Der Quell der Schatten

„Wie lange willst du dich mir noch widersetzen? Glaubst du wirklich, dass du dich deiner wahren Bestimmung ewig entziehen kannst?"

Dimion tobte vor Wut und schlug wieder und wieder auf Merandil ein.

Sein Sohn blutete aus unzähligen Wunden, doch er klagte nicht. Kein einziger Schmerzenslaut kam über seine Lippen. Er sah seinen Vater voller Verachtung an und strafte ihn mit seinem stoischen Schweigen.

Merandil war ihm und seinen Reden jeden Tag ausgesetzt gewesen, seit er nach Morlith gekommen war. Selbst wenn er nicht bei ihm war, hörte er dessen Stimme in seinem Kopf. Sie versuchte, ihn mit Schmeicheleien zu umgarnen, mit Androhungen zu schrecken, oder durch endlose Litaneien zu zermürben, aber nichts vermochte seinen Geist so sehr zu schwächen, dass er Dimion nachgeben und sich ihm anschließen würde.

Der dunkle Herr hatte mit Widerstand gerechnet, jedoch nicht über Jahre hinweg. Er wurde langsam ungeduldig. Die erneuerte Grenze, welche Anais penibel pflegte, erzürnte ihn zusätzlich, denn sie machte es ihm und seinen Schatten um ein Vieles schwerer, in die Außenwelt vorzudringen und dort für Unruhe und Verwirrung zu sorgen. Der Schattenquell war die einzige Verbindung geworden und auch diese verlangte ihm so viel Kraft ab, dass er seinen Geist nur für kurze Zeit auf Reisen schicken konnte.

Warum musste diese kleine Lichtelfe so verdammt widerstandsfähig sein? Er hätte darauf schwören können, dass sie kein Jahr ohne ihren geliebten Merandil aushalten und vor lauter Gram lieber den Freitod wählen und ihrer Mutter folgen würde.

Da überkam ihn ein Gedanke. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen?

„Hör mir gut zu! Ich werde meinen Willen früher oder später bekommen und wenn nicht durch dich, dann durch eine andere Verbindung."

Merandil hielt kurz inne und hob dann langsam seinen Kopf, der ihm vor Erschöpfung auf die Brust gesunken war. Er schaute Dimion mit einer Mischung aus Angst und Abscheu an.

Dieser lächelte gehässig und fuhr fort:

„Du weißt, dass mir nur ein Halbbalg mit einer Lichtelfe die Macht verleihen kann, aus meiner Verbannung auszubrechen. Wenn du nicht Willens bist, mir deinen Geist zu öffnen und unsere Kräfte zu vereinigen, so muss ich nach einer Alternative suchen. Wie viele Lichtelfen gibt es noch?"

Merandils Augen verengten sich zu winzigen Schlitzen. Sein Blick war voller Hass.

„Das wirst du dich nicht wagen. Ich werde dich töten, wenn du auch nur daran denkst, sie anzurühren!"

Dimion warf ihm einen amüsierten Blick zu. Er trat nah an ihn heran und packte ihn an der Kehle.

„Das würde mich sehr wundern. Sag, wie willst du das bewerkstelligen, angekettet und eingekerkert?"

Merandil hatte schon unzählige Male versucht, die Ketten zu sprengen, aber ein mächtiger dunkler Zauber musste auf ihnen liegen, denn seine Magie vermochte sie nicht zu zerbrechen.

Doch das hinderte ihn nicht daran, Dimion ins Gesicht zu spucken und drohend zu sagen:

„Das lass meine Sorge sein. Ich werde einen Weg finden. Lass deine Finger von Anais!"

Dimion ließ seine Hände in aufreizender Gemächlichkeit über Merandils Brust gleiten und fragte ihn mit dunkler, sinnlicher Stimme:

„Wie hat es sich angefühlt, wenn sie dich berührt hat? Hat sie dir Schauer über den Rücken gejagt?"

Mit einem Ruck hob er Merandils Kinn an und sah ihm direkt in die Augen.

„Wenn ich so darüber nachdenke, dann vermisse ich das Gefühl weiblicher Hände auf meiner Haut. Vielleicht sollte ich ihr in deiner Gestalt erscheinen? Oh, wie sie sich freuen würde, dich nach so vielen Jahren endlich wieder in die Arme schließen zu können."

Merandils Herz raste. Er musste Anais erreichen und sie warnen, falls Dimion seine Drohung wahr machen sollte.

„Du kannst mich nicht täuschen", erwiderte er mit aller Gelassenheit, die er aufbringen konnte. „Ohne meine Magie hast du keine Möglichkeit nach Melith zu gelangen. Du bist nur eine Stimme in den Köpfen derer, die du heimsuchst, aber körper- und gestaltlos. Anais ist stark. Sie wird deinen Einflüsterungen widerstehen, genau wie ich."

Er suchte nach einer Regung im Gesicht seines Vaters, aber dieser drehte sich um und entgegnete geheimnisvoll:

„Es gibt mehr als einen Weg, um zu ihr zu gelangen. Wenn ich ihr die richtigen Träume sende, wird sie von ganz alleine zu mir kommen. Ich gebe dir noch Bedenkzeit, aber nicht mehr lange."

Damit verließ er schnellen Schrittes den Kerkerraum, in dem Merandil ausharrte, seit er hierhergekommen war.

Der Gefangene sank in sich zusammen und suchte fieberhaft nach einer Lösung, wie er Anais schützen konnte, ohne sich Dimion zu ergeben. Sollte er ihm Einsicht vorgaukeln, damit dieser ihm die Fesseln abnahm und dann darauf hoffen, ihn mit seiner Magie, oder auch nur mit bloßen Händen zu töten? Wie machtvoll war er? Konnte er ihn besiegen? Und wenn er tatsächlich eine Weile lang kooperieren, ihm aber nur einen kleinen Teil seiner Kraft zugänglich machen würde?

Der Gedanke an Anais, wie sie ihm ausgeliefert in eine Falle tappen würde, ließ Merandil waghalsig werden und seine Schwüre und Prinzipien in den Hintergrund treten. Dimion hatte ihn an der einzigen Stelle gepackt, an der es ihn so sehr schmerzte, dass er schwach wurde.

Er musste herausfinden, wie es der Dunkle anstellte, seinen Geist über die Grenzen von Morlith hinweg zu entsenden. Wenn er um dieses Geheimnis wüsste, könnte er auf diesem Wege ebenfalls eine Nachricht an seine Geliebte überbringen und sie vor seinem Vater warnen.

Keine körperliche Pein, keine noch so einsame Zeit und keine Kälte, die in ihn drang, hatte ihm bisher irgendeine sichtbare Emotion entlocken können. Er hatte sein Herz verschlossen und war innerlich zu Stein geworden, um all das durchzustehen. Doch nun rannen ihm Tränen über die Wangen. Was hätte er darum gegeben, Anais in seinen Armen zu halten und sie nur noch ein einziges Mal zu küssen!


Dimion tigerte auf und ab. Er schnaufte wütend:

„Merandil hätte hier bei mir aufwachsen sollen, unter meinem Einfluss, mit meinen Lehren. Er hätte ein mächtiger dunkler Magier an meiner Seite und zu meinen Diensten werden sollen. Stattdessen ist er ein Ausmaß an Tugend und Großherzigkeit geworden, verweichlicht und trotzdem, oder gerade deswegen, hart mir gegenüber. Ich habe bisher noch jede Seele gebrochen. Warum gelingt es mir bei ihm nicht?"

Die Höhle, in der er sich befand, glich einem düsteren Thronsaal. In der Mitte des gigantischen Felssaals stand ein riesiger schwarzer Granitsitz auf einem Podest aus Lavabrocken, in welches Stufen hineingehauen waren, die zum Thron des dunklen Herrn hinaufführten.

„Authchírion!"

Eine furchterregende Kreatur, mit entsetzlich entstelltem Gesicht und grotesk verformten Gliedern näherte sich dem Herrscher von Morlith in demütig gebeugter Haltung.

„Mein Herr, ihr rieft nach mir", zischte sie.

„Wie steht es um mein Schattenheer? Wie viele haben ihre Gestalt behalten?", verlangte Dimion von seinem Heerführer zu wissen.

„Gut zwanzigtausend von ihnen sind stabil in ihrer Verwandlung, mein Herr und Gebieter", antwortete dieser untertänig.

Dimion nickte zufrieden. Er hatte in unzähligen dunklen Zeremonien seinen Schatten eine feste Form verliehen, sie in Körper gekleidet, die ihrem Naturell entsprachen. Düster und verzerrt, waren sie zu einem Ebenbild der hasserfüllten Seele ihres Herrn geworden.

Was ihm seine eigene Sippe einst angetan hatte, sollte nicht ungesühnt bleiben. Verspottet und verkannt hatte man ihn, gering geschätzt und belächelt. Sogar als er, der über die geringste Zauberkraft verfügte, die gefürchteten Schatten, welche in die Gedanken der Elfen des ersten Zeitalters eindrangen und sie korrumpierten, gezähmt hatte, warf man ihm nur vor, sie nicht gleich vernichtet zu haben.

Von diesem Zeitpunkt an, hatte sich Dimion dazu entschieden, lieber einsam über eine Armee von Schatten zu herrschen, als weiterhin unter Seinesgleichen zu leben und ohne Anerkennung für seine Taten zu bleiben. Sein Vater hatte ihn bereits mit seinem Namen gezeichnet, Dimion, Sohn der Düsternis. Weil seine geliebte Frau bei der Geburt seines Sohnes gestorben war, wurde dieser für ihn zum Sinnbild der Dunkelheit, die ihn fortan umgab. Und keine Liebe wollte in seinem Herzen für den Spross der Liebe zwischen ihm und seiner Frau erwachsen. Egal was Dimion auch getan hatte, um seinen Vater stolz zu machen und ihm irgendeine Art von Zuneigung zu entlocken, es war nie genug gewesen.

Jetzt sollten sie alle dafür bluten.

Er war Eins mit den Schatten und mächtiger geworden, als je ein Elf zuvor und er hatte Angst und Schrecken verbreitet, bis diese verfluchten Lichtelfen ein Mittel ersonnen hatten, ihn einzukerkern. Doch er würde nicht für immer in der Verbannung leben. Wenn der Tag kommen würde, an dem die Grenze fiel und er nach Melith vorrücken konnte, würde ein gewaltiges unbarmherziges Heer hinter ihm stehen und ihn auf seinem Rachefeldzug begleiten.

Jetzt brauchte er nur noch die Kraft des Lichtelfen, die bereits tief mit seiner eigenen verbunden war, um endlich die Fähigkeit zu erlangen, die verhasste Grenze zu durchbrechen. Würde dieser doch nur einsehen, dass sie untrennbar waren, egal wie sehr dies seinem Sohn auch zuwider sein mochte.

Dimion hatte auf jede erdenkliche Weise versucht, Merandils Macht in sich aufzunehmen, aber dieser verschloss sie in sich, wie in einem Tresor, zu dem der Dunkle einfach keinen Schlüssel fand.

Es blieb abzuwarten, ob seine Drohung, Anais zu nehmen und sich einen neuen Sprössling zu erschleichen, den er dieses Mal unter keinen Umständen entkommen lassen würde, Früchte trug. Aber er hatte das Gefühl, eine wunde Stelle getroffen zu haben. Anais war Merandils Achillesferse.

Er würde seinen Sohn ein paar Tage schmoren lassen, in denen dieser sich in allen Farben ausmalen konnte, was Anais blühen würde, wenn sein Vater sie in die Finger bekäme. Dann würde er sein Ultimatum erneut unterbreiten.


Merandil hatte unvorstellbare Qualen durchlitten. Er hatte förmlich spüren können, wie seine lichte und seine dunkle Seite miteinander kämpften. Anstatt klarer zu sehen, war er immer tiefer in eine Spirale aus Verzweiflung, Hass und Zwiespalt geraten. Anais auf der einen Seite, das Geschick eines ganzen Volkes auf der anderen. Verpflichtet war er allen gegenüber und jeder Tag mehr, den er sich widersetzte, bedeutete auch eine Chance auf eine andere Lösung, die er vielleicht nur noch nicht sah. Aber die Angst um Anais war stärker.

Hatte Dimion ihm Träume geschickt, um ihn zu demoralisieren, oder hatte er selbst, nach endlosem Grübeln und Sorge um seine Frau, Visionen heraufbeschworen?

Wie auch immer, er hatte gesehen, wie sie auf Dimion, der ihr in seiner Gestalt begegnete, zulief und ihn in die Arme schloss. Dieser küsste sie stürmisch und bemächtigte sich ihrer. Anais' Gesicht war angstverzerrt gewesen. Sie spürte an der Art, wie er sie grob umschlungen hielt, dass etwas an ihm verändert war und versuchte, ihm zu entkommen. Doch Dimion hielt sie weiterhin eisern gepackt und als Anais vor Schmerzen schrie, ließ er die Maskerade fallen und offenbarte sich ihr kalt lächelnd. Er hüllte sie in Schatten, die sie fast zu ersticken drohten und schleifte sie hinter sich her in die Tiefen von Morlith.

Dann war alles wie im Zeitraffer vor Merandils Augen abgelaufen. Anais' Bauch war stetig gewachsen und als sie kurz vor der Niederkunft stand, trat der dunkle Herr mit einem schwarzen Dolch an sie heran und schlitzte erbarmungslos in einer einzigen schwungvollen Bewegung ihren Leib auf, um das Kind herauszuholen. Anais' Mund öffnete sich zu einem Schrei, der ihre Lippen jedoch nicht mehr verließ. Sie war auf der Stelle tot gewesen.

Merandils Geist schwebte über dieser Schreckensszene, er war wie erstarrt, dann jedoch schlug unbändige Wut eine Bresche durch die Lethargie und er fuhr auf Dimion nieder.

In diesem Moment war Merandil erwacht und hatte sich gegen die Ketten gestemmt und einen Kampfschrei ausgestoßen. Er hatte sich entschieden. Niemals würde er es dazu kommen lassen!


Nach fünf Tagen machte Dimion sich erneut auf in den Kerker, um Merandil weiter zu zermürben. Als er ihn erblickte, bemerkte er sofort eine Veränderung in der Aura seines Sohnes. Er war nicht mehr so verhärtet und teilnahmslos wie zuvor. Stattdessen war er aufgebracht und unruhig. Der Dunkle lächelte in sich hinein und triumphierte. Seine Drohungen hatten anscheinend die gewünschte Wirkung gezeigt.

„Nun, hast du eine Entscheidung getroffen?", fragte Dimion, als er Merandil erreicht hatte.

Dieser sah ihn voll des kalten Hasses an und richtete sich so hoch auf, wie sein geschundener Körper es ihm ermöglichte.

„Nicht deinetwegen, Vater." Merandil sprach das letzte Wort voller Verachtung aus. „Einzig und allein zum Schutze meiner Frau, werde ich mich fügen. Mach mich los und lass mich das Reich sehen, über das du herrschst! Ich finde, dass ich ein paar Tage in ‚Freiheit' verdiene, bevor du dich meiner Magie bedienst."

„So, so...du stellst jetzt die Forderungen?", fragte Dimion amüsiert.

„Du kannst wohl kaum von mir erwarten, dass ich direkt aus den Ketten an deine Seite trete und den folgsamen Sohn gebe", erwiderte Merandil kühl.

Sein Vater schmunzelte:

„Du bist mir ähnlicher, als du denkst. Fordernd, unbeugsam und tief in deiner Seele kalt und rücksichtslos. Wir werden uns gut ergänzen. Ich denke nicht, dass ich dir den Wunsch verwehren sollte, doch ich werde dich auf Schritt und Tritt begleiten. Du kannst wohl kaum von mir erwarten, dass ich dich direkt aus den Ketten alleine losspazieren lasse."

Sie sahen sich abschätzend an und nach einer Weile forderte Merandil erneut:

„Nimm mir die Fesseln ab und führe mich durch deine Welt! Ich will alles sehen und verstehen."

Dabei dachte er nur an die Magie der Gedankenübertragung und hoffte im selben Augenblick, dass Dimion gerade nicht in den seinen las. Er nahm sich vor, seine Gedanken in Zukunft zu verschließen und seinem Vater nur zu offenbaren, was diesen nicht misstrauisch machen würde.

Dimion sprengte die Ketten, die Merandil nunmehr seit gut vierhundert Jahren festgehalten hatten (ja, so lange hatte er sich erfolgreich widersetzt und Dimion damit zur Weißglut getrieben), mit einer einzigen herrischen Geste. Merandil rieb sich die wunden Handgelenke und machte einen zaghaften Schritt, der ihn fast zu Fall brachte. Sein Körper war geschwächt und Bewegung nicht mehr gewohnt. An eine Flucht war nicht zu denken. Also spielte er seine Rolle und schloss sich, unsicher hinter Dimion her schwankend, diesem an, um das Land zu sehen, das zu seiner unfreiwilligen Heimat geworden war.

Irgendwo würde er einen Hinweis darauf finden, wie oder durch was der Dunkle und seine Schatten ihren Geist über die Banngrenze hinweg dringen lassen konnten. Er musste nur Augen und Ohren offen halten.


Die Welt, durch die Dimion Merandil führte, war trostlos, düster und beklemmend. Bizarre dunkle Felsformationen lösten sich mit weiten kargen Ebenen ab, auf denen nichts gedieh.

Keine Himmelsgestirne waren zu sehen und Merandil wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Das gräuliche Licht hätte jeder Tageszeit angehören können und es schien sich auch nicht zu verändern, obwohl sie bereits seit Stunden unterwegs sein mussten. Es erinnerte Merandil an das Licht aus den Anfängen seiner Alpträume und bedrückte ihn zutiefst.

Sein Kerker hatte sich in einer Höhle, die wohl Teil eines schroffen Gebirges sein musste, befunden. Und trotzdem das Licht an der Oberfläche fahl und grau war, hatte es anfangs in seinen Augen gebrannt, so dunkel war es in der Höhle gewesen.

Der Horizont verschwamm mit den Nebeln, die reglos über dem Boden lagerten und so mutete die Ebene schier endlos an. Noch nirgendwo hatte Merandil Wasser gesehen, doch er hatte in regelmäßigen Abständen welches erhalten, auch wenn dieses brackig und bitter gewesen war.

Sie waren lange Zeit schweigend hintereinander her gegangen, doch nun fragte Merandil mit unverhohlener Neugier:

„Woher nimmst du Wasser? Gibt es hier einen Fluss oder eine Quelle?"

Dimion blieb abrupt stehen und wandte sich langsam zu ihm um.

„Wasser ist rar in diesem Land. Du siehst es ja an der fehlenden Vegetation. Aber ja, es gibt eine Quelle in einer Höhle, nahe meiner Festung."

Merandil schaute ihn verwundert an.

„Deine Festung? Befindet sie sich weit von hier?"

„Sie ist so nah oder weit entfernt, wie ich es wünsche", sagte Dimion geheimnisvoll. „Hast du genug gesehen von unserem Land?", fragte er.

Merandil ließ seinen Blick über die einsame Landschaft schweifen und nickte.

„Dann wird es Zeit für dein neues Heim", verkündete der Herr der Schatten und hob seine Hände gen Himmel.

Er legte seine Handflächen aneinander und ließ sie dann in einer explosiven Bewegung auseinanderfahren. Merandil schaute ihm gebannt zu und konnte kaum glauben, was er sah. Wie aus dem Nichts tauchten massive Mauern vor ihnen auf, welche sich in schwindelerregende Höhen auftürmten. Vereinzelt erhoben sich tote Bäume aus einem aufgesprungenen Lehmboden. Über den Mauern der gigantischen Festung, deren Türme wie versteinerte riesige Hände aus ihr erwuchsen, kreisten Schattengestalten. Und noch weiter darüber zogen grau-gelbe Drachen ihre Runden. Die Luft war erfüllt von Gekreische und Gemurmel.

Merandil zuckte zusammen. Wie konnte all dies auf einmal vor ihnen erscheinen?

„Gefällt dir unser zu Hause?", fragte Dimion belustigt, als er Merandils Reaktion wahrnahm. „Es überwältigt einen, nicht wahr?"


Im Inneren der Festung herrschte reges Treiben. Kreaturen von grotesker Gestalt lagerten in Gruppen beieinander oder huschten durch die Gänge. Einige hatten entfernt Ähnlichkeit mit Elfen, jedoch waren ihre Gesichter entsetzlich entstellt und die Gliedmaßen unnatürlich proportioniert. So hingen ihnen die Arme bis zu den Kniekehlen hinunter und ihre Beine waren spindeldürr. Andere Wesen glichen nichts, das Merandil je zuvor gesehen hatte. Sie hatten drei oder fünf tentakelartige Beinfortsätze und Arme, die aus der Mitte ihrer Rümpfe herausbrachen. Die Köpfe ähnelten eher denen von Tieren mit riesigen Mäulern und kalten runden Reptilienaugen.

Sie alle beäugten ihn misstrauisch, griffen ihn jedoch nicht an. Vor Dimion wichen sie respektvoll zurück und verbeugten sich tief, wenn er in ihre Nähe kam.

„Was sind das für Wesen?", fragte Merandil leise mit einem Anflug von Unbehagen.

„Das sind meine Krieger, geschaffen aus den Schatten des Anfangs der Zeit", sagte Dimion stolz.

Merandil konnte deren Zahl nur erahnen, doch er schauderte bei dem Gedanken, dass sie auf Melith losgelassen werden könnten. Er musste einen Weg finden, seine Magie vor Dimion zurückzuhalten, ohne ihn so sehr zu verärgern, dass Anais in Gefahr wäre. Dieses Inferno zu entfesseln, konnte er nicht zulassen und darum zu wissen, dass es seine Schuld war, wenn die Grenze fiel, würde ihn in den Wahnsinn treiben.

„Herr, die Späher sind durch die Quelle zurückgekehrt und haben berichtet, dass die Elfe noch immer an der Grenze verweilt und sich mit einem Zauber gegen ihre Stimmen schützt", sagte ein massiger Schattenkrieger, der an Dimion herangetreten war.

Er hatte Merandil nicht bemerkt, da dieser direkt hinter seinem Vater stand. Dimion warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte.

„Kehre zurück zu deinen Pflichten, Authchírion!", fuhr er ihn barsch an.

Der Krieger buckelte so tief vor ihm, dass sein verzerrtes Gesicht fast den Boden berührte und entfernte sich dann rückwärts gehend von ihm.

Merandil hätte am liebsten gejubelt, doch er beherrschte sich. Sie drangen durch die Quelle nach draußen. Vielleicht war sie der Ursprung der dunklen Magie und leitete diese dorthin, wo sie wirken sollte, so wie die Quelle Aranils das Land mit der hellen Magie durchflutete.

Er würde sie finden und herausbekommen, wie er sie benutzen konnte, um zu Anais vorzudringen. Hoffnung keimte in ihm auf und diese verlieh seiner gequälten Seele Flügel.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top