganz schwarz vor Augen und Merandil spürte, wie sie immer schwerer gegen ihn lehnte und langsam hinabglitt.
„Wir haben es gleich geschafft", flüsterte er ihr ins Ohr und stützte ihre Arme mit den seinen.
Doch Anais war am Ende ihrer Kräfte und sackte einfach in sich zusammen. Merandil konnte fühlen, dass seine Magie noch immer in Ritzen sickerte und diese langsam verschloss. Es mussten derer sehr viele sein. Er war hin und her gerissen zwischen seiner Aufgabe und dem Wunsch, sich jetzt sofort um Anais zu kümmern. Als sie sich zu seinen Füßen krümmte und laut aufstöhnte, hielt er es nicht mehr aus und ließ den magischen Strahl in seine Hände zurückfließen. Er kniete neben ihr nieder und hielt sie fest umschlungen.
„Gib nicht auf", flehte er. „Ich gebe dir etwas von meiner Kraft."
Er legte seine Hände auf ihre Brust und sendete Lebensenergie in ihre Richtung aus, doch anstatt ihr Kraft zu spenden, schien sie ihr große Schmerzen zu bereiten, denn sie keuchte auf und fing an, krampfhaft zu zucken.
„Hör auf", flehte sie. „du verbrennst mich."
Und tatsächlich war ihre Haut versengt, dort wo seine Hände geruht hatten. Merandil erschrak und zog sie schnell zurück. Er erinnerte sich an die rotglühende Hand Lyberions, als dieser seine Magie aufzuspüren versucht hatte. Merandil hatte geglaubt es hätte daran gelegen, dass er seine Magie noch nicht kontrollieren konnte. Doch nun konnte er es und trotzdem verbrannten seine Hände, anstatt Kraft zu spenden.
„Schließ die Grenze. Du schaffst das", stieß Anais hervor.
Sie war so blass, als ob bereits alles Blut ihren Körper verlassen hätte und ihre Lippen bebten. Sie zitterte unaufhörlich.
„Ich lasse dich jetzt nicht alleine. Nichts ist mir wichtiger als du", erwiderte Merandil und bettete ihren Kopf in seinen Schoss.
'Genau wie Elomir vor ein paar Stunden', schoss es ihm durch den Kopf.
Nein, nein...das durfte nicht passieren!
„Oh, meine Gäste sind eingetroffen. Wie ich sehe, habt ihr meine Einladung erhalten", erhob sich plötzlich eine dunkle schmeichelnde Stimme über den prasselnden Regen.
„Und ihr wart so gütig, damit zu beginnen, mein ‚Haus' zu reparieren. Zugegeben, es ist etwas morsch geworden über die Jahrtausende."
Anais riss ihre Augen weit auf und blickte Merandil entsetzt an.
„Du hörst es auch?", fragte er sie.
„Ja", hauchte sie. „Ist er das? Der, der dich in deinen Träumen ruft?"
Merandil nickte und erschauderte.
„Die Baumeister haben solide Arbeit geleistet und sich lange Zeit aufopferungsvoll darum gekümmert. Sie waren wohl in Sorge, ich könne mich hier nicht mehr wohl fühlen und würde es vorziehen, nach einem Domizil in ihrer kleinen heilen Welt zu suchen. Doch dann kam keiner mehr und nun zerfallen die Wände langsam."
Die Stimme lachte schallend auf und sagte dann kalt:
„Aber das macht nichts. Ich hatte sowieso nicht vor, länger hier zu bleiben, denn ich bin einsam. Jemanden an meiner Seite zu wissen, könnte mich jedoch umstimmen. Merandil, wie wäre es mit dir?"
Anais schüttelte den Kopf und umklammerte ihren Geliebten. Sie spürte, wie etwas Dunkles nach ihrer Seele griff und sie würgte. Es schnürte ihr innerlich die Kehle zu und ließ ihren Puls rasen. Sie rang nach Luft und Merandil sah sie verzweifelt an.
„Er tötet mich", röchelte sie.
„Geht es deiner kleinen Gefährtin nicht gut?", fragte die Stimme ganz unschuldig.
„Vielleicht ist es dir ja ein Anreiz, wenn ich ihr Leben rette? Hör mir gut zu! Dieses Angebot unterbreite ich nur ein einziges Mal."
Merandil schaute Anais an, die nach Luft schnappend und kreidebleich in seinen Armen hing. Er würde alles für sie tun. Alles.
Die Stimme raunte kalt:
„Du kannst sie retten, Merandil. Komm mit mir und wache an meiner Seite über die Dunkelheit. Solange du bei mir bist wird Anais leben und in Melith über das Licht wachen. Schatten und Licht...so war es schon immer. Das Eine kann ohne das Andere nicht sein. Doch sollte sie in die Dunkelheit gehen, um nach dir zu suchen, so wirst du qualvoll vergehen. Und solltest du es wagen, die Grenze ins Licht zu überschreiten, so wird sie verbrennen. Was sagst du, Merandil? Entscheide dich schnell! Viel Leben ist nicht mehr in ihr."
Anais drückte Merandils Hand und brachte alle Kraft auf, die sie noch in sich finden konnte, um zu flüstern:
„Nein, geh nicht darauf ein."
Er legte seine Lippen auf ihre und küsste sie sanft. All die Liebe, die er für sie empfand, steckte in diesem einen Kuss. Er wollte sie nicht loslassen, wollte sie nicht gehen lassen. Der Gedanke daran, sie in seinen Armen sterben zu sehen, ließ ihn einen Entschluss fassen. Er löste sich von ihren Lippen und strich über ihre Wangen, die mittlerweile eiskalt und fahl waren. Seine Augen sagten ihr Lebwohl und Anais verkrampfte sich.
„Nein, bitte, tue das nicht", flehte sie ihn an.
Doch Merandil blickte sie schmerzerfüllt und voller Liebe an und sagte:
„Ich bin der Wall, an dem alles Leid abprallt, das dir widerfahren soll. Egal wie hoch der Preis dafür auch sein mag."
Er bettete sie vorsichtig auf den Boden und entfernte sich von ihr.
'Blick jetzt nicht zurück', ermahnte er sich und sagte mit fester Stimme:
„Rette sie! Was soll ich tun?"
Die Stimme antwortete:
„Die Baumeister haben leider vergessen, eine Tür zu meinem Heim zu hinterlassen. Doch ich bin mir sicher, dass du eine erschaffen kannst, um zu mir zu gelangen. Nicht wahr?"
Anais war körperlich wie gelähmt, aber sie zwang ihre Stimme, sich zu erheben:
„Merandil, lass mich los. Öffne das Tor nicht!"
Aber er konnte sie nicht gehen lassen, sie sollte leben.
„Heile sie und ich werde ein Tor herbeizaubern", forderte er die Stimme auf.
„Vertraust du mir nicht? Du kränkst mich zutiefst", sagte diese zynisch.
„Ich will sehen, dass es ihr besser geht, bevor ich zu dir komme", beharrte Merandil auf seiner Forderung.
„Du bist hartnäckig, aber das zeugt von Stärke und das schätze ich", erscholl die Antwort. „Ich schließe ihre Wunde. Auf den Rest musst du vertrauen."
Merandil hatte keine Wahl. Anais würde hier und jetzt sterben, wenn er nicht darauf einging.
„Also gut. Tue es und ich werde Wort halten", rief er.
Ein Schwarm aus Dunkelheit glitt wie aus dem Nichts die Hänge des Berges herunter und hielt auf Anais zu. Er hüllte sie ein und hob sie ein Stück empor. Sie schwebte senkrecht in der Luft und Merandil konnte sehen, wie sich die blutige Wunde schloss. Dann ließ die schleierhafte Macht sie zu Boden fallen.
Anais keuchte auf. Sie war bei Bewusstsein, doch konnte sich nicht rühren. Ihre Augen waren so voller Trauer und Schmerz, dass Merandil sich abwenden musste. Er konnte es nicht ertragen.
„Komm zu mir", raunte die Stimme.
Merandil stellte sich vor, wie ein Lichtbogen aus dem Nichts erwuchs und ließ seine Magie fließen. Einige Meter über ihm materialisierte sich seine Vision und es zog ihn förmlich hinein in das gleißende Licht. Seine Füße hoben vom Boden ab und er raste auf das Tor zu. In dem Moment, in dem er das Portal passierte, schlug er die Hände zusammen und es schloss sich wieder mit einem lauten Knall. Er hatte nicht vorgehabt, es auch nur einen Augenblick länger offen zu lassen und er würde nie wieder ein Portal öffnen. Das hatte er sich geschworen.
Anais starrte entsetzt zu der Stelle, an der Merandil sich soeben einfach in Luft aufgelöst hatte. Was hatte er nur getan?
Sie fühlte die Dunkelheit aus ihrer Seele fließen und konnte wieder frei atmen. Der Herr der Schatten hatte sich aus ihrem Geist zurückgezogen. Doch was sie nun fühlte, war viel schrecklicher als sein eiskalter Würgegriff. Sie war allein, verlassen von allen. Ihr Geliebter war in die Dunkelheit entschwunden und sein Schicksal völlig ungewiss. Was würde der Herr über Morlith mit ihm machen?
Ja, sie lebte, aber innerlich war sie gerade gestorben.
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