Der Orakeltraum

Anais ließ sich auf das weiche Bett fallen, das gegenüber einem großen Fenster, durch welches man einen atemberaubenden Blick auf die Lamara-Berge hatte, stand. Sie schloss die Augen und schlang ihre Arme fest um sich. Was hätte sie darum gegeben, in diesem Augenblick bei Merandil zu sein! Sie vermisste seine Nähe schmerzlicher als je zuvor, denn alles im Palast erinnerte sie an ihn.

Auf dem Weg zu dem Gemach, welches ihr Mandelion für die Dauer ihres Aufenthaltes zugewiesen hatte, war sie an der Halle der Stürme vorbeigekommen und die Erinnerungen an ihre Lehrstunden dort, hatten ihr Tränen in die Augen getrieben. Hätten sie damals schon um Merandils wahres Erbe gewusst, so hätten ihnen vielleicht ganz andere magische Wege offen gestanden. Vielleicht gab es schwarze Zauber, die man gegen die Schatten wenden konnte, solche, die Merandil mittels seiner dunklen Hälfte zu wirken imstande war, ohne Dimion etwas von seiner Lichtmagie preiszugeben.

Konnte es sein, dass die magischen Anlagen in ihm nicht miteinander verschmolzen, sondern getrennt voneinander anzapfbar waren? Sie musste Lyberion dazu befragen. Wenn ja, dann würde es ihrem Liebsten vielleicht gelingen, seinen Vater mit dessen eigenen Waffen zu schlagen.

Anais war überrascht gewesen, wie schnell Mandelion eingewilligt hatte, sie zu Kalea ziehen zu lassen, wenn diese ausfindig zu machen wäre. Sie hatte mit harten Verhandlungen gerechnet und sich im Kopf schon, die auch noch so abstrusesten Argumente zurechtgelegt, um ihn davon zu überzeugen, dass es das einzig Richtige wäre.

Doch der Fürst hatte sie nur mitleidig angesehen und gesagt:

„Du hast bereits unglaubliche Opfer auf dich genommen, um unser Reich zu sichern. Wenn es auch nur die geringste Hoffnung auf Erlösung für deinen Gatten gibt, so kann und will ich dir nicht verwehren, danach zu streben. Aber ich bitte dich um Eines...sollte es dir gelingen, ihn zu finden und du findest ihn derart verändert vor, dass sein Licht sich in Dunkelheit gewandelt hat, so sieh was er geworden ist und nicht was er einst war."

Anais hatte ihn verwirrt angeschaut und gefragt was er damit meine. In den unergründlichen Tiefen seiner Augen hatte etwas aufgeblitzt, wie eine Erinnerung aus einer fernen Vergangenheit.

„Manche Umstände verändern uns für immer, ob wir es wollen oder nicht. Der dunkle Herr war nicht immer dunkel. Auch er besaß einst eine Lichtseele, doch diese wandelte sich unter den Schmähungen derer, die ihn eigentlich hätten lieben sollen. Der Einfluss der Schatten nährte die Finsternis in ihm noch zusätzlich, aber der eigentliche Auslöser waren all jene, die ihn zu Unrecht beschuldigten, ein Übel zu sein. Wer weiß, was der Herr über Morlith Merandil alles einflüsterte und wie es ihn über die Jahrhunderte verändert hat? Rette ihn, wenn du kannst! Rette dich, wenn du es nicht mehr vermagst!"

Merandil war stark. Er würde jeder dunklen Versuchung widerstehen und sich nicht durch seinen Vater verderben lassen. Anais sagte sich dies immer wieder, aber tief in ihr lauerte die Angst vor der Wahrheit in Mandelions Worten. Sie musste ihn schnell finden und verhindern, dass Dimion ihn zu dem machte, was er sich gewünscht hatte...einem dunklen Verbündeten, der seine Macht mehrte und ihm zu Diensten war.

Morgen würde Anais dem hohen Rat beiwohnen und dessen Mitglieder mit allen Informationen versorgen, die sie durch die Erscheinungen Anduriels und Merandils erlangt hatte. Sie würde den Magiern von den Gefühlen berichten, die sie durchdrungen hatten, als Dimions Geist in sie gefahren war, auf dass sie sich davor verschließen könnten und nicht so davon überrascht werden würden, wie sie damals.

‚Wisse, was dir zur Niederlage werden kann und du wirst siegen, da du diese nicht zulassen wirst.'

Das hatte Daeron ihr einst bei einer Trainingseinheit im Schwertkampf gesagt. Anais war damals frustriert gewesen, weil sie ihm anfangs ständig unterlag. Doch er hatte sie gefragt, ob sie wieder genauso reagieren würde, wenn er einen Angriff ein zweites Mal auf dieselbe Weise gegen sie führen würde.

‚Nein, denn ich würde voraussehen, was du als nächstes tust und nicht wieder in die Falle tappen', hatte sie verstehend geantwortet.

Und Daeron hatte ihr lächelnd zugenickt und gesagt, dass er genau aus diesem Grund jede nur erdenkliche Niederlage über sie kommen lassen würde, bis sie am Ende jeden seiner Züge im Voraus erahnen und ihn besiegen könnte.

„Kenne deinen Feind und du wirst ihn besiegen können", sagte sie leise zu sich selbst.

Dann übermannte sie der Schlaf und sie glitt in einen Traum, der ihre Ängste schürte und ihr gleichzeitig Mut machte.


Dunkelheit umfing sie. Undurchdringlich und zäh. Jede Faser ihres Körpers, schien davon durchdrungen zu sein.

Sie wollte sich bewegen und einen Weg ins Licht suchen, doch etwas hielt sie fest. Unendlich langsam schälten sich schließlich Umrisse aus der Dunkelheit. Es schien ihr so, als hätten sich ihre Augen an das düstere Umfeld gewöhnt.

Sie gewahrte einen höhlenartigen Raum mit einer hohen Decke, die in unregelmäßigen Abständen von schwarzen Tropfsteinsäulen getragen wurde. Die Luft war erfüllt vom stetigen Flüstern einer Stimme, die ihr nur allzu bekannt vorkam.

Merandil! Wo war er?

Sie konnte die Richtung, aus der die Stimme zu ihr drang, nicht ausmachen. Wieder versuchte sie angestrengt, sich zu bewegen, aber so sehr sie sich auch mühte, es ging einfach nicht. Verzweiflung stieg in ihr auf. Sie musste ihm ganz nah sein und konnte doch nicht zu ihm gelangen. Da kam ihr ein Gedanke.

'Löse dich von deinem Körper und schicke deinen Geist auf Reisen! Dieser ist frei, egal was den Leib auch binden mag.'

Anais schloss die Augen und versenkte sich in eine tiefe Trance. Ihr Geist brach matt schimmernd aus ihrer körperlichen Hülle hervor und schwebte über ihr. Sie konzentrierte sich auf das Bild ihres Liebsten und folgte dem Flüstern entgegen des leichten Luftzuges, den sie verspürte.

Endlos lang erschien ihr der Weg und sie wollte schon beinahe wieder umkehren, um in einer anderen Richtung nach dem Ursprung des Flüsterns zu suchen. Da erblickte sie ihn.

Er saß, mit unter dem Körper verschränkten Beinen, auf einer Art kleinem Altar. Gehüllt in ein Gewand aus blutroter Seide mit einem Überwurf in der Farbe eines blassen Lichtschimmers, sah er aus wie ein Priester der Magie. Seine Gesichtszüge wirkten verhärtet und alles an ihm war irgendwie kantig. Der Eindruck wurde von den streng zurückgebundenen Haaren noch verstärkt.

Er hatte die Augen geschlossen und seine Lippen bewegten sich kaum merklich. Sie formten Worte, die Anais nicht verstehen konnte. Plötzlich ließ er seine Hände aus seinem Schoss neben seinen Oberkörper fahren und drehte die Handflächen himmelwärts.

Hinter ihm schien die Luft lebendig zu werden. Auf einer Seite verdunkelte sie sich so sehr, dass man den Raum dahinter nicht mehr erkennen konnte. Auf der anderen Seite erstrahlte ein weißes Licht, welches Anais fast blendete. Aus Merandils Händen flossen Ströme reiner Magie, die dort wo Dunkelheit hinter ihm wallte, zu einem gleißend hellen Ball wurde, in dem die Magie wie ein Wirbel in einer unsichtbaren Hülle rotierte. Die andere Hand gebar ein Gleichnis dieses Phänomens, jedoch tiefschwarz und alles Licht verschlingend.

Er atmete schwer und seine Hände wurden abwechselnd nach unten gedrückt, oder fuhren weiter aufwärts. Dies verlieh ihm das Aussehen einer lebenden Waage, die versuchte ein Gleichgewicht zwischen beiden Seiten herzustellen. Dass ihn dies über alle Maßen anstrengte, war unübersehbar. Sein ganzer Körper begann zu zittern und das Flüstern, das ihm unentwegt entwich, wurde zu einem gepressten Keuchen. Unter qualvollem Stöhnen streckte er seine Arme seitlich des Körpers aus und schleuderte die Magiebälle, über seinen Kopf hinweg, aufeinander zu. Es gab eine Explosion, als sich Licht und Dunkelheit trafen.

Anais schirmte ihre Augen mit den Händen ab und blinzelte zwischen den Fingern hindurch, als der glühende Schein schwächer wurde. Dort wo sie eben noch ihren Liebsten gesehen hatte, war nun nichts mehr außer gähnender Leere.

Dafür vernahm sie seine Stimme jetzt direkt in ihrem Kopf:

„Schatten und Licht...das Eine kann ohne das Andere nicht sein."

Die Worte hallten in ihr nach, während ihr Geist rasend schnell zu ihrem Körper zurückkehrte. Er fuhr in ihn und sie keuchte auf. Die Welt um sie herum zerfloss in tiefer Dunkelheit.


Anais' Schrei gellte durch die Nacht. Schwer atmend fuhr sie aus den Kissen und riss die Augen auf.

Zuerst wusste sie nicht wo sie war, doch der kühle Schein des Mondes, der durch das Fenster in ihr Zimmer drang, beruhigte sie. Keine vollkommene Finsternis, sondern nur die matt erleuchtete Dunkelheit der Nacht umgab sie.

Sie hörte eine Stimme von der anderen Seite der Tür:

„Braucht ihr Hilfe, meine Herrin?"

Da entsann sie sich, dass sie im Fürstenpalast war.

„Nein, es war nur einen Traum", antwortete sie schnell.

„Seid ihr sicher?", erkundigte sich der Elf vor der Tür mit besorgter Stimme.

„Ja, mir fehlt nichts", versicherte sie ihm.

Sie horchte in die entstandene Stille und vernahm dann Schritte, die sich leise von ihrer Tür entfernten. Was sie gerade geträumt hatte, war so realistisch gewesen, dass sie sich sicher war, dass es eine tiefere Bedeutung haben musste.

Kämpfte Merandil um ein Gleichgewicht in sich, oder versuchte er, seinem Vater einen Teil des Lichtes zurückzugeben, welches ihn einst ganz erfüllte? Und was würde geschehen, wenn Licht und Schatten aufeinanderprallten? Würden beide vergehen? Hatte sie gesehen was der Krieg zu entfachen imstande war, zu dem Dimion sich rüstete? Oder hatte sie die Wahrheit in ihrer unverschleierten Form erblickt? War Merandil in sich so zerrissen, dass es ihn auslöschen würde?

Sie konnte es nicht mit Gewissheit sagen, aber sie spürte, dass dies keine Vision der Vergangenheit und auch nicht die Gegenwart gewesen war. Merandil kämpfte also noch. Er hatte nicht aufgegeben.

Jetzt war es an ihr, ihm zur Hilfe zu eilen und die Waage ins Lot zu bringen, die ihn schwanken ließ.

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