Ein neues Leben
Ein Schwarm schillernder Vögel flog aus dem Buschwerk auf, das sich aus dem einst so kargen unwirtlichen Boden der Sonne entgegenstreckte. Pastellfarbene Blüten wiegten ihre zarten Köpfe in der leichten Brise und Schmetterlinge stoben aus einer jungen Birke und flatterten tanzend dicht über dem sattgrünen Gras. Nichts erinnerte mehr an das Grau und die Kälte, die noch vor kurzem diesen Ort zu einer tristen Einöde gemacht hatten. Die Natur hatte sich ihren Raum zurückerobert und brachte neues Leben hervor, welches die Schrecken von Morlith verblassen ließ.
Lediglich die Festung des dunklen Herrn erhob sich weiterhin drohend über dem Land, doch auch diese wurde allmählich von blühenden Ranken überwuchert und verschmolz mit ihrer Umwelt. Hoch über den Wolken zogen die Drachen friedlich ihre Kreise. Auch sie strebten der Sonne entgegen und brummten vor Behagen. Nichts störte die Idylle.
Auch die Menniath Glann war nur noch eine schroffe Gebirgskette, die jeden passieren ließ, der deren Gipfel erklomm. Kein Bannzauber lag mehr über ihr und so floss nach Jahrtausenden endlich wieder helle Magie aus der Quelle Aranils in das ehemals dunkle Reich.
Die Magie war dort nun sogar noch stärker als in vielen anderen Teilen des Reiches, da die Linde am Fuße des Inrith, die mittlerweile zu einem stattlichen Baum herangewachsen war, diese zusätzlich nährte. Es würde noch lange dauern, bis sie so groß wäre wie ihr Mutterbaum, der den Galadhrim seit unzähligen Generationen Schutz und Kraft spendete. Doch eines Tages würde sie der Ahnenbaum eines neuen Volkes werden, eines Volkes, begründet aus einer Verbindung zwischen Lichtelfen und Galadhrim.
Die Seele des Baumes war noch jung und schlief die meiste Zeit über. Sie träumte von den Tagen, die da kommen würden, von den gütigen Elfen, die zwischen den Zweigen der Linde wohnen und das Land, welches so lange ein Sinnbild für Trauer und Hass gewesen war, mit Liebe und Zuversicht füllen würden. Und als ihre Blätter im Wind rauschten, klang es wie ein heiteres Lachen.
Nachdem Anais die Schattengrenze und das Portal mittels ihrer Magie zum Einsturz gebracht hatte, hatte sich Mandelion ihrer angenommen und sie nach Shanduril gebracht. Eine Lethargie hatte sie befallen, aus der sie nur schleppend wieder zurück ins Leben fand. Sie war still geworden und fragte sich immer wieder, was all die Opfer für einen Sinn gehabt hatten, wenn ihr Liebster am Ende doch unrettbar gewesen war.
Wie war er zu ihr gelangt? Warum hatte er in Flammen gestanden? Und wohin waren Dimion und all seine Schatten verschwunden? Diese Fragen waren ihre ständigen Begleiter.
Sie wusste, dass der Fall von Morlith ein Segen für Melith war und sie war auch erleichtert darüber. Aber tief in ihrer Seele hielt die kalte Faust Dimions sie noch immer fest umklammert. Er hatte sie gewarnt, dass Merandil qualvoll verenden würde, sollte sie je nach Morlith kommen, um nach ihm zu suchen. Und genauso war es gekommen.
Der Fürst kümmerte sich rührend um Anais, sorgte dafür, dass es ihr an nichts Materiellem fehlte, doch er konnte ihr den Schmerz nicht nehmen und die Wunde nicht schließen, die Merandils Tod ihr zugefügt hatte.
Nimiel hatte sie kurz nach ihrem Eintreffen im Palast aufgesucht und war ihr um den Hals gefallen. Sie hatte sich tränenreich bei ihr bedankt und sie mit Lob dafür, dass sie die Schatten und ihren Herrn besiegt hätte, überschüttet. Anais jedoch hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt:
„Ich denke nicht, dass dies mein Verdienst war."
Sie ahnte ungefähr, was geschehen sein mochte und malte sich aus, wie Merandil gegen seinen Vater und dessen dunkle Diener gekämpft hatte. Diese Geschichte erzählte sie nun jedem, der sich bei ihr bedanken wollte. Egal ob sie nun vollends der Wahrheit entsprach, oder ob es sich anders zugetragen hatte. Anais spürte, dass Merandil ein großes Opfer gebracht hatte und sie wollte, dass man ihn als einen Helden in Erinnerung behielt.
Nach einigen Wochen der Trauer bat Anais den Fürsten, sie ans Grab von Adahidh zu bringen. Sie fürchtete sich davor, aber irgendwann musste sie diesen Schritt machen und sie hoffte, sich danach vielleicht sogar besser zu fühlen.
Man hatte ihn direkt neben den Gräbern der fürstlichen Ahnen beigesetzt, was Anais in Staunen versetzte. Was konnte die Elfen dazu bewogen haben, ihn hier zu begraben?
Mandelion las die Frage in ihren Augen und fasste sie bei den Händen.
„Er war der Vater deines Liebsten, wenn auch nicht vom selben Blute. Adahidh prägte ihn und zog ihn liebevoll auf, deshalb erschien es mir nur richtig, ihn an der Seite meiner Ahnen zur letzten Ruhe zu betten", sagte Mandelion.
Anais verstand noch immer nicht.
„Welche Verbindung besteht zwischen Merandil und euren Ahnen?", fragte sie deshalb verwirrt.
Mandelion senkte den Blick auf ihre Hände und schwieg. War sie bereit für die Wahrheit und deren weitreichende Konsequenzen?
Schließlich erwiderte er:
„Dimion war mein Bruder und Merandil somit mein Neffe. Erst nachdem du mir von der Begegnung mit Anduriels Geist berichtet hattest, fügten sich die Bruchstücke auf einmal zusammen. Mit einem Mal wurde mir klar, warum Dimion Merandil unbedingt haben wollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung davon, dass ich Onkel geworden war. Ich ließ daraufhin das Grab deines Schwiegervaters zu dem meiner Ahnen verlegen, denn ich wollte, dass er einst wieder mit seinem Ziehsohn vereint sein würde."
Anais schaute ihn ungläubig an.
„Ihr und der dunkle Herr wart Brüder? Aber wie..."
„Das ist eine lange und traurige Geschichte", unterbrach der Fürst sie. „Ich werde sie dir erzählen, aber dies ist nicht der Ort dafür. Soll ich bei dir bleiben, während du Abschied von ihm nimmst?"
Anais schüttelte den Kopf und Mandelion deutete eine Verbeugung an und zog sich leise zurück. Er wartete in einiger Entfernung auf sie.
Stumm betrachtete sie das Grab, welches von weißen und blauen Mondblumen übersät war und an dessen Ende eine kunstvoll geschnitzte Statue des Meisters stand. Anais sprach in Gedanken zu ihm:
„Ich habe dir versprochen, mit Merandil zu dir zu kommen, aber ich kann dieses Versprechen nicht einlösen. Bitte, verzeih mir. Ich konnte ihn nicht retten und ich trage die Schuld in mir und frage mich jeden Tag, ob es einen anderen Weg gegeben hätte. Du warst ihm ein wunderbarer Vater und hast ihm das größte Geschenk gemacht, welches man sich nur wünschen kann. Du hast ihm zu einer unbeschwerten Kindheit verholfen und ihn zu einem liebevollen Mann erzogen." Sie lächelte. „Du wärst so stolz auf ihn gewesen. Vielleicht seht ihr euch im Jenseits wieder. Vielleicht seid ihr bereits zusammen dort und seht nun auf mich herab. Ich kann es kaum erwarten, euch irgendwann dorthin zu folgen und euch wieder in die Arme zu schließen. Aber keine Angst, das wird noch eine Weile dauern. Es warten Aufgaben auf mich. Die Quelle Aranils verlangt nach meiner Pflege und Idhril erwartet meinen Besuch. Ich habe gesehen, wie groß unser Reich ist und ich bin mir sicher, dass es noch viele Orte darin gibt, die ich entdecken möchte. Erst wenn ich alles gesehen und gelernt habe, wonach mein Geist sich sehnt, werde ich zu euch kommen und euch davon berichten, welche Wunder diese Welt noch für mich bereithielt."
Anais sog den Duft der Mondblüten ein und verneigte sich tief vor dem Grab.
„Ich danke dir für alles, das du für Merandil getan hast und für die Herzlichkeit, mit der du mich als deine Schwiegertochter annahmst", sagte sie feierlich, dann drehte sie sich um und schritt auf Mandelion zu.
„Erzählt mir von Dimion und euch", forderte sie ihn auf.
Mandelion bot ihr seinen Arm an und sie hakte sich unter. Dann wandelten sie unter den alten Bäumen, die kühlenden Schatten spendeten und Anais lauschte der Geschichte zweier Brüder und ihres Vaters, der ohne es zu wissen, das Schicksal eines ganzen Reiches verändert und eine ganze Sippe dem Untergang geweiht hatte. Und ihr Bild des dunklen Herrn veränderte sich mit jeder Begebenheit, die Mandelion ihr erzählte. Und am Ende ging es ihr so wie ihrem Liebsten, nachdem er in den Gewölben der Vergangenheit geweilt hatte. Sie hatte Mitleid mit ihm, obwohl sie verabscheute, was aus ihm geworden war.
Als sie den Palast wieder erreicht hatten, sagte Mandelion zu ihr:
„Da ich der letzte meiner Sippe bin und es mir nie vergönnt war, Kinder zu haben, bist du, als die Gattin meines Neffen, die rechtmäßige Erbin des Throns von Melith. Sollte ich einmal nicht mehr sein, so hoffe ich, dass du dieses Erbe antreten wirst. Ich weiß, dass du eine wunderbare Fürstin sein und weise Entscheidungen treffen wirst und dass das Volk dich lieben wird."
Anais blieb abrupt stehen und schaute Mandelion entgeistert an.
„Keine Angst", sagte dieser sanft, „ich habe nicht vor, meinen Ahnen in den nächsten Jahren zu folgen. Du wirst noch lange Zeit haben, dich auf diese Aufgabe vorzubereiten und ich werde dir dabei mit Rat und Tat zur Seite stehen."
Nachdem Anais die Neuigkeiten nur schwerlich verdaut hatte, war sie aufgebrochen, um sich auf den Weg zu ihrer Quelle zu machen, denn dorthin zog es sie mit aller Kraft. Mandelion hatte ihr Moereth zum Geschenk gemacht. Die Stute war alleine zum Palast zurückgekehrt, nachdem Kalea ihre Reiterin ins Refugium der Traummagie geholt hatte. Sie war ganz ruhig gewesen und das hatte auch den Fürsten beruhigt und ihm die Zuversicht gegeben, dass Anais das Ziel ihrer Reise wohlbehalten erreicht haben musste.
Anais hatte beim Anblick des falbfarbenen Tieres einen freudigen Schrei ausgestoßen und Moereth stürmisch umarmt. Auf ihrem Rücken hatte sie denselben Weg eingeschlagen, auf dem Baradir sie einst nach Shanduril gebracht hatte. Anais war für eine Woche bei Idhril eingekehrt, um deren Gastfreundschaft und Gesellschaft zu genießen und die Schönheit des Lichtwaldes in sich aufzunehmen, bevor sie weiter gezogen war.
Nun stand sie an der Grenze zwischen den Graslanden und den Waldlanden und erinnerte sich all dessen, was sich vor hunderten von Jahren hier ereignet und ihr Leben für immer verändert hatte. Es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen. Sie lenkte ihr Pferd auf den schmalen Pfad, der tief hinein in die Wälder Aranils führte. Und als das satte Grün der Baumriesen sie von allen Seiten umfing und sie die vertrauten Geräusche vernahm, die so untrennbar mit ihr verknüpft waren, spürte sie es endlich. Sie war wieder zu Hause angekommen.
Es bestand kein Grund zur Eile und so stieg sie ab und führte Moereth am Zügel über den weichen Waldboden. Sie ließ die Stimmen des Waldes in sich dringen und fühlte die Magie, die durch alles um sie herum floss. Anais berührte hier einen alten knorrigen Stamm und dort einen jungen Trieb und begrüßte so alte Freunde und Neuankömmlinge, denen sie fortan ihre Pflege angedeihen lassen würde.
Sie erinnerte sich Merandils Worten, dass er sich nicht darüber wundern würde, wenn es hier sprechende Bäume gäbe. Sie hatte ihn damals belächelt und sich über seine lebhafte Fantasie gewundert. Doch als sie nun ihre Augen schloss und ganz genau hinhörte, gewahrte sie das Rascheln der Blätter und das Knacken der Zweige wie leise Stimmen, die zu ihr sprachen.
Vielleicht hatten sie das schon immer getan und sie hatte nur nie aufmerksam genug gelauscht. Sie schmunzelte. Da musste also erst ein Stadtelf kommen, um ihr die Geheimnisse ihres Waldes zu offenbaren. Wie blind und taub man doch zu weil war, obwohl man sich einbildete, bereits eins mit sich, der Natur und deren Mysterien zu sein! Von nun an würde sie den Stimmen der Bäume lauschen und diese verstehen lernen.
Der Fluss der Magie wurde immer stärker und sie wusste, was das bedeutete. Nach wenigen Minuten Fußmarsch sah sie das glasklare Wasser der Quelle über die Steine in das kleine Becken sprudeln. Sie ließ Moereth' Zügel los und rannte die letzten Schritte bis zum Wasser. Am Rand des Beckens kniete sie nieder und tauchte ihre Hände hinein bis auf den Boden. Das Kribbeln, welches sie durchdrang war wieder angenehm und stärkte sie. Die dunkle Magie der Schatten hatte sich verflüchtigt.
Lange verharrte sie so und genoss die Berührung des kühlen Nasses. Die Stute war an ihre Seite getreten und trank aus der Quelle. Anais tätschelte ihr den Hals und flüsterte:
„Willkommen zu Hause, meine Schöne."
Am Ufer des kleinen Sees, den Merandil mit seinen Sinnen als Bauplatz für ihr Heim erspürt hatte, standen noch immer die Bögen, welche einst zu Fenstern ihres Hauses hätten werden sollen. Sie waren eins geworden mit der Natur, überrankt von kleinen Schlingpflanzen und eingebettet zwischen Sträuchern und Farnen.
Mehrere Stunden des Tages verbrachte Anais an den Ufern des Sees und blickte zu dem Bauwerk hinüber, welches zu einer Ruine geworden war, bevor es überhaupt vollendet wurde. Sie sah Merandil dort zwischen den Bögen stehen und an ihnen schnitzen. Er schaute von Zeit zu Zeit von seiner Arbeit auf und blickte liebevoll zu ihr herüber. Sie lächelte zurück und folgte dann dem Flug einer Lerche mit den Augen. Als sie sich wieder der Ruine zuwandte, war das Bild ihres Liebsten verschwunden, aber er würde für immer in ihrem Herzen sein.
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