10.

Lenny schrie. Es war das einzige das ihr in dieser Höllenfahrt Halt gab. Die schwarzen Tentakel schlossen sich fest um ihren Körper und rissen an ihren Armen und Beinen. Verzweifelt griff sie nach ihnen, doch sie waren zu glitschig und Lennys Hände rutschten immer wieder ab. 

Plötzlich schlug sie hart auf einer ebenen Fläche auf. Die Luft wurde ihr brutal aus der Lunge gepresst und sie hatte das Gefühl zu ersticken. Hustend drehte sie sich auf die Seite und schob die nun schlaffen Tentakel von ihren Beinen und stand auf. 

Zu ihrer Überraschung trug sie diesmal die Straßenkleidung, in der sie von Zuhause losgegangen war. Ein kurzer Blick auf ihre Haare, bestätigten, dass sie immer noch braun waren. Doch die Kälte, die sich im Herz in ihr ausgebreitet hatte, gab es hier auch. Zitternd schlang Lenny die Arme um den Körper. 

Als sie einen Schritt nach vorne machte, leuchtete ein weißliches Licht direkt vor ihrem Gesicht auf. Neugierig blickte sie sich um, und versuchte die Panik, die nun trotz ihrer mühsam aufgebauten Selbstbeherrschung, in ihr aufzusteigen drohte zu verdrängen. 

Der Boden bestand aus glattem schwarzen Stein und schien kein Ende zu haben. Lenny stand auf einer Steinplatte, mitten im Nichts. Das Licht pulsierte leicht und begann sich dann auszuweiten, bis es die Gestalt einer nackten hochgewachsenen, schlanken Frau annahm. 

Erschrocken stolperte Lenny ein paar Schritte rückwärts. "H-hallo?" flüsterte sie vorsichtig. Die Frau drehte sich zu ihr um. Ihre leeren Augen starrten durch Lenny hindurch, an einen Ort, den sie nicht erkennen konnte. Langsam hob die Frau die Hand. Weitere Lichter erschienen und bildeten eine leuchtende Waldlandschaft inmitten der Düsternis. Ein leichtes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Frau aus. 

Auf ihrer nackten Haut begann sich ein leichtes, mit Rosen besetztes Kleid zu formen. Lachend drehte sie sich im Kreis. "Es ist so lange her, dass ich diese Geschichte erzählen durfte. Setzt euch doch." sagte sie zu niemand Bestimmten. Ihre Stimme klang sanft, wie ein Windhauch im Sommer. 

Ohne es zu wollen, ließ Lenny sich im Schneidersitz auf den Boden gleiten. Eine unsichtbare Kraft hielt sie gefangen und kontrollierte ihre Bewegungen. Die Frau atmete tief ein und begann zu erzählen. 

"Vor vielen tausend Jahren lebten in dieser Gegend wilde, ungezähmte Kreaturen. Kaum eine Menschenseele wagte sich in den dunklen Wald, der hier zu wachsen begonnen hatte, und das Blut derer, die es versucht hatten benetzte das Moos am Boden. 

Bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem sich die Geschwister Elrahin der Goldene und Silvara die Drachenschlächterin in den Wald wagten um ihrem Mut zu beweisen. "

Zwei leuchtende Menschen auf großen Pferden erschienen vor Lenny und reckten Kampfeslustig ihre Schwerter. 

"Sie hatten dem König versprochen die Kreaturen, die der Wald beherbergte ausmerzen um ihn den Menschen zugänglich zu machen. Zu diesem Anlass vereinten sie die Tugenden, die sie am meisten Schätzten in einem blauen Saphir, damit sie die Kraft finden würden, gegen jeden noch so gefährlichen Gegner zu bestehen."

Die beiden Gestalten verschränkt ihre Hände und blaues Licht manifestierte sich vor ihnen.

"Mut, Ehre, Güte und Hoffnung vereinten sie, und zogen in den Kampf. Sie schlachten hunderte Bestien ab und trieben tausende in die Flucht. Die Menschen aus den umliegenden Dörfern zogen in den Wald und ließen sich dort nieder. Im Herzen des Waldes, bauten sie den beiden Geschwistern ein Schloss um ihre Taten zu ehren."

Inmitten der leuchtenden Bäume erschien ein riesiges Gebäude, das mit kunstvollen Mosaiken und Statuen verziert war. 

"Doch das Glück der Geschwister war nicht von langer Dauer. Bei einem Kampf gegen ein schreckliches Monster fiel Silvara, niedergestreckt von den Klauen des Ungeheuers. Elrahin ertrank beinahe in Wut und Trauer und schwor sich Rache zu nehmen. Dabei vergaß er jedoch die Tugenden und der Saphir zerbrach in zwei Stücke. Das eine hielt die Positiven Gefühle, die er vor dem Tod seiner Schwester gehabt hatte, das andere die Negativen. 

Das Stück, mit den negativen Gefühlen färbte sich Rot wie das Blut, das im Namen der Gerechtigkeit vergossen worden war. Entsetzt über seine eigenen Taten warf Elrahin den Splitter in einen tiefen See. 

Doch Jahre Später wurde er gefunden." Langsam begann sich die Landschaft wieder abzubauen. "Für weitere Informationen empfehle ich Seite einunddreißig." fügte die Frau noch hinzu. 

Zum ersten Mal blickte sie Lenny wirklich an, und nicht nur durch sie hindurch. 

"Deine Sinne haben sich schon verstärkt. Bald werden weitere Fähigkeiten dazukommen. Ich empfehle dir mit deiner Vertrauten zu sprechen. Wie hieß sie noch gleich? Boneseeker. Sie hat den Splitter damals aus dem See geholt, das arme Mädchen."

Lenny stand auf und trat von einem Bein auf das andere um die Taubheit loszuwerden. "Boneseeker war mal ein Mensch?" fragte sie perplex. Die ruhige Atmosphäre, die von dem Licht ausging hatte ihr alle Angst genommen. 

Die Frau nickte. "Was ist sie denn heute?" Lenny schluckte. "Ein Rabe." antwortete sie. Das Licht Lächelte traurig, so als hätte sie die Antwort zwar gewusst, aber nicht wahrhaben wollen.

"Das tut mir leid für sie. Pass auf dass dir das Gleiche nicht auch passiert." 

Die schwarzen Tentakel erwachten wieder zum Leben und griffen nach Lenny Armen. "Viel Glück." murmelte das Licht, während es sich wieder auflöste. "Du wirst es brauchen." 

Bevor Lenny über die Bedeutung dieser unheilvollen Worte nachdenken konnte, zogen die Tentakel sie mit einem Ruck nach Oben. Diesmal schrie sie nicht, sondern versuchte das Unbehagen aus ihrem Bauch zu verdrängen. 

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