Der hohe Rat

Anais hatte in dieser Nacht kein Auge mehr zugetan. Der Traum hatte sie aufgewühlt und etliche Fragen aufgeworfen. Vielleicht würden Lyberion oder Landorielle ihr helfen können, ihre wirren Gedanken zu ordnen und die Botschaft dahinter zu entschlüsseln.

Als die ersten Strahlen der Morgensonne durch die zarten Vorhänge drangen, war sie erleichtert, denn sie verhießen das baldige Zusammentreffen der Magier, Heerführer und Oberen der Elfenstämme und brachten sie ihrem Aufbruch zu Kalea ein gutes Stück näher.

Am liebsten hätte Anais schon gestern mit Landorielle gesprochen, doch die Chronistin weilte derzeit bei ihrer Familie in Alachit, im Osten des Reiches. Sie würde jedoch zur Versammlung des hohen Rates wieder zurückkehren und so fieberte Anais ihrer Ankunft entgegen.

Sie entstieg dem Bett und schritt leichtfüßig ans Fenster, um den Blick über das Panorama der weißen Berge gleiten zu lassen. Alles sah so majestätisch und so friedvoll aus. Über den schneebedeckten Gipfeln, die sich aus den weißen Dunstschleiern erhoben, welche die Berge in den Höhen stets umlagerten, kreisten Adler und Schneefalken. Sie ließen sich auf den Winden in die Höhe tragen und glitten scheinbar schwerelos dahin. Einen Moment lang beobachtete sie das Schauspiel der aufsteigenden Sonne, die ihre goldenen Strahlen einer Krone gleich über die Gipfel entsandte. Dann wusch sie sich, kleidete sich an und ordnete ihre Haare.

Mandelion hatte ihr eine ganze Truhe voll Kleider bringen lassen, denn das Gewand, welches sie über Jahrhunderte getragen hatte, drohte an vielen Stellen auseinanderzufallen und war dem Palast in keinem Fall angemessen. Sie entschied sich für ein tiefgrünes Kleid aus schimmernder Seide, das mit silberfarbener Borte in der Form schlanker Blätterranken besetzt war. Dieses erinnerte sie an ihren Wald und sie glaubte sogar, einen Hauch von frisch gesprossenem Grün daran haften zu riechen.

Kaum, dass sie fertig war, klopfte es auch schon an der Tür.

„Ja, bitte", rief sie.

Die Tür öffnete sich und Fürst Mandelion persönlich betrat das Zimmer.

„Majestät, ich wünsche euch einen guten Morgen."

Anais verbeugte sich tief.

„Das wünsche ich dir auch, doch lass die Verbeugungen. Ich komme nicht als dein Fürst, sondern als ein Freund, wie ich hoffe. Man berichtete mir, dass dich heute Nacht schlechte Träume plagten."

Er sah sie durchdringend an und nahm ihre Hand.

„Muss ich mir Sorgen machen? Deine Träume scheinen selten bedeutungsloser Natur zu sein", sagte er sanft.

Anais wich seinem Blick aus und wusste nicht, was sie ihm gegenüber offenbaren sollte. Sie sah ja selbst nicht klar und hätte gerne jemand anderen um Rat gefragt, bevor sie Mandelion einweihen würde.

„Deine Stille sagt mir, dass ich Recht habe. Anais, sag mir was du in deinen Träumen gesehen hast. Ich verspreche dir, dich ziehen zu lassen, egal was sich dir offenbart haben sollte", sprach Mandelion und drehte ihren Kopf behutsam in seine Richtung.

„Ich bin mir nicht sicher. Es könnte Vieles bedeuten, aber es drängt mich in jedem Fall, meine Suche nach Kalea schnellstmöglich anzutreten", erwiderte Anais mit zitternder Stimme.

Und als sie Mandelion alles berichtet hatte, schloss er sie in die Arme, wie ein Vater es mit seiner verängstigten Tochter tun würde und strich ihr übers Haar.

„Alles wird sich fügen, solange Merandil den Kampf um seine lichte Seite nicht aufgibt", flüsterte er ihr beruhigend zu.


Mandelion führte sie zur Südseite des Palastes, auf eine ausladende Terrasse, von der aus man weit über die Stadt und das umliegende Land blicken konnte.

Sie erspähte die kleine Siedlung, in der Merandil aufgewachsen war und den Großteil seines Lebens verbracht hatte. Nein, das stimmte nicht mehr. Diese Zeit war lange vorbei und Jahrhunderte waren seither ins Land gezogen. Jahrhunderte, die er fernab vom Licht verbracht hatte.

Der Fürst hatte ein reichhaltiges Frühstück auf der Terrasse auftragen lassen und bat Anais, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

„Stärke dich, bevor wir den Rat einberufen", riet er ihr lächelnd.

Anais verspürte keinen Hunger, aber sie lud sich ein wenig Obst und frisches Brot auf den Teller und aß, mehr aus Dankbarkeit Mandelion gegenüber, als aus eigenem Antrieb.

Auch der Fürst ließ seinen Blick in die Weite schweifen. Eine leichte Brise wehte und trug den Geruch von Blumen, taufeuchtem Gras und uraltem Stein zu ihnen.

Mandelion atmete tief ein und wandte sich Anais zu:

„Der Anblick rührt mich noch immer, auch nach tausenden von Jahren", sagte er melancholisch.

Anais nickte. Sie verstand genau was er meinte.

„Wisst ihr wie es Adahidh geht?", fragte sie.

„Er ist vor zwölf Jahren von uns gegangen", sagte Mandelion leise, seine Augen auf den Teller vor ihm senkend.

Anais' Augen begannen feucht zu schimmern, doch sie hielt die Tränen zurück.

„Wir haben ihn mit allen Ehren bestattet. Möchtest du sein Grab besuchen?", fragte der Fürst, dessen Blick jetzt wieder mild auf ihr ruhte.

Anais schüttelte langsam und kaum merklich den Kopf.

„Ich kann keine Gräber mehr ertragen. Zu viele habe ich unter die Erde gebracht und beweint", sagte sie bitter.

Ein paar Tage, mehr Zeit war ihr mit ihrer neu gewonnenen kleinen Familie nicht vergönnt gewesen. Nein, sie könnte jetzt nicht am Grab des Mannes stehen, der ihren Liebsten zu dem wunderbaren Mann erzogen hatte, in den sie sich Hals über Kopf verliebte. Irgendwann, wenn dieser Alptraum vorüber wäre und sie wieder beisammen sein würden, würden sie gemeinsam Blumen auf der letzten Ruhestätte Adahidhs ablegen.

‚Ich verspreche dir, dass ich deinen Sohn an dein Grab führen werde', dachte sie und nahm sich damit selbst das Versprechen ab, Merandil zurückzubringen.


Das Stimmengewirr verstummte, als Fürst Mandelion sich von seinem Platz erhob und gebieterisch die Hand hob. Alle konzentrierten sich auf ihren Herrscher und schauten ihn mit Spannung an.

„Meine Freunde, wir sind heute zusammengekommen, um darüber zu entscheiden, wie wir der Bedrohung durch die Schattenkrieger Morlith' entgegentreten wollen. Niemand vermag zu sagen, wann es soweit sein wird, doch ich spüre, dass uns ein Kampf bevorsteht", erhob Mandelion seine Stimme über die entstandene Stille.

„Warum ist sie hier und nicht auf ihrem Posten an der Schattengrenze, wenn eine Bedrohung durch die Mächte jenseits davon besteht?", rief ein junger Magier in einer hellgrauen Robe, während er auf Anais wies, die zur Linken Mandelions saß.

„Weil die Bedrohung sich nicht ewig von ihr aufhalten lassen wird. Sie ist die letzte Lichtelfe. Was wird werden, wenn ihr etwas zustößt?", ließ sich ein Krieger in einer dunkelbraunen Lederrüstung vernehmen.

„Warum sollen wir herauszögern, was sich nicht verhindern lässt und am Ende noch riskieren, dass die Streitkraft des Feindes noch zunimmt, während wir warten? Es wird nie einen guten Zeitpunkt geben, um in die Schlacht zu ziehen, aber wir sind so bereit, wie wir sein können. Es gibt heute mehr Meistermagier und Magierinnen als jemals zuvor und die Streitkräfte wurden mehr als verdreifacht", meldete sich eine Kriegerin mit rotbraunen, straff zurückgeflochtenen Haaren und tiefbraunen Augen, in denen ein Feuer loderte, zu Wort.

Mandelion rief die Versammelten zur Ruhe und sagte:

„Es ist nicht alleine an Anais , unser Reich zu schützen. Sie und Merandil zogen aus, um die Grenze zu stärken und das taten sie unter Darbringung großer Opfer. Niemals war die Rede davon, dass sie dazu auserkoren waren, ihr restliches Leben dort zu fristen. Ein ganzes Volk ist an dieser Aufgabe zu Grunde gegangen. Wie können wir von Anais verlangen, dass sie ihren Ahnen auf dieselbe Weise folgt? Und was wäre dadurch gewonnen?"

Er wies auf die Kriegerin, die als letzte gesprochen hatte:

„Himeth, du hast Recht. Der Zeitpunkt wird nie richtig sein, denn kein Kampf sollte jemals stattfinden müssen, aber wir sind stark und werden dem Feind die Stirn bieten können, solange wir zusammenstehen und reinen Geistes bleiben."

Er schaute in die Gesichter der Versammelten und erblickte darin die unterschiedlichsten Regungen. Einige sahen derart entschlossen aus, dass es wirkte, als ob sie der Schlacht bereits entgegenfieberten. Andere waren voller Zweifel, oder zeigten Anzeichen von lähmender Angst.

Mandelion flüsterte Anais etwas ins Ohr und diese nickte.

„Ich kann euch keinen Sieg versprechen, noch vermag ich zu sagen, wie viele fallen werden. Doch ich kann euch versichern, dass Angst uns nicht weiterbringen wird. All jene, die sich zu verkriechen versuchen, werden die ersten Opfer der Schatten sein, denn sie bieten ihnen geradezu an, sich in ihnen einzunisten. Hört es selbst von derjenigen, die sich nun seit mehr als vierhundert Jahren den Stimmen widersetzt, obwohl sie ihnen so nah war, wie keiner von uns", sagte Mandelion und übergab das Wort an Anais, die sich zögernd erhob.

Sie brauchte jemanden, auf den sie ihren Blick richten konnte, während sie zu der Versammlung sprach. Den Blick über die Menge schweifen lassend, fand sie erleichtert zwei Gesichter, die ihr Kraft gaben. Idhril und Nimiel standen Seite an Seite und lächelten ihr zu.

„Ich kann verstehen, dass einige von euch mich lieber an der Grenze wissen würden, doch ich kann euch versichern, dass ich euch hier von größerem Nutzen bin. Die größte Gefahr der Schatten liegt in ihrer Fähigkeit, in den Geist einzudringen und dort Zweifel zu sähen, zu verblenden und Wahnvorstellungen zu erschaffen. Sperrt ihr sie aus, so sind es nur Geisternebel, ohne Macht über euch. Ich habe vor vielen Jahren bei Meister Lyberion Schutzzauber erlernt, die euch vor den Einflüsterungen bewahren können. Sicher beherrschen auch alle anwesenden Magier und Magierinnen diese bereits", sagte sie und erntete vielfaches Nicken aus den Reihen der Angesprochenen.

„Doch der beste Schutz ist ein anderer. Wie Mandelion gerade sagte, liegt das Geheimnis darin, reinen Geistes zu sein und sich nicht im Netz der Zweifel verstricken zu lassen. Stellt es euch so vor, wie ein Gespräch unter Bekannten, bei dem ein Gerücht die Runde macht, welches ihr kaum glauben könnt. Ihr könnt euch überzeugen lassen, oder ihr folgt euren Instinkten und bleibt standhaft bei eurer Meinung. So ist es auch bei den Schatten. Sie versuchen, euch zu verführen und euch ihre Lügen glauben zu machen. Sie wenden sie gegen euch und gegen eure Verbündeten. Ich hörte sie über hunderte von Jahren und anfangs schützte ich mich durch den Zauber, aber irgendwann war ich immun gegen sie und ließ sie lediglich glauben, dass ein Zauber sie aus meinen Gedanken aussperrte. Ihr werdet Stimmen in euch hören. Lasst sie euch nicht lähmen, verfallt nicht in Panik und habt keine Angst! Seid stark im Glauben!"

Die zaghaft begonnene Rede, hatte sich zum Ende hin zu einem flammenden Plädoyer entwickelt. Mandelion blickte sie stolz an und auch Anais war überrascht von sich selbst.

„Aber was ist mit den Schattenkriegern? Diese dringen sicher nicht nur in unsere Gedanken ein", hallte es von weiter hinten.

Der Magier sprach aus, was alle sich fragten.

„Ich bin bisher auf keinen von ihnen getroffen", sagte Anais, „aber von der Erscheinung Merandils weiß ich, dass es ihrer Unmengen und dass sie stark sind. Doch seid ihr das nicht auch? Wenn ich in die Runde schaue, dann sehe ich entschlossene Krieger, die ihre sicher genauso entschlossenen Heere zu führen wissen. Ich sehe eine neue Generation von Magiern und Magierinnen, die gemeinsam jeden dunklen Zauber bannen werden."

Sie wies auf Nimiel:

„Diese dort hat ihre Mutter durch die Schatten, die ihr einflüsterten sie zu töten, verloren. Damals war sie noch ein Kind. Doch seht sie euch jetzt an! Mancher Krieger könnte sich noch eine Scheibe von ihrer Entschlossenheit abschneiden. Sie kennt die Macht der dunklen Kreaturen und ich bin mir sicher, dass sie sich kein weiteres Mal von ihnen verführen lassen wird. Haltet euch an solche wie sie und ihr werdet siegen."

Nimiel platzte fast vor Stolz, dass sie Teil der flammenden Rede Anais' geworden war. Und sie hatte Recht. Um nichts in der Welt würde sie zulassen, dass sich irgendetwas oder irgendjemand wieder ihres Geistes bemächtigen und sie zu etwas zwingen würde, das sie nicht wollte.

„Ich werde meinen Teil dazu beitragen, das Übel für immer zu vernichten. Aber nicht indem ich an der Grenze sitze und Risse fülle, die uns im Moment nicht gefährlich werden können. Ich gehe an die Quelle des Übels, werde meinen Gatten retten und dem dunklen Herrn das Zepter entreißen. Haltet mir so lange den Rücken frei und beschäftigt ihn mit dem Blick auf die Schlacht, auf dass ich ihm unbemerkt in den Rücken fallen kann!", schloss Anais ihre Ansprache mit einem eindringlichen Appell an alle Anwesenden.

Mandelion sah sie fragend an. Es war nie die Rede davon gewesen, dass sie alleine gegen den Dunklen ins Feld ziehen sollte. Doch sie fing seinen Blick auf und beruhigte ihn, indem sie die Hand aufs Herz legte und sie dann vor ihre Augen führte und den Kopf schüttelte.

Anais hatte ihn verstanden und sich zu Herzen genommen, worum er sie gebeten hatte. Sie würde sehen, was sich tatsächlich vor ihr befand und nicht, was ihr Herz sich wünschte. Und dann sah sie ihn entschlossen an und genau wie Merandil damals, wusste auch Mandelion, dass er diesem Blick nichts entgegenzusetzen hatte. Was sie sich einmal in den Kopf setzte, das würde sie auch bis zum bitteren Ende verfolgen.

Mandelion ergriff wieder das Wort.

„Also, machen wir uns bereit! Ich möchte dreißig Magier bei jedem Heerarm wissen. Ihr werdet den Schutzzauber auf die Truppen sprechen und sie dadurch in ihrer gegebenen Stärke unterstützen. Die Truppen werden sich auf die Schattenkrieger konzentrieren und versuchen, sie durch den Einsatz von Waffen niederzuringen. Sollte sich dabei herausstellen, dass ihnen dadurch nicht beizukommen ist, will ich, dass die Magier ihre Kräfte vereinen und geballt gegen sie vorgehen. Sollten die Krieger von Schatten begleitet werden, wie wir sie bereits kennen, so sollen die Magier diese im Zaum halten, oder bestenfalls bezwingen. Ihr habt Anais gehört. Sie braucht uns als Deckung, um nach Morlith zu gelangen und den Feind hinter seinen eigenen Linien zu überraschen."

„Wie soll ihr das gelingen? Habt ihr dem Mädchen nicht schon genug aufgebürdet?", ließ sich Idhril aufgebracht vernehmen.

In diesem Moment sprang die Tür des Saals auf und die zierliche Gestalt Landorielles rauschte mit einem entschuldigenden Blick herein.

Anais lächelte und antwortete an Mandelions Stelle:

„Das werde ich gleich herausfinden. Mach dir keine Sorgen um mich. Es ist meine Bestimmung."

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