Forderungen aus Blut

Thrandir räumte seinen Arbeitsplatz mit größter Sorgfalt auf. Er richtete alle Werkzeuge parallel zur Tischkante aus und fegte die Holzspäne auf, die er von der Sitzfläche der kleinen Bank gehobelt hatte, an der er gerade arbeitete. Er seufzte kurz und schaute zu Velmin, der seinen Platz in der Ecke hinter ihm hatte.

„Seitdem Merandil weg ist, fehlt irgendetwas, findest du nicht auch? Irgendwie hat er einen immer inspiriert", sagte Thrandir.

Velmin nickte und blickte zu Merandils verwaistem Arbeitsplatz.

„Er war die Seele der Werkstatt. Sein Fehlen hat sogar Elomirs unbekümmerte Art verändert. Er ist ganz still geworden", pflichtete Velmin seinem Freund bei.

„Ich begreife immer noch nicht, was damals mit ihm passiert ist. Er war völlig von Sinnen", sagte Thrandir kopfschüttelnd und fügte hinzu, „ich mache Schluss für heute. Wir sehen uns morgen wieder."

„Ja, ist gut, Thrandir. Ich mache auch nur noch die Schnitzerei auf der Schranktür fertig."

Thrandir ließ den Blick ein letztes Mal durch die Werkstatt schweifen und entschwand dann durch die Vordertür. Velmin war tief in Gedanken versunken, während er eine Lilie aus dem Walnussbaumholz schnitzte, die dem Griff der Schranktür zu entspringen schien. Er vergaß die Zeit und war erstaunt, den Mond am Himmel zu sehen, als er kurz aufsah. Doch er zuckte nur mit den Schultern. Dann hatte er eben etwas länger gearbeitet als geplant. Irgendwie spielte Zeit keine wirkliche Rolle mehr.

Aber etwas war merkwürdig. Trotzdem alle Laternen brannten, war es seltsam düster geworden. Die Luft schien schwer im Raum zu hängen, als ob sie still stände. Velmin beschlich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden.

Er drehte seinen Kopf langsam zur Seite und glaubte, eine flüchtige Bewegung wahrzunehmen, aber so plötzlich wie sie in seinem Augenwinkel erschienen war, war sie auch wieder verschwunden.

Ein kalter Schauer lief Velmins Rücken hinab und seine Kehle schnürte sich zu. Er spürte einen Hauch hinter sich und noch bevor er sich umdrehen konnte, durchdrang ihn eisige Kälte und eine geisterhafte Klaue durchbrach seinen Leib. Er fühlte, wie sie in seinem Inneren wühlte und an seiner Seele zerrte. Velmin wollte schreien und sich wehren, aber er konnte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegen und brachte keinen Ton heraus. Blut rann aus seinen Mundwinkeln und seinen Augen. In seiner Starre vernahm er eine grollende grausame Stimme, hohl wie aus den Tiefen der Erde.

„Du wirst tun, was ich dir befehle! Nimm von deinem Blut und schreib genau, was ich dir sage!"

Velmin krümmte sich vor Schmerzen und sein Geist versuchte verzweifelt, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch der Schatten hatte ihn fest im Griff und zwang ihn auf die Knie.

Velmins Zeigefinger tastete nach dem Blut, das ihm aus dem Mund lief und begann willenlos eine Botschaft auf den Boden zu schreiben. Als er fertig war, vermischte das Blut seiner Augen sich mit Tränen und das Letzte was er sagte, bevor der Schatten das Leben aus ihm saugte, war:

„Warum Merandil?"


Nahe dem Ufer des Flusses Aramé, der sich durch die Graslande im Süden von Melith schlängelte, direkt vor den Toren von Sinaril, der weißen Stadt der hohen Elfen, trieb der reglose Körper eines Elfen, der in der letzten Nacht Wache am Tor gehalten hatte, im Wasser.

Der unstete Schemen eines riesigen Schattens nahe dem Fluss, hatte ihn mit nahezu hypnotischer Macht von seinem Posten weg und hin zu ihm gezogen. Der Wächter hatte wispernde Stimmen vernommen, die ihm geboten, seinen Dolch zu nehmen und sich die Pulsadern aufzuschlitzen. Alles in ihm hatte sich dagegen gesträubt, doch sein Körper ihm nicht gehorcht. So hatte er sich voller Grauen selber dabei beobachtet, wie der Dolch durch sein eigenes Zutun tief ins linke Handgelenk schnitt und sein Blut pulsierend herausquoll.

Erst als er bereits halb bewusstlos war, fuhr der Schatten in ihn und flüsterte ihm die Botschaft seines Herrn ein. Dann lenkte dieser den Wächter an den Flussrand und stieß ihn, kraft seines Willens, hinein.

Während der Elf in den sanften Wellen nahe am Ufer trieb, flossen aus der Wunde an seinem Handgelenk die Blutfäden in verschnörkelter Schrift heraus und erstarrten im Wasser. Die Botschaft aus geronnenem Blut schwebte dicht neben dem Wächter auf der Wasseroberfläche. Die schreckstarren, weit aufgerissenen Augen des Elfen erblickten die blutige Schrift, als diese über ihn hinweg zog und dem Ufer zustrebte.

Dann fuhr der Schatten, der alles mit wachsender Befriedigung verfolgt hatte, ein letztes Mal in den sterbenden Körper und labte sich am verbliebenen Lebenslicht, bis sich die Augen des Elfen für immer schlossen.


Stadt um Stadt, Siedlung um Siedlung erging es so in dieser Nacht.

Von den kleinen Walddörfern, die sich, durch Hängebrücken verbunden, hoch durch die Wipfel der Bäume zogen, bis hin zu den Höhlen der Lamara-Berge, die wie ein Labyrinth durch den weißen Fels getrieben waren, statteten die Schatten von Morlith in jener Nacht allen Elfenstämmen tödliche Besuche ab, denen allen dieselbe Botschaft inne lag.

Sie unterschieden nicht zwischen Kindern, Frauen und Männern, noch zwischen Ständen. Am nächsten Morgen würde ganz Melith darum wissen und sie würden sich nicht davor verschließen können.

Der dunkle Herr ließ ein dröhnendes Lachen vernehmen, als seine Gesandten zu ihm zurückkehrten.

„Ihr ward äußerst kreativ, meine Kinder. Mir gefiel, was ich durch eure Augen sah und das war erst der Anfang", tönte er voller Zufriedenheit.


Am nächsten Morgen war Elomir der Erste, der die Werkstatt betrat und seinen Arbeitsplatz vorbereiten wollte. Ein schwerer metallischer Geruch, ganz anders als er von den Werkzeugen ausging, ließ ihn unruhig werden. Er konnte den Geruch nicht sofort zuordnen, suchte aber nach dessen Quelle und entdeckte Velmins leblosen Körper, der halb unter seinem Werktisch hervorragte.

Der Elf war kreidebleich und sein Körper in einem Krampf erstarrt, der seinen Leib derart bizarr verdreht hinterlassen hatte, dass es Elomir davor graute, ihn anzusehen. Die Hände vor den Mund gepresst, ging er rückwärts und stieß schmerzhaft mit der Hüfte gegen einen Tisch.

Was für ein Fluch lastete auf diesem Ort? Elomir wollte weit weglaufen, aber er zwang sich zur Ruhe und atmete tief ein und wieder aus, um sich unter Kontrolle zu bekommen. Dann schritt er wieder auf Velmins Leiche zu und erstarrte. Die Schrift aus Blut neben dem Toten, ließ ihm das seine in den Adern gefrieren.

Was um alles in der Welt sollte das? Was ging hier vor? Er las die Worte immer und immer wieder und langsam formten sich Zusammenhänge in seinem Kopf, die ihn schaudern ließen.

Merandil hatte ihm von seinen Träumen erzählt, von den Schatten, die ihn verschlangen und alles um ihn herum zu Asche zerfallen ließen. Doch er hatte es weder Velmin noch Thrandir erzählt und auch sonst niemandem. Wie konnte es dann sein, dass er direkt neben Velmin und anscheinend von ihm mit dessen Blut geschrieben, denn sein rechter Zeigefinger war blutverschmiert, folgendes las?

>Die Schatten kommen über euch und werden eure Welt zu Asche werden lassen, es sei denn, ihr gebt uns Merandil und Anais. Wir erwarten sie am Fuße des Berges Inrith.<

Worin war Merandil da nur verstrickt und warum er und wer war Anais? Elomirs Gedanken überschlugen sich und er ballte die Hände zu Fäusten. Kein verdammter Schatten würde seinen Freund verzehren, um keinen Preis der Welt.

Ein Schrei riss ihn aus seinen rasenden Gedanken. Thrandir stand schreckensbleich neben ihm und starrte auf seinen toten Freund.

„Hört das denn nie auf?", wimmerte er.

„Doch, das wird aufhören", erwiderte Elomir grimmig und packte den zitternden Kumpan bei den Schultern.

Er sah ihm fest in die Augen und sagte:

„Du wirst niemandem von all dem hier erzählen. Ab jetzt nehme ich die Sache mit in die Hand. Ich werde Merandil nicht ins offene Messer laufen lassen."

Der entschlossene Blick Elomirs ließ Thrandir nur nicken und zu allem ja sagen, was dieser ihm auftrug. Wenn die beiden nur gewusst hätten, dass an hunderten von Orten in ganz Melith die Kunde bereits verbreitet und niemandem außer Elomir wirklich etwas an Merandil gelegen war. Das Einzige, das sich alle fragten war, wer dieser Merandil und diese Anais waren und wo sie zu finden seien.

Doch da Elomir dies nicht wusste, sattelte er sein Pferd und machte sich umgehend auf den Weg zur Quelle Aranils, denn er hoffte seinen Freund noch dort zu finden und ihn warnen zu können.


Derweil eilte die Kunde aus allen Teilen des Landes nach Shanduril. Binnen vier Tagen waren an die hundert Botschafter am Fürstenhof angekommen und alle berichteten von ähnlichen Szenarien und überbrachten die gleiche Forderung aus Blut. Die restlichen Boten, aus den weiter entfernten Gebieten, die nach und nach eintrafen, wurden nur noch sporadisch angehört, denn jede Nachricht war gleich und die Angst wuchs mit jeder Meldung.

Fürst Mandelion hatte mit sich gehadert und überlegt, ob tatsächlich der Merandil gemeint war, der seinen Hof mit solch wunderbarem Mobiliar versorgte. Schließlich hatte er einen Boten zur Werkstatt geschickt, welche dieser verlassen vorgefunden hatte. Weder in Merandils, noch in Elomirs Haus hatte er jemanden angetroffen und auch Velmin war unauffindbar gewesen. Erst im Hause Thrandirs war er auf einen Meister der Werkstatt gestoßen, doch dieser schien völlig verwirrt und verängstigt und drückte sich wimmernd in die hinterste Ecke seines Zimmers. Der Bote brachte ihn mit Hilfe von zwei Palastwachen an den Hof des Fürsten und vor dessen Thron.

„Was weißt du von den Vorkommnissen der vergangenen Tage? Ist dir etwas zu Ohren gekommen, was Merandil oder die anderen Meister betrifft? Was geht in eurer Werkstatt vor sich?", fragte der Fürst scharf.

Thrandir fühlte die Augen der Umstehenden auf sich gerichtet. Er zitterte am ganzen Leib und presste seine Lippen aufeinander. Sollte er sprechen? Er hatte Elomir versprochen, nichts zu sagen und auf dessen Geheiß Velmin vergraben und die blutigen Spuren beseitigt. Aber die Nachricht hatte sich tief in seinen Geist gebrannt. Er hatte Angst. Unter den strengen Blicken des Fürsten brach Thrandirs Wille zusammen wie ein Kartenhaus.

„Merandil ist seit Monaten verschwunden und Elomir ist ihm vor sieben Tagen nachgereist. Und Velmin lag tot in der Werkstatt mit einer Nachricht aus Blut neben sich...", sprudelte es aus ihm hervor.

Der Fürst unterbrach ihn und zitierte, was er in den letzten Tagen hundertfach gehört hatte.

Thrandir schaute ihn ungläubig an.

„Woher wisst ihr das, Majestät?"

„Das ganze Land weiß es. Jeder bewohnte Ort in ganz Melith hat diese Nachricht erhalten. Und ich denke, wir wissen von welchem Merandil die Rede ist. Bleibt nur noch zu klären, wer diese Anais ist und wo man sie finden kann."

„Elomir sagte etwas von der Quelle Aranils und dass er hoffte, Merandil dort zu finden", stammelte Thrandir, der immer noch unter Schock stand.

„Die Hüterin der Quelle", erscholl eine Frauenstimme aus der Menge, die sich im Thronsaal versammelt hatte.

Der Fürst suchte nach der Elfe, zu der die Stimme gehörte und sah eine zierliche Gestalt mit hellbraunem, lockigen Haar und dunklen Augen, die sich aus der Masse löste.

„Wer bist du und was weißt du?", fragte Mandelion.

„Euer Majestät, ich bin Landorielle, Chronistin und Gelehrte aus Alachit. Ich kenne nur eine Elfe Namens Anais und sie ist die Hüterin der Quelle Aranils und die einzige Tochter der mächtigen Lichtelfe Shanaria, die einst den Bannspruch über die Schattenwesen von Morlith und ihren dunklen Herrn verhängte und mit ihrer Magie die Schattengrenze am Berge Inrith schuf und diese versiegelte, auf dass er und sein Gefolge unsere Welt nie wieder bedrohen würden."

„Nun, etwas ist anscheinend entkommen", raunte der Fürst bitter.

An den Kommandanten der Palastwache gewandt, fügte er hinzu:

„Sendet zwanzig der besten Krieger aus, um die Beiden zu finden und bringt sie mir!"

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