3.
Der Schmerz tobte auch Zuhause noch in Lennys Brust und erschwerte ihr das Atmen. Völlig ausgelaugt ließ sie sich, noch in Straßenkleidung auf das Bett fallen. Melody hatte ihr einen Hustensaft aufgezwungen und sorgfältig drei extradecken über Lennys blassen, zitternden Körper gebreitet. Elena hatte zwar geschworen, dass sich ihre Haut unnatürlich warm anfühlte, doch Lenny selbst fühlte sich wie ein Eiswürfel. Auch ein heißer Tee half nichts.
"Was hast du mit ihr angestellt?" fragte Melody Elena. "Zu viele Süßigkeiten? Alkohol? Drogen?" ihre Mutter führte die Liste noch weiter, aber Lenny hörte nicht mehr zu. Das grässliche Ziehen in ihrer Brust war einem ekelerregenden Pochen gewichen. Die Geräusche im Hintergrund verschwammen immer mehr, verwandelten sich in ein hallendes Geflüster das gegen die Innenseiten ihres Schädels pochte. Leise stöhnend rollte sie sich zusammen und umklammerte die Brust mit den Armen. War die Kette vergiftet gewesen? Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Plötzlich wehte ein kalter Luftzug über Lenny hinweg. Sie wollte die Decken fester um ihren Körper wickeln, aber sie konnte den warmen Stoff nicht ertasten. Zitternd öffnete sie die Augen, nur um einen panischen Schrei auszustoßen und sich schnell aufzurappeln. Sie war von beinahe völliger Dunkelheit umgeben, doch wenige, hellgrau umherwirbelnde Nebelfetzen sorgten für diffuses Licht. Rissige Pflastersteine, bedeckt mit schwarzem Moos bröckelten unter ihren nackten Füßen. Verängstigt blickte Lenny sich um. Unter einem endlosen, sternenlosen Himmel war ein Kreis aus ungefähr zwei Meter hohen Findlingen erbaut worden. Wie gähnende Mäuler klafften die Lücken zwischen den wettergegerbten Steinen, ausgefüllt von völliger Schwärze.
Zögernd machte Lenny den ersten Schritt. Dunkelgrauer Rauch stieg von dem Punkt auf, den ihr Fuß berührte. Als er sich verflüchtigt hatte trat Lenny noch weiter vor. Gefolgt von einer Spur aus grauen Rauchschlieren tappte sie bis zum Rand des Kreises. Schwarzes Gras wiegt sich im frostigen Wind und ein ekelhaft süßer Geruch lag in der Luft. Ein kleiner Pfad führte zu einem großen dunklen Gebäude das allein auf der trostlosen Ebene stand. Kein Anzeichen von Leben war zu sehen, nicht einmal das geringste Geräusch zeigte dass sich ein anderes Lebewesen hier befand. Selbst das Gras rauschte nicht.
Ihre nackten Sohlen spürten jeden kleinsten Kieselstein, als Lenny den Pfad entlangjoggte. Der Schmerz war verschwunden, doch die drückend Stille lastete schwer auf ihrem Gemüt. Sie musste einen Ausweg aus dieser verdrehten Parodie ihrer eigenen Welt finden und sie so schnell wie möglich verlassen. Ein Blick über die Schulter bestätigte, dass der graue Rauch ihr immer noch folgte. Ein leises Kribbeln breitete sich in ihrem Nacken aus, verursacht durch die Angst, diesen Ort nie wieder verlassen zu können. Die letzten Meter sprintete sie und die Reich verzierten Tore des Gebäudes schwangen lautlos auf.
Eine lange Halle tat sich vor Lenny auf. An den Wänden hingen in regelmäßigen Abständen Spiegel mit silbernen Rahmen. Die Wände dazwischen waren mit unzähligen Büchern gefüllt. Ihre in Leder, Papier oder sogar Eisen gebundenen Rücken standen Seite an Seite in den deckenhohen Regalen. Sie versprachen Sicherheit, Anker in einer Welt des Todes.
Mit Mühe riss Lenny den Blick von den wundervollen Büchern los und lenkte ihn nach vorne. Ein Steinsockel, ähnlich dem in der Villa, ragte aus dem glatten Marmorboden. Mit schwarzem Samt Gepolsterte Sessel standen überall um es herum. Bücher stapelten sich neben ihnen auf dem Boden, manche mit aufgeschlagenen Seiten, andere sorgfältig mit Lesezeichen markiert.
Lenny trat auf die Sitzgruppe zu und blieb entsetzt stehen, als sie ihr Spiegelbild in einem der Spiegel entdeckte. Ihre sonst locker auf die Schulter fallenden braunen Haare hatten sich zu einem hellen Schwarz verfärbt und umrahmten ihr blasses, hohlwangiges Gesicht. Statt ihrer üblichen weiten Kleidung trug Lenny eine tief ausgeschnittene, dunkelblaue Tunika, die sich mit ihren nun weißen Augen biss. In der Mitte über ihrer Brust leuchte der in Gold eingefasste Rubin an seiner Kette. Benommen hob Lennys die Hand und berührte ihre Wange. Sie war heiß, glühte regelrecht.
Panik keimte in ihr auf. Sie konnte spüren wie sich ihr Herzschlag um ein vielfaches verschnellerte. Die unnatürliche Stille im Saal legte sich über sie wie eine schwere Decke und drohte sie zu ersticken. Nach Luft schnappend stürzte Lenny zu Boden. Ihre Hände fuhren zum Rubinanhänger. Wie von Sinnen begann sie daran zu reißen und zu ziehen. Die goldene Kette spannte sich, doch der Anhänger blieb auf ihrer Brust kleben. Blut quoll an seinen Rändern hervor. Plötzlich hielt Lenny die abgerissene Goldkette in der Hand. Der Rubin haftete nach wie vor an ihrer Brust. Ein trockener Schluchzer kam über ihre Lippen.
"Geht es euch gut, Meiste-, oh bei meinen Schwungfedern!" Lenny kreischte panisch auf und stolperte rückwärts gegen ein Bücherregal. Mit zitternden Händen hob sie ein in Silber gebundenes Buch wie eine Waffe vor die Brust.
"Kein Grund Gewalttätig zu werden, Meisterin."
Lenny linste über den Buchdeckel. Ein schwarzer Rabe stand vor ihr auf dem Boden. Seine goldenen Augen musterten sie neugierig.
"Du bist ein Vogel!" Brachte Lenny ungläubig hervor.
Der Rabe stieß ein empörtes Krächzen aus und flatterte mit den Flügeln.
"Das will ich doch hoffen! Darf ich mich vorstellen? Lady Boneseeker von... ach egal. Wer braucht schon eine Familie, wenn er den Schatz des Wissens besitzt?"
Lenny fiel auf wie sanft die Stimme des Vogels eigentlich klang. Eine warme Sommerbrise inmitten des kalten Winterwindes. Er... Sie schien nicht das Monster zu sein, dass man an einem solchen Ort erwarten würde. Ihre sanften goldenen Augen vermittelten ein höchst willkommenes Gefühl von Geborgenheit. Lenny ließ das Buch sinken, allerdings nur ein Stück.
"Sheesh! Du gedachtest die Chroniken der Schattenlande als Waffe zu zweckentfremden? Meine Großmutter dreht sich gerade im Grab um, ich spüre es genau!"
Ein kleines Lächeln schlich sich auf Lennys Gesicht.
"Sheesh? Wo hast du das den aufgeschnappt?" fragte sie grinsend. "Und, darf ich dich nur Boneseeker nennen? Ohne das Lady?"
"Natürlich, werte Dame. Dürfte ich nun auch euren Namen erfahren? Es ist cringe eine Jugendliche mit Herrin oder Meisterin anzusprechen, wisst ihr?"
Jetzt wo die Stille nicht mehr so erdrückend war, konnte sich Lenny zum ersten Mal ein wenig entspannen. Natürlich lastete die düstere Ausstrahlung des ganzen Ortes immer noch auf ihr, doch sie konnte es nun leichter ignorieren.
"Ich heiße Lenny. Aber das ist nur die Kurzform von Laneirah. Ich weiß wirklich nicht, was meine Eltern sich dabei gedacht haben."
Boneseeker krächzte mitleidig, schien aber keine weitere Zeit vergeuden zu wollen. Sie breitete ihre nachtschwarzen Schwingen aus und erhob sich in die Luft. Auffordernd flog sie noch eine Schleife. Lenny folgte ihr mit klopfenden Herzen zur Sitzecke.
"Du willst sicher erst einmal nach Hause um die verwirrenden Ereignisse dieser Nacht zu verarbeiten, nicht wahr?" Boneseeker deutete mit dem Schnabel auf das Sockel. "Wir treffen uns beim nächsten Mal hier, verstanden?"
Lenny nickte. "Wie soll ich, also du weißt schon... zurück?"
Boneseeker stieß ein kräftiges Krächzen aus. "Ich schicke dich zurück und zeige dir Morgen wie du es selbst machen kannst. Aber sei gewarnt: deine superkrassen Sinne werden mit den Geräuschen in deiner Welt nicht zurechtkommen. Und achte darauf viel zu trinken. Das wars dann... Viel Glück und stirb nicht!"
Lenny krümmte sich, als der schreckliche Schmerz in ihrer Brust wieder aufflammte. Roter Rauch stieg zwischen ihren Fingern hervor, die den Rubin umfassten. Weiße Lichter zuckten hinter ihren geschlossenen Augenlidern, bis sie aufgeregte Stimmen hörte.
"... Also doch Drogen! Warte, sie wacht auf." Lenny lächelte schwach. "Mir geht es gut, Mum."
~
|Welchen Eindruck habt ihr von Boneseeker?
|War es nachvollziehbar, dass Lenny ihr sofort vertraut hat?
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