Die Gewölbe der Vergangenheit

Es war nicht sonderlich schwer gewesen, sich zurück in die Festung zu schleichen. Genau wie bei seinem Ausbruch, war auch bei Merandils Rückkehr keine Wache an der kleinen Pforte gewesen, durch die er entkommen war. Wieder im Inneren angelangt, machte er sich schnell auf den Weg in die Haupthallen, aus denen er seinen Wächtern entwischt war.

Als er die ersten Ansammlungen von Schattenkriegern erreicht hatte, sah er sich betont suchend um und tat so, als ob er sich verirrt hätte. Er nahm absichtlich falsche Wege, die ihn zwar in die Nähe von, jedoch nicht direkt in die geschäftigen Hallen der Feste führten. Sollte ihn einer seiner Wächter oder Dimion selbst so auffinden, konnte er ihnen leicht weismachen, dass er sich verlaufen hätte, was gar nicht so abwegig war, bei all den verzweigten Gängen, die sich stark ähnelten. Erst als er dem Zentrum der Festung so nahe war, dass ihn nur noch zwei Abbiegungen davon trennten, lief er Dimion in die Arme.

„Was machst du hier alleine?", fuhr dieser ihn barsch an.

„Dimion, den Ahnen sei Dank", rief Merandil mit gespielter Erleichterung, „...ich dachte schon, ich würde nie mehr zurückfinden. Auf dem Weg in mein Gemach wurde ich von einer Gruppe streitender Krieger abgelenkt und blieb stehen, um dem Gefecht, welches sich daraus entwickelte, zu folgen. Meine Wachen müssen einfach weiter gelaufen sein, denn als ich meinen Weg fortsetzen wollte, waren sie verschwunden. Ich versuchte, alleine zu meinem Gemach zu gelangen. Doch ich muss irgendwo falsch abgebogen sein und auf einmal hatte ich die Orientierung verloren und irrte ewig umher."

Dimion musterte ihn düster, doch Merandil hielt seinem Blick stand und seine unschuldige Miene aufrecht.

„Du solltest dir den Weg zu deinem Raum gut einprägen, damit so etwas nicht noch einmal vorkommt", sagte der Dunkle scharf.

Dann packte er Merandil unsanft am Arm und zog ihn mit sich.

„Es wird Zeit für einen Beweis deiner Aufrichtigkeit", zischte er. „Ich will, dass wir mit unserer Verschmelzung beginnen. Du sollst verstehen, warum ich der geworden bin, den du heute vor dir siehst. All die Wut und die Schmerzen, welche ich durchlitten habe, werden es dir leichter machen, dich mir zu öffnen. Du bist schon jetzt ein Teil von mir, ob du es wahrhaben willst oder nicht. Und du wirst dich in mir erkennen, wenn du den Weg durch die Vergangenheit beschritten hast."

Merandil sah ihn verständnislos an, doch Dimion machte sich nicht die Mühe, ihm mehr zu erklären. Stattdessen zog er ihn weiter hinter sich her. Sie gingen abwärts, jedoch nicht in Richtung der Quelle, sondern ihr entgegengesetzt. An einem massiven eisernen Tor, kamen sie endlich zum Stehen.

„Dahinter liegen Erinnerungen an mein früheres Leben, an meinen Aufstieg, meinen Fall und auch an die nahe Vergangenheit. Finde deinen Weg durch die Zeit! Ich werde dich am Ende erwarten", sagte Dimion und ließ die Torflügel mit einer herrischen Geste aufspringen.

Dahinter wand sich eine steile Treppe in die Tiefe. Eine brennende Fackel steckte in einer eisernen Halterung an der Wand aus tiefschwarzem, schroffem Gestein.

„Geh hinunter!", herrschte der dunkle Herr ihn an, als Merandil zögerte.

Er stieß ihn der Treppenflucht entgegen und schlug das Tor hinter ihm zu. Merandil war gefangen. Es blieb ihm nur ein Weg und dieser führte abwärts, tief hinab in die Abgründe der Seele seines Vaters.


Die Treppenstufen wanden sich schier endlos abwärts. Sie waren schlüpfrig und so stark ausgetreten, dass sie an manchen Stellen eher einem steilen Hang als einer Treppe glichen und Merandil auf der Hut sein musste, um nicht auszurutschen und hinunterzustürzen.

Endlich am Fuße der Treppe angekommen, erblickte er einen niedrigen engen Gang, welchen er nur in gebückter Haltung passieren konnte. Und trotzdem Merandil von relativ schmaler Statur war, stieß er einige Male an den spitzen Felswänden an, zerriss sich sein Hemd und schrammte seine Haut auf.

Die Luft hier unten war muffig und feucht und Kälte drang ihm durch alle Poren. Es war beklemmend. Außer seinen Schritten und seinem Atem, deren Echo von den Wänden widerhallte, war es totenstill.

Er hatte die Orientierung verloren, aber das war nicht von Belang, denn es gab sowieso nur einen Weg. Auch das Zeitgefühl war Merandil abhanden gekommen. Die Fackel war schon ein beträchtliches Stück herunter gebrannt.

Wie weit würde er noch gehen müssen und was würde ihn erwarten? Er wollte sich nicht alleine im Dunkeln vorantasten, denn anders als in der Quellhöhle, waren hier alle Wände, die Decke und der Boden aus pechschwarzem Stein, der das wenige Licht zu verschlingen schien. Also beschleunigte er seine Schritte.

Langsam verbreiterte sich der Gang und gewann auch zusehends an Höhe und ein matter blauer Schein flimmerte weit vor ihm auf. Merandil hielt kurz inne und atmete tief durch, dann ging er dem Flimmern entgegen.

Nach mehreren hundert Schritten endete der Tunnel und er fand sich in einer gigantischen Höhle wieder, deren Decke hoch aufragte und riesigen Kuppeln glich. An mehreren Stellen erhoben sich schroffe Felssäulen, die das Gewölbe trugen. Der Höhlenboden war nicht flach, sondern hob und senkte sich wie ein kleines Gebirge. In den Tälern glänzte er vor Feuchtigkeit.

Ab und an zuckten kleine Blitze durch die Luft. Merandil spürte die dunklen magischen Ströme in ihnen. Schnell sprach er einen Schutzzauber auf sich, um nicht von einem der Blitze getroffen zu werden. Er stieg auf einen der Felshügel, um sich einen Überblick zu verschaffen und erstarrte, oben angekommen, mitten in der Bewegung.

Eine Kugel aus kaltem Licht schwebte knapp über dem Boden. Diese sandte die Blitze aus. In ihrem Inneren wallten milchige Nebel und in diesen schienen sich Gestalten zu bewegen.

Merandil starrte wie gebannt auf das Schauspiel, welches sich ihm bot. Die Kugel war von mindestens sechsfacher Mannshöhe und sie zog ihn an wie ein Magnet. Merandil schritt wie in Trance auf den leuchtenden Ball zu und streckte eine Hand danach aus. Blitze zuckten um ihn herum, aber sie prallten an seinem Schutzschild ab. Seine Hand drang mühelos durch die Hülle und ehe er sich versah, stand er mitten in dem Nebel im Inneren der Lichtkugel. Die Schwaden umschlossen ihn vollkommen, sodass er den Blick nicht mehr nach draußen dringen lassen konnte. Merandil schwebte zwischen ihnen. Er vernahm leise Stimmen und wollte sich diesen schon angstvoll verschließen, da stieß ein Nebelstrang ruckartig aus der wabernden Masse hervor und drang in seinen Mund, seine Nase, seine Ohren und seine Augen ein. Ihm war, als müsste er ersticken. Er krampfte sich zusammen und versuchte den Eindringling aus seinem Körper zu speien, doch der Nebel hatte sich bereits überall in ihm verteilt.

„Kämpf nicht dagegen an!", hörte er eine Knabenstimme sagen.

Sie war zart und flehend.

„Bitte schau hin und hilf mir!"

Merandil schloss die Augen und presste seine Hände auf die Ohren, um nichts zu sehen und nichts hören zu müssen. Dimion spielte mit ihm. Er sandte ihm ein Kind, um sein Mitleid zu erregen. Aber er würde dieses Spiel nicht mitmachen.

„Du kannst mich nicht aus deinen Gedanken aussperren. Du bist in meiner Vergangenheit. Schau hin und verstehe, dann lasse ich dich wieder gehen", wisperte die Stimme des Knaben.

Merandil tadelte sich für seine Naivität. Wie hatte er glauben können, dass geschlossene Augen und abgeschirmte Ohren irgendeinen Sinn haben könnten. Er tastete sich vorwärts und suchte nach den Wänden der Kugel. Zwar stieß er auf sie, doch sie waren undurchdringbar, fest wie Stein. Verzweifelt ließ er seine Hände weiter an der Wand entlang gleiten. Nirgends fand er eine durchlässige Stelle.

„Du kannst nicht heraus, solange du nicht hingesehen hast", drang die Stimme wieder an sein inneres Ohr.

Merandil seufzte und öffnete die Augen.

„Hab keine Angst. Wir sind zwei Seiten der gleichen Medaille", sagte der Knabe sanft.

Und dann durchfluteten ihn die Bilder.


Ein winziges Elfenkind mit eingefallenen Wangen lag schreiend in einer Wiege. Es war abgemagert und verwahrlost. Niemand schien auf sein Schreien zu reagieren und erst als es schon völlig entkräftet war, erschien am Rande der Wiege ein verhärmtes Gesicht, welches mit Abscheu auf das kleine Wesen hinabblickte.

Der Elf, dessen Kopf ein goldener Stirnreif schmückte, der seine hohe Stellung verriet, streckte kurz die Hand in Richtung des Kindes aus, zog sie aber sogleich wieder zurück, als hätte ihn ein Stromschlag überrascht. Er verkrampfte sich und schüttelte den Kopf.

Dann rief er:

„Naila! Dimion ist hungrig. Bring ihm seine Flasche!"

Und an sich selbst gewandt, fügte er leise hinzu:

„Ich kann nicht für dich sorgen. Du hast mir das Liebste genommen, was ich hatte. Wärst du doch nie geboren worden! Dann wäre Jeora jetzt noch bei mir."

Er drehte sich um, ohne das Kind eines weiteren Blickes zu würdigen.

Das Bild veränderte sich. Das Kind, ein schmächtiger Elfenjunge von nunmehr vielleicht acht Jahren, saß vor einer Staffelei und malte konzentriert. Sein langes dunkles Haar fiel ihm immer wieder ins Gesicht und er pustete es beiseite. Seine kristallblauen Augen fixierten die Leinwand und er kniff die Lippen zusammen, bis sie nur noch schmale Striche waren. Er malte wohl aus der Erinnerung, denn niemand saß ihm Modell. Nach einer Weile betrachtete der kleine Elf sein Werk mit Stolz und hob es von der Staffelei.

„Vater, schau mal was ich gemacht habe", rief er und rannte einem Mann entgegen, in dem Merandil den Elf an der Wiege erkannte.

Dieser schaute kaum von dem Buch auf, in das er vertieft war.

„Ja, ja...geh und zeig es jemand anderem", sagte er mürrisch.

„Aber Vater..." Dimion legte seine kleine Hand auf die des eleganten Elfen.

Dieser schlug sie ihm beiseite und herrschte ihn an:

„Wag es nicht, mich anzufassen! Ist es nicht schon genug, dass ich deine Gegenwart ertragen muss?"

Dimions Augen füllten sich mit Tränen. Er ließ das Bild fallen, an dem er so lange gearbeitet hatte und lief davon.

Merandil konnte nun erkennen, was auf dem Gemälde zu sehen war. Dimions Vater lächelte sanft und liebevoll von der Leinwand und ein heller Schein ging von ihm aus, der ihm das Aussehen eines Engels verlieh.

Als die Vision abermals wechselte, sah Merandil einen schlaksigen Jüngling mit wallender dunkler Haarpracht, einer Haut so bleich wie Morgennebel über einer taunassen Wiese und Augen aus blauem Eis. Er saß alleine am Ufer eines Flusses und schnitzte an einer kleinen Figur, die ein Mädchen von vollkommener Schönheit darstellte.

Manchmal blickte er von seinem Kunstwerk auf und schaute sehnsüchtig zu einer Gruppe von Elfen, die in einiger Entfernung ausgelassen tanzten und sangen. Ein Paar stand etwas abseits der Gruppe und küsste sich zärtlich.

Dimion wandte den Blick ab, da es ihn zu sehr schmerzte. Keiner wollte etwas zu tun haben, mit dem Sohn der Düsternis. Die Art, wie ihn sein eigener Vater behandelte, wie er ihn Fremden gegenüber zu verleugnen suchte, oder abwertend von ihm redete, wenn unter seinen Vertrauten die Sprache auf ihn kam, hatten sein Ansehen in der Gesellschaft so negativ geprägt, dass Dimion förmlich gegen Wände lief, wenn er Annäherungsversuche startete.

Er hatte es längst aufgegeben, da er die ständigen Zurückweisungen leid war. Aber die Sehnsucht nach Anerkennung und Zuneigung blieb und zerfraß ihn innerlich.

Wieder wechselte die Szenerie und diesmal befand sich Merandil in einer Bibliothek, in der sich die Bücherregale in schwindelnde Höhen auftürmten. In der Mitte des Raumes saß ein junger Elf mit verschlossener Miene. Seine Lippen bewegten sich lautlos, während er mit den Fingern über die Zeilen eines dicken, in rotbraunes Leder gebundenen Buches fuhr.

Nach einer Weile legte er das Buch beiseite und streckte seine Hände, sich an den Handgelenken überkreuzend, aus. Langsam drehte er sie auseinander und spreizte seine Finger, wobei kleine Blitze zwischen ihnen entstanden. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf etwas vor ihm. Dann entließ er die Blitze aus seinen Händen und schleuderte sie einer Statue entgegen. Auf dem Weg dorthin formierten sich die kleinen Ladungen zu einem gewaltigen Blitz, der donnernd in sein Ziel einschlug. Die Statue zerbarst in tausende winziger Steinsplitter. Nur der Kopf fiel in einem Stück zu Boden und rollte dem jungen Zauberer entgegen.

Vor dessen Füßen blieb er liegen. Das abgesplitterte, aber immer noch erkennbare Gesicht seines Vaters blickte ihm anteilnahmslos entgegen.

Merandils Brust wurde eng. Er schwankte zwischen Wut und Trauer. Nach all dem, was er gesehen hatte, verspürte er tatsächlich Mitleid mit Dimion.

Schlagartig verschwand die Bibliothek vor seinen Augen und verwandelte sich in eine Felsgrotte, die erfüllt war von dunklen Auren, die aufgebracht durcheinanderstoben. Am Rande der Grotte erblickte er Dimion, der nun reifer aussah und nicht mehr so schmächtig wirkte. Er hielt seine Hände erhoben und sandte ungeheure Wellen von Magie aus, die den Auren entgegenstrebte und sie einpferchte. Immer wieder versuchten die Schatten auszubrechen, doch sie prallten gegen eine unsichtbare Wand.

Dimion kam langsam näher und redete besänftigend, in einer Merandil unbekannten Sprache, auf sie ein. Seine Worte wirkten hypnotisch und die Schatten hielten inne und wandten ihre Aufmerksamkeit dem Elf zu, der sie scheinbar gezähmt hatte. Dimions Tonfall war ruhig, fast liebevoll und Merandil hatte das Gefühl, der Sprache mächtig zu werden.

Er hörte den Sohn der Düsternis sagen:

„Ihr könnt in unsere Seelen eindringen und uns einflüstern, was wir tun sollen. Ich möchte nicht, dass ihr Chaos verbreitet, so wie bisher. Die Elfen fürchten euch und bekämpfen euch deswegen. Ihr für euren Teil hasst sie, weil sie euch feindlich entgegentreten. Lasst mich mit ihnen reden und sie davon überzeugen, dass ihr nicht bösartig seid und lehrt mich im Gegenzug die Kunst der Gedankenübertragung. Ich möchte in ihre Seelen eintauchen und sie davon abbringen, etwas Schreckliches in mir zu sehen. Alles was ich will ist, dass sie mich lieben."

Merandil rann eine Träne über die Wange. Was war nur geschehen?

Die Felsgrotte verschwamm und wurde zu einem prunkvollen Palast. Er befand sich in einem überfüllten Saal. Elfen in edlen Gewändern tuschelten miteinander. Vor einem goldenen Thron kniete Dimion und blickte dann untertänig zu dem Elf empor, der darauf saß. Es war sein Vater und er blickte kalt auf ihn herab.

„Ehrwürdiger Halron, ich habe die Schatten gezähmt und sie unschädlich gemacht. Sie hören auf mich und haben versprochen, nie wieder in böser Absicht in einen der Unseren zu fahren, wenn ihr es unterlasst, sie zu jagen und zu blenden", trug Dimion vor.

Sein Vater sprang erzürnt von seinem Thron auf und schrie ihn an:

„Du willst diese Kreaturen gezähmt haben? Du Nichtsnutz! Vielleicht stehst du sogar noch im Bunde mit ihnen und willst uns am Ende nur dein eigenes dunkles Wesen durch sie aufzwingen. Warum hast du sie nicht gleich alle vernichtet, wenn du so mächtig bist?"

Dimion sah Halron so frostig an, dass dieser für einen Moment vor Schreck erstarrte.

„Ich töte nicht, Vater. Ich vermittle und entwirre Missverständnisse. Das habe ich mein Leben lang versucht. Bei euch ist es mir nicht gelungen, aber bei den Schatten schon."

Er lachte bitter.

„Welch eine Ironie!"

Dann wandte sich Dimion einfach um und verließ den Saal erhobenen Hauptes. Er wusste nun, wo sein Platz war und bei seinesgleichen war er gewiss nicht.

Das Nächste, was Merandil sah, war ein schroffes Gebirge, welches ihm bekannt vorkam. Morlith! Das Land sah nicht so karg und trostlos aus, wie er es heute kannte, aber er war sich ziemlich sicher.

Dimion stand auf einem Felsvorsprung und mehrere Schatten flankierten ihn wie Leibwächter. Er gab ihnen Befehle und sie schwärmten aus. Merandil flog auf ihnen und sah die Landschaft unter sich dahingleiten. Er war Eins mit ihnen.

Merandil erschrak. Nein, er wollte nicht mit ihnen verschmelzen, aber er war machtlos, eben nur ein Beobachter, der von Ort zu Ort gebracht wurde, um alles zu erleben, was seinem Vater widerfahren war. War das seine Art von Verbindung zu den Schattenwesen?

Sie flogen lange und als sie schließlich eine Siedlung unter sich sahen, gingen sie in den Sturzflug, wie Raubvögel, die ein Ziel anvisiert hatten. Merandil erblickte ein Bauerngehöft und vier Elfen, die ein Feld bestellten. Eine von ihnen war eine junge rothaarige Elfe mit einem sommersprossigen Gesicht, aus dem sie mit Entsetzen aus grasgrünen Augen zum Himmel emporblickte.

Sie rief den anderen zu:

„Bringt euch in Sicherheit! Die Schatten greifen an!"

Die Elfen stoben panisch auseinander, doch es half ihnen nichts. Die Schatten drangen in sie ein und saugten das Leben erbarmungslos aus ihnen heraus. Merandil drang mit der dunklen Kreatur, auf der er flog, in die rothaarige Elfe ein. Er fühlte ihren Schmerz und dann noch etwas Anderes.

Die Magie, die ihr innewohnte, ging auf ihn über. Er sog sie einfach in sich auf.

Als die vier Elfen leblos und leer am Boden lagen, erhoben sich die Schatten und schossen rasend schnell davon, den nächsten Opfern entgegen. Irgendwann hörte Merandil auf, all die Seelen zu zählen, die der Schatten und er nahmen. Er verschloss sich, so wie all die Jahre im Kerker, um diesen Teil der Vision durchzustehen.

Nach einer Ewigkeit kehrten sie zurück zu Dimion und dieser verschmolz mit seinen dunklen Dienern und absorbierte all die Magie, die sie gesammelt hatten.

„Bald werde ich genug Kräfte besitzen, um mich an meiner Sippe und allen, die mich verkannt haben, zu rächen", sagte er und ballte seine Hände zu Fäusten.

Die Schattenwesen verblassten und Merandil atmete auf. Er wollte nie wieder Eins mit ihnen werden.

Es wurde dunkel um ihn herum und still. Er dachte, dass seine Reise durch die Vergangenheit seines Vaters zu Ende wäre, doch er irrte sich.

Licht flammte vor ihm auf und er erblickte ein Schlafgemach. In einem prunkvollen Bett, über dem sich ein goldener Seidenbaldachin spannte, lag schlafend ein Elf.

Plötzlich hatte Merandil das Gefühl, die Szene nicht mehr von außen zu betrachten, sondern durch die Augen eines Anderen zu sehen. Als er an sich hinuntersah, erkannte er Dimions Körper. Die Angst überkam ihn wie eine Welle. Was machte er im Körper seines Vaters? Er fühlte kalte Wut und Trauer, als er langsam auf das Bett zuhielt.

„Du sagtest immer, ich hätte Mutter getötet", hörte er Dimion flüstern. „Ist es dann nicht nur konsequent, fortzuführen was ich begonnen habe?"

Dimion stand jetzt direkt über der schlafenden Gestalt und schaute erbarmungslos auf sie herab.

„Wach auf, Vater!", sagte er laut.

Als Halron die Augen aufschlug, wollte er schreien, aber seine Stimme versagte. Alles was er tun konnte, war seinem Sohn ins kaltlächelnde Gesicht zu blicken.

Dieser ließ seine Stimme im Kopf Halrons erklingen und flüsterte ihm zu:

„Du wusstest schon immer, dass ich ein böser Junge bin. Aber wie sehr, wirst du erst jetzt erfahren. Du hast mich zu dem gemacht, der ich nun bin. Ich sagte dir damals, dass ich niemals jemanden töten würde und daran halte ich fest. Doch ich werde dich nicht davon abhalten, dich selber zu ermorden. Erhebe dich und geh zum Fenster!"

Merandil stockte der Atem. Unter dem Bann seines Sohnes, stieg Halron aus dem Bett und strebte dem offenen Fenster zu. Dimion folgte ihm und warf einen Blick hinaus.

Sie waren ganz oben im Turmzimmer des Palastes seiner Sippe und bis in den Hof waren es acht hoch aufragende Stockwerke. Er lächelte seinen Vater an.

„Ich schenke dir, was ich dir einst nahm. Geh zu Jeora und werde glücklich mit ihr! Lass dich fallen!"

Halron stieg auf den Fenstersims und ließ sich einfach nach vorne kippen. Ein klatschender Laut, begleitet vom Geräusch splitternder Knochen, hallte kurz darauf durch die Stille der Nacht.

Dimions Miene war eine Maske, doch in seinem Inneren brodelte es. Er hatte versucht, die Liebe seines Vaters zu erringen und als dies nicht ging, wenigstens seinen Respekt. Er war folgsam gewesen, unterwürfig und voller Hoffnung, dass er eines Tages den Lohn dafür erhalten würde. Doch man hatte ihn mit Füßen getreten und ausgeschlossen und alles nur, weil sein Vater ihn in einem so schlechten Licht dargestellt hatte, dass alle anderen gar nicht anders konnten, als ihm zu glauben...schließlich war er doch der König.

Und jetzt war er tot.

Merandils Augen brannten. Er kämpfte mit den Tränen und konnte nicht einmal sagen, ob aus Trauer, Wut oder Erleichterung. Das Einzige was er wusste war, dass er genug gesehen hatte. Er wollte weg von den Erinnerungen Dimions, denn er fürchtete sich vor dem, was noch kommen musste.

Seine Seele, anfangs noch hell, aber traurig, war von Mal zu Mal dunkler geworden.

Merandils Wünsche wurden jedoch nicht erhört. Er glitt in eine weitere Flut aus Bildern.

Schatten überfielen abermals ganze Landstriche und töteten alles, was ihnen unter die Augen kam. Nun aber, stellten sich ihnen Elfen entgegen, die von innen heraus zu leuchten schienen.

'Lichtelfen!', durchfuhr es Merandil.

Er sah, wie sie die Schatten nach Morlith drängten und zu Hunderten gemeinsam ihre starke Magie fließen ließen. Sie schufen die Schattengrenze und schnitten Dimion und seine Untergebenen von Melith ab. Dimion tobte und versuchte, die Grenze zu sprengen, doch es gelang ihm nicht.

Wie im Zeitraffer vergingen die Jahrtausende. Das Leben in Melith erblühte wieder und das Land Morlith geriet in Vergessenheit. Nur die Lichtelfen und deren Nachkommen hielten die Erinnerung aufrecht und schützten die Grenzen.

Mit einem Mal liefen die Bilder wieder langsamer vor Merandils Augen ab. Er erblickte eine wunderschöne Elfe mit langen braunen Haaren und großen meergrünen Augen, die förmlich dahinzuschweben schien.

'Genau wie Anais', dachte Merandil und sein Herz wurde schwer.

Die Elfe öffnete ein winziges Lichttor und schlüpfte durch die magische Grenze nach Morlith. Sie summte ein beruhigendes Lied, das die Schatten, die ihren Weg kreuzten, einlullte. Die Melodie kam Merandil vertraut vor, obwohl er sich sicher war, sie noch nie gehört zu haben. Anscheinend verfügte auch sie über telepathische Kräfte, denn sie dachte an Dimion und dieser Gedanke brachte sie direkt zu ihm.

Der Herr über Morlith war erstaunt, als plötzlich besagte Gestalt von überirdischer Schönheit vor seinem Thron kniete und ihm ein Angebot unterbreitete, mit dem er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte.

„Ihr habt Unrecht getan und viel Leid über die Elfenvölker gebracht. Aber auch euch ist Ungeheuerliches angetan worden. Der Hass auf beiden Seiten eskalierte und führte zu eurer Verbannung. Ich jedoch teile eure Meinung, dass ein Leben Seite an Seite möglich ist. Viel zu lange schon, haben wir einander bekämpft und hohe Verluste zu beklagen. So lasst uns einen Pakt schließen und unsere Welten in Frieden wieder vereinen. Ich biete mich euch aus freien Stücken an. Lasst uns ein Kind der Hoffnung zeugen, das unsere Fehler nicht wiederholen wird und ein Zeichen dafür sein soll, dass Melith und Morlith keiner Trennung bedürfen!"

Dimion starrte sie ungläubig an.

„Wer bist du?", fragte er.

„Ich bin die letzte dreier Lichtelfen und des Kämpfens müde. Mein Name ist Anduriel."

Merandil schaute das erste Mal in seinem Leben in das milde Gesicht seiner Mutter und wusste im gleichen Atemzug, dass sie tot war und er sie nie wiedersehen würde.


Mit einem lauten Knall zerplatzte die Lichtkugel und der Nebel der Vergangenheit löste sich um Merandil herum auf. Zitternd vor Kälte und auch wegen der wirren Gefühle, die auf ihn einstürzten, stand er alleine in dem riesigen Höhlengewölbe.

Er wollte fort von alldem, aber er hatte Angst vor der Begegnung mit seinem Vater. Warum hatte er das Friedensangebot seiner Mutter ausgeschlagen und sie hintergangen?

Die Erinnerung an den kurzen Blick auf sie, ließ Merandil die Tränen in die Augen steigen. Dieses Lied, das sie gesummt hatte...er kannte es aus einer Zeit, in der sie ihn unter ihrem Herzen getragen hatte, geborgen in ihrem Leib. Er spürte die Liebe, die sie für ihn gefühlt hatte, schon lange bevor er auf die Welt gekommen war. Doch er kannte es auch aus seinen Träumen, die ihn im Kerker heimgesucht hatten. Immer wenn er geglaubt hatte, es nicht mehr ertragen zu können, war dieses Lied in sein Unterbewusstsein gedrungen, um ihn zu beruhigen und ihm die Kraft zu geben, sich weiter zu widersetzen.

Anduriel, sie wachte über ihn, wo auch immer ihr Geist jetzt sein mochte.

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