9.
Lenny ließ sich von Alice die Straße herunterziehen. Ihre Mutter hatte, als sie das Haus verlassen hatten nur kurz gemurmelt, dass sie um neun zurück sein sollten. Vorsichtig blickte sie Alice ins Gesicht.
"Glaubst du mir wirklich?" fragte sie. "Du hast es irgendwie so schnell akzeptiert, verstehst du?"
Alice lächelte beruhigend. "Ja, ich verstehe warum du besorgt bist. Aber der Wundschorf um den Stein, und dein Gesichtsausdruck sahen sehr echt aus. Und du bist schon wieder so blass, dass du als Leiche durchgehen könntest."
Lenny rang sich ein Lächeln ab. "Danke." murmelte sie. Dann stockte sie. "Wundschorf?"
"Ja, es sah so aus als hättest du daran herumgekratzt." Alice Augenbrauen zogen sich besorgt zusammen. "Ist mit dem Ding wirklich alles in Ordnung?"
Lenny dachte an die unbeschreiblichen Schmerzen und den Sternenlosen Himmel im Herz. "Ja." sagte sie mit rauer Stimme. Doch sie hatte das Gefühl, dass Alice ihr nicht glaubte.
Kopfschüttelnd drehte Alice sich wieder nach vorne. "Komm, wir beeilen uns lieber." Kalter Wind fegte durch die Straße und blies Lenny die Haare ins Gesicht. Kein Mensch war zu sehen, und das bereitete Lenny mehr Unbehagen als es sollte. In jedem Blätterrascheln hörte sie Schritte und in jedem Schatten sah sie einen potentiellen Verfolger.
Alice begann zu joggen und Lenny keuchte ihr hinterher. Der Wind blies immer stärker und dunkle Wolken verdeckten die Sonne. Lenny blickte zum Himmel. "Wenn wir uns beeilen sind wir am Haus, bevor der Regen einsetzt!" rief sie Alice zu. Ihre Freundin nickte und rannte schneller.
Als die ersten Tropfen fielen stolperten die beiden Mädchen über die faulende Türschwelle der Villa. Lenny beobachtete amüsiert, wie Alice der Mund aufklappte. "Du warst hier ohne mich?" rief sie aus. "Du weißt schon, dass ich noch etwas anderes kann als Bücher lesen."
Lenny hob abwehrend die Hände. Ich wollte einfach wieder etwas mit Elena machen. Ich weiß wirklich nicht, was sie so verändert hat. Vielleicht bin ich ja diejenige, die sich verändert hat und merke es einfach nicht." Alice kniff die Augen zusammen.
"Das was sie gesagt hat, war nicht gerade... ich drücke es mal höflich aus, nett."
"Es hat nicht jeder eine so gute Auffassungsgabe wie du." argumentierte Lenny. "Und-"
"Sei still!" fauchte Alice. "Und hör auf sie zu verteidigen." Als sie sich energisch umdrehte, trat sie fest in eine Pfütze. "Na toll." murmelte sie. "Das Dach ist undicht. Lass uns weitergehen."
Dankbar für den Themenwechsel folgte Lenny ihr zur Treppe. Auf halbem Weg blieb sie stehen und betrachtete die Portraits an den Wänden. Alle Personen, die darauf abgebildet waren trugen die dunklen Roben, die Lenny in ihrem Herz anhatte. Vorsichtig trat sie näher. Jeder einzelne von ihnen hatte weiße Augen.
"Was ist?" fragte Alice von oben. "Komm her." antwortete Lenny. "Ich glaube ich hab was entdeckt." Als Alice neben ihr stand deutete Lenny auf die Gemälde.
"In dem Rubin, also meinem Herz habe ich auch weiße Augen. Und trage die gleiche Kleidung." Alice' Augen leuchteten auf.
"Du bist manchmal in dem Ding drin? Hast du Superkräfte?" verlegen zupfte Lenny an ihrem Haar.
"Ich weiß es nicht. Ich war zu sehr damit beschäftigt meine Supersinne zu unterdrücken. Die Methode hat funktioniert, aber ich habe das Gefühl dass ich regelmäßig Meditieren muss, um diesen Zustand beizubehalten. Es ist so kalt dort drin." Lenny legte die Hand auf die leichte Ausbeulung über ihrer Brust.
"Oh mein Gott!" quietschte Alice. "Du hast Supersinne? Wir müssen das erforschen." Lenny nickte.
"Aber nicht jetzt. Komm weiter."
"Du warst diejenige, die mich zurückgerufen hat." murmelte Alice und rannte vor Lenny die Treppe hoch.
"Hier ist ne riesige Bibliothek!" brüllte sie runter. Lenny zuckte zusammen. "Bitte sei leiser." murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Alice.
Ihre Schritte wurden durch den Staub gedämpft, der Zentimeterhoch auf dem Boden lag. Unzählige, in die verschiedensten Materialien gebundene Bücher standen fein säuberlich, Rücken an Rücken in hohen Holzregalen. Auf manchen hing so viel Staub, dass man die Titel nicht mehr erkennen konnte. Vorsichtig strich Lenny über die Buchrücken. Sie fühlte sich so an, als würden sie jeden Moment unter ihren Finger zu Staub zerfallen können.
"Hey, Lenny." sie drehte sich um. Alice deutete auf ein Lesepult am Ende des Raumes. "Das Buch da sieht wichtig aus."
"Danke." Lenny trat näher. Der Einband des Buches war mit mattschwarzen Rabenfedern bedeckt. Der Titel war mit winzigen Federn, vermutlich aus Blattgold, gelegt.
"Die Schattenglut." las Lenny laut vor. Vorsichtig schlug sie das Buch auf. Schwarze Tentakel schossen aus den brüchigen Seiten und packten sie an den Armen und dem Hals.
"Lenny!" brüllte Alice hinter ihr. Die ganze Welt wurde Schwarz, als Lenny in das Innere des Buches gerissen wurde.
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