Die Schattenflut

Dimion stand zum wiederholten Mal der Schweiß auf der Stirn und seine Sinne waren zum Platzen angespannt. Er hatte sich wieder und wieder Merandils Kraft bedienen müssen, um die Unzahl von Schattenkriegern der Verwandlung zu unterziehen. Mittlerweile lagerten fast alle von ihnen am Fuße des Inrith auf der Seite von Melith. Ihr Heer war Tag um Tag angewachsen und das Lager breitete sich in Richtung der toten Wälder aus, wie sie das baumbestandene Gebiet nannten, welches sich an die kahle Ebene unterhalb des Inrith anschloss.

Er hatte nur noch eine handvoll Verwandlungen zu tätigen, dann endlich wäre seine Streitmacht vollständig und er könnte sie gen Shanduril ziehen lassen. Also sammelte Dimion noch einmal all seine Kraft und konzentrierte sich auf sein erklärtes Ziel, die Unterwerfung des Lichtreiches.

Er dachte an all die Schauergeschichten, die er seinem Sohn aufgetischt hatte, um weiterhin seiner Magie mächtig zu werden. Wüsste dieser um Dimions tatsächlichen Zustand, um dessen beginnende Schwäche, die nur die mutierte Lichtelfenmagie auszugleichen vermochte, so hätte er sich ihm wieder verschlossen. Der Dunkle merkte bei jedem Griff nach der Magie seines Sprösslings, dass dieser sich innerlich wand und ihm den Zugriff verwehren wollte. Da die Angst um seine Liebste jedoch so groß war, ließ er ihn gewähren und spielte ihm kleine Brocken seiner Macht zu. Gerade genug, um immer eine Hundertschaft seiner Schattenkrieger zu entzaubern, sie durch den Schattenquell zu schicken und dann wieder zurück zu verwandeln. Aber das Ritual verlangte Dimion trotz allem alles an Kraft ab, sodass er am Ende nach Luft ringend auf dem felsigen Boden der Grotte lag und sein Körper vor Anstrengung unkontrolliert zuckte.

Er war froh, dass niemand ihn so zu Gesicht bekam. Welchen Eindruck hätten seine Untergebenen sonst von ihm bekommen? Zu Merandil ging er erst wieder, wenn sich sein Zustand gebessert hatte und er wieder kraftvoll und überlegen wirkte. Dimion fragte sich, wie viel Magie Merandil noch in sich trug. Äußerlich wirkte dieser ausgezehrt und kraftlos, aber bei jeder Berührung spürte er immense magische Ströme, die tief unter der Haut des Elfen pulsierten.

Wenn sich sein Sohn ihm doch nur vollends öffnen und es zulassen würde, dass sie miteinander verschmolzen, so wie er mit seinen Schatten verschmolzen war. Anfangs war das Gefühl fremd und bedrohlich gewesen, aber schon nach kurzer Zeit hatte Dimion seine Erfüllung in der Symbiose mit den Schatten gefunden. Sie waren ihm näher als jedes Individuum zuvor und sie verurteilten ihn nicht, sondern füllten die Leere, die er stets gefühlt hatte, mit etwas, das Liebe gleichkam. Es war eine Art Abhängigkeit voneinander, die ihn schmerzte, aber ihm auch Frieden schenkte. Genau das fühlte Dimion auch, wenn er in Merandils Nähe war. Der Gedanke daran, dass er ihm nie wirklich vertrauen würde, wie es zwischen Vater und Sohn sein sollte, versetzte Dimion immer wieder einen Stich ins Herz, welches anscheinend noch nicht vollkommen aus Stein war. Und doch suchte er seine Nähe so oft es ging. Etwas Vertrautes ging von ihm aus, etwas, dass sich der Dunkle nicht erklären konnte, das ihn aber warm und wohlig umspülte.

Der Junge war stark, stolz und voller Ideale, die er jedoch alle opferte, um Anais in Sicherheit zu wissen. Er musste sie wirklich über alles lieben. Dimion beneidete ihn darum. Hätte er Anduriel gegenüber dieselbe unerschütterliche Liebe empfunden und nicht die unsichere, zweifelzerfressene, welche er in sich gespürt hatte, so wären sie vielleicht eine glückliche Familie geworden. Warum hatte er diesen Schritt nicht gewagt?

‚Weil ich schwach war und mich deshalb hinter der Fassade des Zorns und der Grausamkeit versteckt habe', gestand er sich innerlich ein.

Es hatte keinen Sinn, weiter darüber zu brüten und sich zu bemitleiden. Die Entscheidungen, die er getroffen hatte, hatten seinen weiteren Weg vorbestimmt und dieser würde seine Krieger gegen die Elfen führen, deren Vorfahren ihn gedemütigt hatten. Und auch gegen den Einen, den er bis heute nicht einzuordnen wusste. Dimion sah ihn in allen Einzelheiten vor sich. Sein mildes Lächeln, seine sanfte Art, seine Grazie. Er würde ihm schon bald in Form seines vertrautesten Schattens gegenüberstehen. Was würde er dann tun? Die Frage beschäftigte Dimion seit Jahrtausenden und noch immer hatte er keine Antwort darauf gefunden.

Die letzten zehn Schatten verschwanden in den Fluten des Schattenquells und strebten dem Lichtreich zu. Er würde ihnen ihre Körperlichkeit zurückgeben und den Aufseherschatten, welche die Befehle innerhalb des Heeres weiterleiteten, auftragen, alle zu sammeln und eine Marschordnung zu schaffen. Sobald diese stand würden sie losziehen und Verderben über das Land bringen.

Dimion hätte jetzt euphorisch sein sollen, kribbelig vor Erwartung, doch er war seltsam anteilnahmslos, so als ob er lediglich ein Beobachter war. Er lachte kurz heiser auf. Genau das war er auch. Ein Gefangener, der durch die Augen eines Schattens die Welt betrachtete, die ihm weiterhin verwehrt blieb.


Das Geräusch, des in regelmäßigen Abständen von der Decke tropfenden Wassers, dröhnte in Merandils Ohren. Seine Sinne waren so geschärft, dass er die Schaben hunderte von Schritten entfernt über den Boden huschen hörte. Er roch die Fledermäuse, die am Ausgang der Kerkergewölbe kopfüber von der Decke hingen und nur hin und wieder kurz ihre ledrigen Flügel fester um sich schlangen, um der beißenden Kälte zu entgehen. Ansonsten dösten sie träge vor sich hin.

Merandil fühlte sich wie sie. Er saß hier fest, gefangen in einem Dämmerzustand. Auch er schlang seine Arme um sich, in der Hoffnung das beständige Zittern so unterdrücken zu können. Doch die Kälte hatte sich so tief in ihn hineingefressen, dass es ihm keine Linderung verschaffte.

Dass sein Geruchs- und sein Gehörsinn sich geschärft hatten, lag wohl daran, dass seine Augen fast nichts mehr wahrnahmen. So sehr er sich auch bemühte, das Dunkel mit seinen Blicken zu durchbrechen, es gelang ihm nicht. Außer ein paar undeutlichen Umrissen blieb die Welt seinen Augen verborgen und er fragte sich, ob er langsam erblindete. Das Wenige, was sein Blick noch zu erfassen vermochte, erschien ihm wie in dunklen Nebel gehüllt und dadurch unscharf und geisterhaft.

Einige Male hatte er gedacht, dass es sich um Schattenkreaturen handelte, die in ihrer dunstigen Gestalt um ihn herum schwebten. Doch den Schemen haftete keine Aura an. Sie waren leblos und bewegten sich nicht. Es mussten folglich die Umrisse der Kerkerwände sein.

Anfangs hatte er sie noch klar gesehen. Warum jetzt nicht mehr? Hing das mit Dimions dunkler Energie zusammen, die ihn durchströmte, wenn er sich seinerseits an der Lichtmagie Merandils bereicherte? Diese fuhr dann in ihn und legte sich um sein Herz, wie eine harte kalte Faust, die versuchte, alle Liebe aus ihm herauszuquetschen.

Wenn Dimion ihn wieder verließ, blieb Merandil für Stunden halb bewusstlos am Boden liegen, bis seine lichte Seite sich wieder erholt hatte und Leben durch ihn pumpte. So ging dies nun schon seit Wochen und Merandil fürchtete sich vor den Augenblicken, in denen er und sein Vater sich so nah waren, dass sie beinahe miteinander verschmolzen. Kurz davor verschloss er sich voller Schrecken und blockierte somit den Fluss der Magie.

Sobald er Dimion leise fluchen oder seufzen hörte, wusste er, dass die Verbindung unterbrochen war und zog sich noch tiefer in sich selbst zurück, um ihm keine Möglichkeit zu bieten, wieder in ihn zu dringen. Erst wenn Dimion sich erhoben und von ihm entfernt hatte, entspannte sich Merandil wieder so weit, dass er zumindest gleichmäßig atmen konnte, auch wenn die eisige Luft in seinen Lungen brannte.

Ob ein Teil der dunklen Magie seines Vaters in ihm zurückblieb und ihn langsam um seine Sinne brachte?

Die Lichtinseln, die er in sich entdeckt hatte als Lyberion ihm und Anais die erste Lektion erteilt hatte, waren weiter auseinandergedriftet und er vermochte sie nicht zusammenzubringen. Die dunkle Leere zwischen ihnen war ein unüberwindbares Meer geworden, in dem seine Seele langsam ertrank. Manchmal konnte er sich auf eine der Inseln retten und verharrte dort in stiller Lethargie, bis Dimion ihn wieder ins Dunkel zerrte und der Kampf von Neuem entbrannte.

Wie lange würde er das noch durchhalten können? So lange wie es nötig war, um Anais zu schützen! Mit diesem Gedanken griff Merandil nach dem Licht einer der Inseln in ihm und zog sich in die Geborgenheit zurück, die dieses ihm bot.


Die Schattenkrieger hatten sich zu Trupps von je eintausend Mann formiert, welche von jeweils zehn Schatten in körperloser Gestalt begleitet wurden. An der Spitze der zwanzig Einheiten schritt Authchírion, der die Befehle seines Herrn durch den Schatten, der an dessen Seite schwebte, entgegennahm. Er hob die Hand in einer gebieterischen Pose und die Stimmen hinter ihm verstummten.

„Wir ziehen nun gegen die Feinde unseres Herrn. Gebt ihnen eine Chance zur Kapitulation. Lassen sie diese ungenutzt, so tränkt den Boden mit ihrem Blut und lehrt die noch Lebenden, was es heißt, sich mit uns anzulegen, auf dass sie das Haupt vor uns und dem Dunklen neigen und seine Herrschaft anerkennen mögen", ließ er seine Stimme über die Krieger hinweg erschallen.

Er stand etwas erhöht und sein Blick glitt über die furchterregende Masse an wuchtigen Leibern, die in ebenso furchteinflößenden Rüstungen steckten. Auch der Schatten an seiner Seite betrachtete die Krieger und durch ihn sah Dimion, was er geschaffen hatte. Er ließ einen markerschütternden Schrei erklingen, den der Schatten wie ein Echo über das dunkle Heer entsandte.

Lanzen, Schwerter, Bögen und eisenbeschlagene Keulen wurden triumphierend in die Luft gereckt und der Zug setzte sich in Bewegung. Dimion flog auf seinem Schatten und ließ seinen Blick über das Land schweifen, das ihm einst eine Heimat gewesen war. Er wollte die Bäume berühren und den warmen Wind auf der Haut spüren. Doch das vermochte er nicht mittels des Schattens. Jedes Mal, wenn er einen Baum streifte, fing dieser an zu rauchen und verkohlte binnen Augenblicken. Er konnte anscheinend nichts als Tod bringen.


Mandelion hatte dafür gesorgt, dass möglichst viele seiner Untertanen südlich der Hauptstadt weilten, um so viel Distanz wie möglich zwischen sie und Morlith zu bringen. Er ahnte, dass jene, die zwischen dem dunklen Reich und Shanduril verblieben, die Begegnung mit den Horden Dimions nicht überleben würden.

Der Fürst hatte seine Heere um sich versammelt und die Magier angewiesen, ihre Sinne auszusenden und jede noch so kleine Veränderung im magischen Gefüge umgehend zu melden. Seit Tagen war die Stimmung angespannt und die Erwartung eines baldigen Angriffs versetzte alle in leise Panik, die sie nur mühsam beherrschen konnten.

Mandelion hoffte inständig, dass Anais ihr Ziel erreicht hatte und nun bei Kalea weilte und in die Kunst der Traumreisen eingeweiht wurde. Es beruhigte ihn zu wissen, dass sie sich durch ihren Kurs weit vom baldigen Schlachtfeld entfernte. Sie würde erst einmal in Sicherheit sein. Und Kalea würde sicherlich dafür sorgen, dass Anais nicht leichtsinnig wurde, denn die Sturheit der bezaubernden Lichtelfe war Fluch und Segen gleichermaßen. Er bewunderte sie für ihren Mut und ihre Zielstrebigkeit, sorgte sich aber auch um ihre Sicherheit, welche Anais einfach außer Acht ließ, wenn es um Merandil ging. Das Feuer in ihren Augen loderte genauso hell, wie jenes in ihrem Herzen. Damit hatte sie jeden Teilnehmer des hohen Rates überzeugt. Wenn es sie nur nicht blind machen würde für die Gefahren, die noch vor ihr lagen.

Mandelion wünschte sich, ihr beistehen zu können, doch dies war ihre Aufgabe und die seine war es, ihr den Rücken freizuhalten, indem er die Truppen Dimions in Schach hielt und ihr Zeit verschaffte.

So in Gedanken versunken schreckte er auf, als eine Stimme rief:

„Ich spüre fremdartige Schwingungen im Netz der Magie. Sie sind im Anmarsch!"


Wo waren sie alle? Die Ortschaften, welche sie auf dem Weg nach Shanduril durchquert hatten, waren allesamt verlassen gewesen.

‚So, als ob sie gewarnt worden wären', ging es Dimion durch den Kopf.

Aber die Elfen konnten sich nicht ewig vor ihnen verstecken. Irgendwo würden sie aufeinander treffen und dann würden sie von seinen Schattenkriegern überschwemmt werden, wie ein Strand von der rasch steigenden Flut. Die Magie pulsierte schwach im Boden und zog in unsichtbaren Schwaden durch die Luft, aber keiner lenkte sie oder machte irgendwie von ihr Gebrauch. Es schien wirklich niemand hier zu sein. Das Land war wie ausgestorben. Je näher sie jedoch der Hauptstadt kamen, umso stärker wurde die Magie. Sie verdichtete sich zu einem Teppich, der ihre Schritte verlangsamte, so als wolle er sie aufhalten. Doch das gelang ihm nicht.

Die Schatten schwärmten aus und suchten nach Gedanken, die sie beherrschen konnten und wurden schließlich fündig. Im nördlichen Massiv der Lamara-Berge warteten die ersten Späher auf die Truppen des dunklen Herrn. Die Schatten stürmten ihnen entgegen und versuchten in sie zu dringen, aber ein feiner Schutzschild verhinderte dies.

‚Verdammte Schutzzauber', fluchte Dimion in Gedanken.

Es war dieselbe Magie, die Anais angewandt hatte, als sie mit dem kleinen Gefolge gen Inrith gezogen war. Und dann spürte er es. Tausende von Magiern, verteilt über alle Berghänge und stationiert in den Tälern, die die Dörfer um Shanduril beherbergten. Auch in der Stadt selbst wimmelte es nur so von heller Magie.

Wie hatten sie von dem Feldzug gegen sie erfahren? Es konnte kein Zufall sein, dass die Regionen zwischen Morlith und dem Zentrum von Melith gänzlich unbevölkert waren und es hier um Shanduril herum nur so vor Magie glühte.

Dimion hatte mit Widerstand gerechnet, mit einer kleinen eilig zusammengerufenen Kriegergruppe. Das Moment der Überraschung war nicht auf seiner Seite. Das wurde ihm schlagartig klar. Doch er verfügte immer noch über zwanzigtausend Krieger mit telepathischen Fähigkeiten und Körpern wie aus Stahl. Wie viele Kämpfer mochte Mandelion aufbieten können?

„Herr, die Späherschatten sind zurückgekehrt. Sie berichten, dass etwa dreißigtausend Elfenkrieger in und um die Stadt herum postiert sind", teilte Authchírion dem Schatten mit, der nicht von seiner Seite wich.

„Dann lasst sie uns beiseite fegen und den Thron von Melith neu besetzen", ließ der Dunkle seine Stimme im Kopf seines Heerführers erschallen.

„Angriff", schrie dieser und stürmte mit seinen Truppen den Hängen der weißen Berge entgegen.

Die Schatten sandten Bilder von schrecklichem Gemetzel und blutigen Niederlagen aus, die ganz sicher früher oder später ins Bewusstsein einiger Elfen eindringen und diese in den Tod treiben würden. Andere würden dem gewahr werden und Panik würde sich wie ein Lauffeuer ausbreiten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Lichtvolk unterworfen oder tot dahingestreckt vor ihnen liegen würde.

Sie erreichten die ersten Magierverbände. Diese schleuderten ihnen Energiebälle entgegen und fachten durch Worte der Macht Winde an, die mehrere Schattenkrieger taumeln und rückwärts die steilen Hänge der weißen Berge hinunterstürzen ließen. Sie rissen andere mit sich in die Tiefe und nur wenige überlebten den Sturz.

Jene, die reglos mit zerschmetterten Gliedern am Boden liegen blieben, verformten sich nach einer Weile und schienen regelrecht zu zerfließen. Sie erstanden von den Toten auf und erhielten ihre ursprüngliche Form zurück. Die Magier gewahrten dies mit Schrecken.

Also konnte man zwar die Körper der Krieger besiegen, setzte aber dadurch die Schatten wieder frei, welche dann kraft ihrer Einflüsterungen töten konnten.

Zwei der Magier eilten der Stadt entgegen, um die Unwissenden dort zu warnen. Alle anderen konzentrierten sich weiterhin auf die Ziele, die ihnen immer näher kamen. Die Flut war einfach zu gewaltig. Sie würden die Hänge der Lamara-Berge nicht halten können. Dagor, der mutigste unter den hier postierten Magiern, beschwor noch eine Steinlawine, die auf einen dicht beieinander laufenden Trupp aus Schattenkriegern niederging und etliche von ihnen unter sich begrub. Dann zogen ihn seine Gefährten mit sich. Sie würden sich im Tal mit anderen ihrer Gilde vereinen und einen Schutzwall aus Magie um die Stadt herum errichten, der den Kriegern dort hoffentlich genügend Zeit verschaffen würde, sich gegen die Angreifer zu wappnen.


Im Abstand von rund fünfzig Schritten standen die Magier und Magierinnen mit zum Himmel erhobenen Armen. Sie blickten den heranstürmenden Schattenkriegern still entgegen und ließen sie bis auf hundert Schritt herankommen. Dann spannten sie sich alle, wie auf ein stummes Signal hin, an und ließen goldglänzende Strahlen aus ihren Handflächen hervorbrechen, die sich über die Stadt spannten und am höchsten Punkt zusammenliefen. Eine Kuppel aus knisternder Magie umgab das Zentrum von Melith. Die Magier und Magierinnen standen an deren äußerem Rand und sahen, wie Krieger um Krieger an dem Kraftfeld abprallte.

Sie versuchten es mit ihren Speeren und Schwertern zu durchbohren, doch auch diese prallten einfach davon ab. Die Elfen lächelten ihnen entgegen, was die Schattenkrieger in Rage versetzte.

Durch die Reihen der Krieger schoben sich die Schatten nun bis an die Wand heran. Sie schwebten an ihr entlang und suchten nach einem empfänglichen Geist. Die meisten der Elfenmagier waren durch Zauber geschützt und dazu noch stark im Geiste.

‚So wie Baradir damals', durchfuhr es Dimion, dessen Schatten die Reihe der Elfen entlang flog und sie angestrengt musterte.

Da! Er drehte ruckartig um und verharrte schwebend vor einem Elf mit schulterlangen hellbraunen Haaren, die ihm ins Gesicht wehten. Seine braunen Augen sahen den Schatten mit unverhohlener Angst an. Dimion lächelte und drang in seine Gedanken ein, die die magische Kuppel nicht zu schützen vermochte.

„Du bist schwach...ein Nichts...bist es nicht wert, zwischen all diesen begabten Magiern zu stehen! Sieh es ein...lass los und ergib dich mir! Hilf mir den Schutzschild zu durchbrechen und ich werde dich verschonen", ließ Dimion seine Stimme in dem zitternden Magier erklingen.

Er wehrte sich ein wenig und schüttelte den Kopf. Doch die Geste wirkte eher wie die eines Kindes, dass versucht seinen Alpträumen zu entgehen, indem es die Augen schließt.

„Wem willst du etwas vormachen? Wie lange, glaubst du, könnt ihr gegen uns standhalten? Wann wird eure Kraft nachlassen? Und was wird dann geschehen? Wir werden euch direkt gegenüberstehen und du wirst nicht einmal Zeit haben zu blinzeln, bevor die Klingen meiner Krieger dich durchbohren", drang Dimion weiter in ihn.

„Was soll ich tun?", fragte der verängstigte Magier leise.

Der Schatten, durch dessen Augen Dimion ihn betrachtete, kam noch näher an den Elf heran und Dimions Stimme flüsterte einschmeichelnd:

„Lass einfach den Strom der Magie deiner Hände enden und wirf dich zu Boden."

Wie um die Drohung zu bestätigen, trat ein wuchtiger Schattenkrieger mit einem Schwert, das den jungen Magier um eine handbreit überragte, auf ihn zu und hob es zum Schlag. Es würde ihn mühelos in der Mitte durchteilen. Der Schatten flog um den Krieger herum und dieser trat einen Schritt beiseite.

„Tue es und dir wird nichts geschehen!"

Der Elf schluckte merklich, schloss die Augen und senkte dann plötzlich seine Hände und warf sich zu Boden.

„Was tust du denn da?", schrie die zierliche Magierin neben ihm.

Die Lücke, die durch das Aufgeben des jungen Magiers entstanden war, schwächte das gesamte Gebilde und überraschte viele von ihnen so sehr, dass auch sie die Magie abbrechen ließen. Der Schutzschild fiel in sich zusammen. Die Schattenkrieger stürmten vorwärts und schwangen ihre Klingen und hieben zu allen Seiten auf die Magier ein. Diese gingen reihenweise zu Boden und blieben mit erstarrten Gesichtszügen in Lachen aus dampfendem Blut liegen. Einige attackierten die Angreifer mit Blendzaubern, oder sie schleuderten ihnen knisternde Energiebälle entgegen, welche die getroffenen Krieger in Flammen aufgehen ließen. Doch nach und nach lichteten sich die Reihen der Magier und ihre toten Leiber bedeckten den Boden.

Noch während die letzten von ihnen starben, fielen die ersten Hundertschaften bereits in die Stadt ein und wüteten unter den Elfenkriegern, die sich verbissen zur Wehr setzten.

Dimions Schatten schwebte noch immer über dem Körper des Elfenmagiers, der ihm mit seiner Kapitulation die Lücke ins Schutzschild geschlagen hatte. Er lag wimmernd bäuchlings am Boden und bedeckte seinen Kopf mit den Händen.

„Erhebe dich!", befahl die Stimme des Dunklen ihm gebieterisch. „Schau dich um und sieh was du getan hast!"

Der Elf wagte es nicht, sich der Stimme in seinem Kopf zu widersetzen. Langsam stand er auf und ließ seinen Blick über das Schlachtfeld gleiten. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er die zerschmetterten Körper seiner Brüder und Schwestern gewahrte.

„Ja, das warst du ganz alleine. Du warst schwach und deinetwegen sind sie alle tot. Ich werde dich verschonen, so wie ich es dir versprach. Dein Verrat hat dir das Leben gerettet. Doch willst du mit dieser Schuld leben? Ich werde dich nicht richten. Das kannst nur du allein."

Wie in Zeitlupe bückte der Magier sich und griff nach einem Schwert, das einer der Schattenkrieger verloren haben musste. Völlig emotionslos hob er es über sich und stieß es sich mitten ins Herz.

„Ja, das hätte ich an deiner Stelle auch getan", sagte Dimion und lenkte seinen Schatten in Richtung des Palastes.

Er hatte dort noch eine offene Rechnung, die er nun zu begleichen gedachte.


Mandelion stand wie ein Fels in der Brandung inmitten der schreienden Krieger und der konzentrierten Magier, denen vor Anstrengung der Schweiß in Strömen über ihre Gesichter rann. In seinem Blick lagen Trauer und Schwermut. Es hatte nie eine Zeit gegeben, in der er auf Rache gegen den dunklen Herrn gesonnen hatte. Stattdessen hatte er gehofft und gebetet, dass dieser von seinen unheilvollen Gelüsten ablassen und erkennen würde, dass kein verwirktes Leben ihm Erleichterung verschaffen würde.

Was hätten sie nicht alles zusammen erschaffen können! Eines einzigen Opfers hatte es bedurft, fürwahr. Doch weder vor noch nach Halron, hätte es Tote geben sollen. Der blinde Hass, welcher in Dimion erwacht war, hatte alles zunichte gemacht, was Mandelion in stillen Stunden ersonnen hatte. Warum war er den Weg, der ihm vorschwebte, nicht von Anfang an gemeinsam mit ihm gegangen?

Aus Angst vor Halron und dessen Zorn auf seinen bevorzugten Sprössling, wenn dieser erführe, dass er keineswegs Groll gegen den ‚Finsteren' hegte?

Dimions zerstörerische Wut hatte die Elfen nur weiter gegen ihn aufgebracht und das Schicksal seinen Lauf genommen. Schließlich war Mandelion zu den friedliebenden Lichtelfen gegangen, um diese um Rat zu bitten und sie hatten ihm vorgeschlagen, den Dunklen Herrn und seine Schatten zu bannen und sie dadurch zu schützen. Schweren Herzens war Mandelion schließlich auf diesen Kompromiss eingegangen. Besser Dimion wäre eingesperrt als tot. Er würde später einen Weg finden, Dimion zu besänftigen und ihn dann wieder zu befreien. Das war nunmehr viertausendzweihundertachtunddreißig Jahre her und noch immer hatte er den besagten Weg nicht gefunden.

Mandelion sah einen riesigen Schatten auf sich zu schweben, der sich in Form und Größe von den anderen unterschied. Er war kein Schattenkrieger und auch kein Kundschafterschatten. Deutlich spürte er die Aura Dimions in ihm. Als er ganz nah vor ihm schwebte, blickten sie sich lange schweigend an. Der Kampflärm, der überall um sie herum tobte, schien sie nicht zu erreichen. Sie waren im Auge des Sturms und verharrten dort. Unfähig, sich zu bewegen, unschlüssig, was zu tun sei.

Mandelion seufzte schließlich tief und sagte mit vor Trauer brüchiger Stimme:

„So sehen wir uns also wieder, kleiner Bruder."


Dimion starrte Mandelion durch die vernebelten Augen seines Schattens an. Seine Züge waren sorgenvoller geworden, aber strahlten noch immer die Milde aus, die ihm stets innegewohnt hatte. Er war ihm gegenüber nie so ablehnend gewesen, wie all die anderen, hatte jedoch auch nie direkt Partei für ihn ergriffen. Ein stiller Beobachter war er stets gewesen, der ihm manchmal, wenn niemand sonst in der Nähe gewesen war, sanft zugelächelt hatte. Dieses winzige Zeichen von Zuneigung hatte Dimion am Leben gehalten und war der Grund dafür, dass er Mandelion nicht infiltriert hatte, während alle anderen seiner Sippe ihm zum Opfer gefallen waren.

Keiner von ihnen hatte seine Einflüsterungen überlebt. Keiner außer seinem Bruder und ihm war mehr übrig geblieben. Und so war es eigentlich nur rechtens, dass sie sich die Herrschaft über das Reich der Elfen teilten. Er gebot über den dunklen Teil der Welt, während Mandelion im Lichte regierte. Dieser Gedanke hielt Dimion für einen Augenblick gefangen, doch dann schüttelte er ihn ab, wie einen lästigen Parasiten.

Sein Bruder hatte ihn in die Verbannung geschickt. Nicht er war es gewesen, der sich ausgesucht hatte, ein Ausgestoßener zu sein und in Finsternis zu versinken! Er würde Mandelion am Leben lassen, aber seine Herrschaft über Melith würde ein für alle Mal enden.

„Du hast dich nicht verändert, Bruder. Während andere um dich herum kämpfen, stehst du seelenruhig da und tust...nichts."

Mandelion zuckte zusammen, als er die Stimme Dimions in seinem Kopf vernahm. Er suchte nach Anzeichen dafür, dass dieser ihn zu manipulieren versuchte. Aber sein Geist war frei. Er hörte lediglich die Stimme seines Bruders in seinen Gedanken.

„Ich beherrsche auch die Kunst der freien Konversation, bei der es beiden Parteien offen steht, zu sagen was sie wollen. Nicht immer geht es um die Beeinflussung des Willens", sagte Dimion und lachte bitter.

„Du weißt, dass ich kein Kämpfer bin. Ich lenke die Geschicke dieser Welt. Genau wie du", erwiderte der Fürst in Gedanken.

„Du lernst schnell. Die meisten sprechen ihre Gedanken laut aus, doch du redest auf die gleiche Weise mit mir, wie ich es mit dir tue."

„Wir sind uns in Vielem sehr ähnlich. Wir beide litten unter Vater. Du, weil er dich verteufelte. Ich, weil er mich als perfekt darstellte und ich dem entsprechen musste was er darunter verstand. Selbst wenn dies bedeutete, dass ich den Kontakt zu meinem Bruder nicht pflegen durfte. Hast du eine Ahnung wie oft ich mir gewünscht habe, dass wir wie andere Geschwister miteinander spielen und lachen könnten? Vater hätte mich umgebracht, wenn er erfahren hätte, dass ich dich oft heimlich angelächelt habe", sagte Mandelion mit melancholischer Stimme.

Dimion, dessen Körper in Trance am Schattenquell weilte, während sein Geist in Form des Schattens Mandelion gegenüber schwebte, zitterte innerlich. Das war alles nur Geschwätz. Sein Bruder versuchte, ihn zu manipulieren. Und doch fühlte er die Wahrheit, die in dessen Worten lag.

„Ja, sicher. Deshalb hast du mir auch die Lichtelfenbrut auf den Hals gehetzt und mich jenseits der Menniath Glann einsperren lassen. Weil du mich so liebtest", stieß er bissig hervor.

Mandelion blickte dem Schatten so tief in die Augen, dass Dimion das Gefühl hatte, sein Bruder könne ihn tatsächlich darin erkennen.

„Diese Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Aber du hattest so gut wie jede Sippe gegen dich aufgebracht. Sie hätten dich getötet. Das konnte ich nicht zulassen. Also wählte ich das Exil für dich...um dich zu beschützen", sagte Mandelion voller Gefühl.

Dimion zögerte. Sollte er ihm glauben? Kannte sein Bruder einen Weg aus der Verbannung?

Als hätte dieser seine Gedanken gelesen, sprach er in diesen zu Dimion:

„Nein, ich kann dich nicht befreien. Das vermögen nur die Lichtelfen."

Dimion rollte eine Träne aus dem Augenwinkel. Er dachte voll Wehmut an Anduriel, seine wunderschöne, liebevolle Gefährtin, welche er von Eigenzweifeln geplagt, im Affekt das Leben genommen hatte.

„Beende diesen Wahnsinn, Bruder", flehte Mandelion ihn nun an.

Er sah sich um und was er erblickte, ließ sein Herz schwer werden. Hunderte blutiger Leiber hatten den hellen Boden mit dem Saft ihres Lebens verfärbt. Von den gefallenen Schattenkriegern war nichts geblieben, außer deren Rüstungen und Waffen. Dafür war die Luft erfüllt von wispernden Stimmen und Schleiern aus Schatten, die alles in ein geisterhaftes, graues Licht hüllten.

Seine Magier hielten die Stimmen von den Elfenkriegern fern und Nimiel führte selber mit der rechten Hand ein Schwert, während sie mit der linken Energiestöße aussandte und Worte der Macht rief, die die Angreifer um sie herum abwehrten.

Sie kämpfte wie eine Löwin und schrie:

„Das ist für meine Mutter!"

Auch Dimion ließ seinen Blick umherschweifen. Wie oft hatte er diesen Moment herbeigesehnt und nun, da er nur ein paar Worte des Zweifels hätte sähen müssen, um Mandelion zu stürzen und die Schlacht für sich zu entscheiden, kamen ihm selber Zweifel, ob es wirklich das war, was er herbeisehnte.

„So still, kleiner Bruder?", fragte Mandelion.

„Wir werden das nicht hier und nicht heute entscheiden. Ich rufe meine Truppen zurück. Lass sie abziehen, ohne uns zu folgen!", forderte Dimion.

Mandelion nickte und lächelte den Schatten an, in dem sein Bruder gefangen war.

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