13.

Entsetzt starrte Lenny auf die Überreste ihres einzigen wirklichen Anhaltspunkt in dieser kalten grauen Welt. Mit zitternden Händen klaubte sie etwas Asche vom Boden und ließ sie durch ihre Finger rieseln. Ihre dunkle Robe raschelte leicht, als sie den Fleck verbrannter Erde betrat. Wo war Boneseeker? Ein kaltes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. 

Plötzlich fiel ihr etwas weißes ins Auge, das in der Mitte der Ruine lag. Vorsichtig trat Lenny näher. Eine einzelne Buchseite lag auf dem Boden. Lenny hob sie auf und betrachtete die drei Worte, die in großen Druckbuchstaben auf der Seite standen. 

Hab keine Angst

Lenny schloss die Augen und ließ den Tränen die in ihren Augen aufstiegen freien Lauf. Sie umklammerte die Buchseite so fest mit beiden Händen, dass sie riss. In dieser Bibliothek würde sie keine Antworten finden. Lustlos schweifte ihr Blick über die weite graue Ebene. Der leere Himmel schien sich auf sie niederzusenken und sie zu erdrücken. Zitternd fiel sie auf die Knie. Ihre Hände gruben sich schmerzhaft in den verbrannten Boden. 

Dieser Mann würde kommen und sie töten und bekommen was auch immer er wollte. Das Rauschen der Gräser erschien Lenny plötzlich viel zu laut und das Geräusch bohrte sich in ihren Kopf wie eine Klinge. Schmerz breitete sich rasend schnell in ihrem Körper aus und lähmte ihre Gedanken. Verzweifelt presste sie die Hände auf die Ohren und schrie. 

Lennys eigener Schrei übertönte jedes andere Geräusch. Hell und schrill hallte er über die leere Ebene und zeigte den tiefen Schmerz der sich in ihr angesammelt hatte. Rote Blitze zuckten über den dunklen Himmel. Dichter Nebel stieg von den Gräsern auf und hüllte die Felder in ein einheitliches Grau. Der Schrei endete in einem trockenen Schluchzen. 

Lenny hob den Kopf und lauschte überrascht. Es war vollkommen still. Der Nebel umhüllte sie und Feuchtigkeit bildete sich auf ihren Armen. Plötzlich riss der Himmel auf. Helles Licht strömte herein und blendete Lenny, die sich bereits an die ewige Dunkelheit in diesem Ort gewöhnt hatte. Wie Wolken die sich vor die Sonne geschoben hatten löste sich der Himmel auf. 

Lächelnd blickte Lenny die Sonne an, die vor ihren Augen neu geboren wurde. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Vielleicht würde doch alles besser werden. Langsam verblassten das Feld und die verbrannte Ruine der Bibliothek und würden durch die Bilder an ihrer Zimmerwand ersetzt. 

Alice öffnete gerade die Tür. Sie hielt eine große Tasse Tee in den Händen, aus der es verführerisch duftete. Lenny konnte den Geruch von Himbeere und Hagebutte herausriechen, aber auch viele andere Düfte, die sie vorher nie wahrgenommen hatte. Alice stellte die Tasse auf den Schreibtisch und betrachtete die Bilder an den Wänden. 

"Ich dachte eigentlich dass du und Elena beste Freundinnen gewesen seid. Was ist zwischen euch vorgefallen, dass sie heute Mittag so ausgeflippt ist?" brüllte sie. 

Immer noch benommen zuckte Lenny zusammen. "Kannst du ein bisschen leiser sprechen?" bat sie. "Oder flüstern. Ich höre wieder viel zu gut." 

Alice nickte. "Gerne doch." flüsterte sie übertrieben leise. Lenny lächelte. "Danke." 

"Also." wiederholte Lenny. "Was ist passiert?" 

Lenny schloss kurz die Augen. "Eigentlich war es gar nicht so schlimm. Sie hatte eben immer mehr Bezug zur Realität als ich. Wir haben uns oft geschrieben, als sie in Tokio war. Aber irgendwann hat sie einfach nicht mehr auf meine Nachrichten geantwortet. Sie ist einfach weg gewesen. Von einem Tag auf den anderen. Kurz bevor sie zurückgekommen ist, haben wir wieder ein bisschen geschrieben. Aber es hat sich komisch angefühlt. Natürlich habe ich mich gefreut sie wiederzusehen. Ich dachte, es könnte wieder so werden wie vorher. Ich habe mich einfach geirrt. Zum Glück habe ich dich."

"Das klingt wirklich nicht schön." sagte Alice und setzte sich neben Lenny aufs Bett, nur um gleich darauf wieder aufzustehen und die Teetasse vom Schreibtisch zu holen. "Deine Mutter hat gesagt, dass du so bald wie möglich mal runterkommen sollst. Sie sagt du sitzt zu oft alleine in deinem Zimmer und sie sieht dich kaum noch." 

Dankbar nahm Lenny den Tee entgegen und nahm einen kleinen Schluck. Das süße Aroma von Honig und Waldfrüchten breitete sich auf ihrer Zunge aus. Sie kam nicht umhin, zu bemerken, wie nett Alice und Melody waren, obwohl sie ihnen kaum half oder sie in Gefahr brachte. Die Frau hatte gesagt, dass der Rubin nur negative Gefühle trug. War Lenny böse und hatte deshalb den Stein bekommen. Oder war sie einfach nicht gut genug? 

Aber der Himmel im Herz ähnelte jetzt viel mehr einem echten Himmel. Das war doch etwas Gutes, oder? Plötzlich fiel es ihr siedend heiß wieder ein, und sie sprang auf. "Ich muss zurück und Boneseeker suchen!" rief sie. 

"Wen?" fragte Alice überrascht. Geistesgegenwärtig griff sie nach der Teetasse, die die Bettkante herunterzufallen drohte. "Boneseeker! Der Rabe." sagte Lenny verzweifelt. "Sie war weg als ich im Herz war." 

"Du warst im Herz?" Alice klang besorgt. Lenny drehte sich zu ihr um. "Die Bibliothek ist verbrannt. Und Boneseeker ist weg." sagte sie tonlos. 

Alice' Augen weiteten sich kaum merklich. "Das bedeutet, wir haben keine Möglichkeit mehr, an Informationen zu deinem Herz zu gelangen." 


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top